Archiv

Paläontologie
Der Ursprung des Kiefers

Vor mehr als 400 Millionen Jahren entwickelten sich aus primitiven Fischen Tiere mit Flossen, Knochenplatten und später Extremitäten. Bislang herrscht Uneinigkeit darüber, wie diese frühen Vertreter ausgesehen haben. Ein 415 Millionen Jahre alter Fossilienfund wirft neues Licht auf die Evolution der Wirbeltiere.

Von Michael Stang | 13.01.2015
    Stöbert man in einem Schul- oder Lehrbuch zum Thema frühe Wirbeltiere, findet man in der Regel Abbildungen von Tieren im Wasser, die noch sehr primitiv sind, aber schon einen Kiefer besitzen, sagt Martin Brazeau.
    "Es geht um eine Zeit, in der jedes Wirbeltier noch wie ein Fisch aussah; Landwirbeltiere gab es damals noch nicht. Das waren alles Fische, vor rund 410 bis 415 Millionen Jahren."
    Das Erstaunliche sei, so der Paläontologe vom Imperial College London, dass in den Darstellungen all diese frühen Vertreter wie Haie aussehen. Diese gelten als primitiv, sind sie doch sogenannte Knorpelfische. Die Knochenfische hingegen gelten als höher entwickelt. Und von diesen wiederum zweigte im Stammbaum irgendwann jener Ast ab, aus dem die Landwirbeltiere hervorgingen. Soweit zur Theorie. Die Rekonstruktion dieser frühen Entwicklungen ist jedoch nicht einfach.
    "Wir müssen also herausfinden, wie es zu bestimmten anatomischen Veränderungen kam: zu paarigen Extremitäten, der Ausbildung der Kiefer, Entwicklung von Flossen, letztendlich all das, was wir in heute lebenden Tieren sehen."
    Um zu verstehen, wie nah oder fern verwandt diese frühen Wirbeltiere mit heute lebenden Arten waren und wo sie sich im Stammbaum des Lebens einreihen, bedarf es guter Fossilien. Und genau nach diesen suchte Martin Brazeau, aber nicht auf Ausgrabungen, sondern in Museumsarchiven. Bei seiner Recherche stieß der Forscher auf Janusiscus schultzei, das Fossil eines 415 Millionen Jahre alten Fisches, das 1972 in Sibirien entdeckt wurde. Janusiscus, der janusköpfige Fisch, ein Tier mit zwei Gesichtern, erhielt seinen Namen aufgrund seiner speziellen Schädelanatomie, bei der externe Knochenplatten auf dem Schädel eine zweite Knochenschicht bilden. Das Fossil galt seit seiner wissenschaftlichen Beschreibung als früher Strahlenflosser, also Vertreter der Knochenfische.
    "Aber dann haben wir dieses Fossil genauer untersucht, eben weil es als einer der ersten Vertreter der Strahlenflosser galt. Mithilfe von CT-Scans konnten wir die interne Schädelanatomie exakt analysieren. Dabei sahen wir, dass nichts, aber auch gar nichts auf einen frühen Vertreter eines Strahlenflossers hindeutet."
    Ein Urahn der kiefertragenden Wirbeltiere?
    Viele der typischen Strukturen von Knochenfischen hatte dieses Tier noch gar nicht. Damit kann es kein Knochenfisch sein, sondern kommt als Vertreter jener Urahnen in Frage, aus denen sich alle kiefertragenden Wirbeltiere entwickelten.
    "Unsere Beweise zeigen, dass dieses Fossil tiefer im Stammbaum der heutigen Kiefermäuler anzusiedeln ist. Damit verschiebt sich der Ursprung aller Kiefermäuler – also der letzte gemeinsame Vorfahre von Hai, Stachelrochen, Thunfisch, Mensch oder Frosch – nach hinten, auf etwa auf rund 420 Millionen Jahre."
    Die neuen Erkenntnisse ergeben auch, dass Haie doch nicht so primitiv sind wie lange angenommen, sondern schon eine frühe Abzweigung mit anatomischen Neuentwicklungen darstellen, die sich bis heute gehalten hat. Damit sind Martin Brazeau zufolge auch alle alten Darstellungen von frühen Wirbeltieren in Lehr- und Schulbüchern, die wie Haie aussehen, falsch.