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Gunilla Palmstierna-Weiss: Eine europäische Frau
Eine Künstlerin – keine Autorenwitwe

Lebenserzählung und Emanzipationsgeschichte, liebevolle Erinnerungen an Freunde und das vielschichtige Porträt des Schriftstellers Peter Weiss: All das enthält „Eine europäische Frau“, die Autobiografie von Gunilla Palmstierna-Weiss.

Von Ulrich Rüdenauer | 27.09.2022
Gunilla Palmstierna-Weiss: "Eine europäische Frau"
Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Gunilla Palmstierna-Weiss: "Eine europäische Frau" (Buchcover: Verbrecher Verlag / Foto: Mikael Sylwan)
In Schweden eröffnet der Name Palmstierna einen gewaltigen Hallraum. Die Familie ist tief verankert in der politischen und kulturellen Geschichte des Landes - ein Who is Who der adligen Gesellschaft Schwedens im 19. und 20. Jahrhundert. Dieser Familie entstammt Gunilla Palmstierna väterlicherseits. Mütterlicherseits gab es den Urgroßvater Peder Herzog, der aus Deutschland nach Schweden emigrierte und dort Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Verleger avancierte.
Als Gunilla Palmstierna den damals noch unbekannten Maler und späteren Filmemacher und Schriftsteller Peter Weiss 1952 kennenlernte, spielte diese Herkunft sogleich eine Rolle. Weiss, ausgestattet mit dem klassenbewussten Dünkel gegenüber der Welt des Adels, sagte als erstes zu ihr:
„‘Wohl auf einem Landsitz geboren.‘ Was erwidert man darauf? Ich erzählte von meiner Arbeit und meinen Zukunftsplänen, auch etwas über meine Herkunft, über die Länder, in denen ich gelebt hatte, ein wenig über den Krieg in Holland und über meine politische Haltung. (…) Ich erzählte ihm, ich hätte unter Marks Namen den Umschlag für André Bretons Buch Nadja gemacht. Peter wunderte sich darüber, dass ich es überhaupt gelesen hatte. Es stellte sich heraus, dass André Bretons Nadja zu Peters Lieblingsbüchern gehörte.“

Erfolg mit Keramiken

Es muss viel zu erzählen gegeben haben an diesem Tag der ersten Begegnung mit Weiss, denn die 1928 in Lausanne geborene Gunilla Palmstierna hatte mit ihren gerade einmal 24 Jahren schon einiges erlebt: Sie wuchs als Tochter der Ärzte Kule Palmstierna und Vera Herzog in verschiedenen europäischen Ländern auf. Nach der Trennung der Eltern ging es mit dem holländischen Stiefvater René de Monchy nach Wien, Kitzbühel, Berlin, Rotterdam und schließlich nach Stockholm. Es handelte sich nicht nur um eine turbulente Familiengeschichte mit allerlei Verwicklungen, Streitigkeiten und Eitelkeiten.
Es war natürlich auch eine herausfordernde historische Epoche – Krieg, Bombardierungen, ein unstetes Hin und Her; zugleich war es eine befruchtende Zeit: Die Sprachen flogen Gunilla nur so zu, als Kind beherrschte sie bereits Schwedisch, Niederländisch, Französisch, Deutsch, und nach dem Krieg war sie tatsächlich „Eine europäische Frau“ – wie ihre nun erschienenen Memoiren heißen. Sie hatte Kunsthandwerk studiert, feierte mit ihren Keramiken Erfolge, heiratete sehr früh den Grafiker Mark Sylwan, mit dem sie in Paris einen bohemistischen Lebensstil pflegte. Die Ehe währte allerdings nicht lange. Und die Begegnung mit Peter Weiss 1952 gewann in verschiedener Hinsicht große Bedeutung. Als sie sich nach dem Kennenlernen auf dem Jahrmarkt und der durchaus lebhaften Unterhaltung verabschiedeten, rief Peter Weiss ihr nach: „Wenn wir einmal eine Tochter bekommen, soll sie Nadja heißen.“

Zwei einzelne Künstler

Gunilla Palmstierna und Peter Weiss werden ein Paar, sie heiraten 1964; die Tochter Nadja aber sollte erst 20 Jahre nach dem ersten Gespräch der beiden zur Welt kommen. „Eine europäische Frau“ erzählt in großen Bögen von Palmstierna-Weiss‘ Herkunft, von ihrem intellektuellen Werdegang, ihrem Verständnis von Kunst und den unzähligen Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern, mit Personen der Zeitgeschichte. Auch die Biografie von Peter Weiss bekommt angemessenen Raum. Bevor er auf Deutsch zu schreiben beginnt, hat er nicht nur eine Karriere als Maler hinter sich, sondern auch als Autor von Romanen, die er auf Schwedisch veröffentlicht hatte.
Zusammen sind die beiden, das erfährt man unter anderem aus diesem Buch, mehr als zwei einzelne Künstler: Sie regen sich gegenseitig zu Arbeiten an, werden zu politischen Kommentatoren ihrer Zeit, verstehen sich als Linke, reisen in den 60ern nach Kuba und Vietnam. Gunilla Palmstierna-Weiss entfernt sich zusehends von ihrer ursprünglichen Tätigkeit als Keramikerin und widmet sich mehr und mehr dem Bühnenbild am Theater. Sie arbeitet viele Jahre mit Regisseuren wie Ingmar Bergman, Fritz Kortner und Peter Brook zusammen, ist weltweit an bedeutenden Inszenierungen beteiligt.

Kulturgeschichte, Bildungsroman, Künstlerbuch

Die Eheleute Palmstierna-Weiss finden sich als Protagonisten inmitten der gesellschaftlichen Debatten ihrer Gegenwart wieder; sie haben Umgang mit Paul Celan, Agnés Verda, Samuel Beckett oder Luis Bunuel. Später werden sie dann auch in den Kreis der Gruppe 47 und die hitzigen Diskurse rund um ‘68 eintauchen, und die emanzipierte Gunilla Palmstierna-Weiss wundert und ärgert sich zuweilen über die noch sehr starren Rollenbilder, denen sie gerade in Deutschland begegnet.
„Kurz darauf erfuhr ich von einem Umstand, der mich sehr enttäuschte. Im Programm [zum Stück ‚Marat/Sade‘] stand, Peter hätte das Bühnenbild entworfen und nicht ich. Die Theaterleitung fand das so rührend, dass eine Ehefrau ‚mitgeholfen‘ hatte. Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass ich den Programmtext hätte kontrollieren müssen. (…) Es war, als wäre man wieder ins 19. Jahrhundert katapultiert worden, wo die Frau der dienstbare Geist war und der Mann ihr Werk mit seinem Namen signierte. So etwas wäre 1964 in Schweden nicht passiert.“
„Eine europäische Frau“ ist Kulturgeschichte, Bildungsroman, Künstlerbuch und Lebenserinnerung in einem, geschrieben in einem besonnenen, reflektierten, man könnte auch sagen: altersweisen Gestus. Die Porträts der vielen Menschen, denen Gunilla Palmstierna-Weiss in ihrem Leben begegnete, sind pointiert und lebendig zugleich. 94 Jahre alt ist sie inzwischen; sie überblickt fast ein ganzes Jahrhundert, und mit der Vorgeschichte ihrer Ahnen sogar noch mehr.
Was diese umfangreiche, von Jana Hallberg souverän übersetzte autobiographische Schrift erfreulicherweise nicht ist: das Werk einer Autorenwitwe. Dafür war Gunilla Palmstierna-Weiss von Anfang an viel zu unabhängig, eigensinnig, kreativ und politisch engagiert.
Gunilla Palmstierna-Weiss: "Eine europäische Frau"
Aus dem Schwedischen von Jana Hallberg.
Verbrecher Verlag, Berlin.
600 Seiten, 39 Euro.