Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Pandemiepläne
Erkenntnisgewinn zwischen SARS und Schweinegrippe

Die Mortalität reduzieren, Erkrankte versorgen, öffentliche Dienstleistungen aufrechterhalten und den Informationsfluss sicherstellen - das sind die Hauptziele von Pandemieplänen. Der COVID-19-Ausbruch zeigt nun: Wenn die Politik nicht mitspielt, bleiben die wohldurchdachten Konzepte reine Theorie.

Von Joachim Budde | 21.06.2020
Eine medizinische Fachkraft sitzt in Schutzkleidung am Fußende einer Corona-Krankenbox in der provisorisch eingerichteten Javits New York Medical Station
Die Todesfallrate bei COVID-19 liegt in den USA im internationalen Vergleich sehr hoch - trotz einer vermeintlich guten Vorbereitung auf den Pandemiefall (imago / ZUMA Wire)
Ein neues Virus erobert die Welt. Viele Staaten haben sich vorbereitet auf Pandemien wie die Corona-Krise. Und dafür gute Noten bekommen: In der aktuellen Ausgabe des Global Health Security Index von 2019 liegen die USA auf Platz 1, Großbritannien auf Platz 2, Frankreich auf 11. Dr. Ilona Kickbusch vom Graduate Institute of International and Development Studies in Genf:
"Wir sehen eigentlich, dass die zwei Länder Amerika und das Vereinigte Königreich, die am besten abgeschnitten haben, weit vor Südkorea, dass die mit die größten Probleme haben."
Die Top-Länder gelten als "most prepared" – am besten vorbereitet. Die Realität hat solche Indizes Lügen gestraft. Einige Länder haben sich in falscher Sicherheit gewiegt. Kickbusch:
"Bei so einem Ausbruch, bei einer Pandemie gibt es immer immense Unsicherheiten."
Dabei ist Unsicherheit ein zentrales Merkmal jedes Ausbruchs – das haben die Epidemien des 21. Jahrhunderts von Sars bis heute gezeigt. David Heymann, Professor für Infektionskrankheiten an der London School of Hygiene and Tropical Medicine:
"Nach dem Sars-Ausbruch, bei der Schweinegrippe-Pandemie, waren manche Länder vorbereitet, andere nicht. Dann folgten Mers und Ebola in Westafrika. Im Rückblick muss man sagen: Die Länder haben nicht das daraus gelernt, was sie hätten lernen sollen."
Sars: Ein Warnschuss, aber die Pandemie bleibt aus
Am 6. Mai 2003 informiert Gro Harlem Brundtland, die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation WHO über eine neue schwere Lungenkrankheit in Südchina:
"Mit etwas Glück können wir diese erste neue Krankheit des Jahrhunderts eindämmen. Wir müssen den Ausbruch stoppen, denn wie Sie wissen hat er eine viel höhere Sterblichkeitsrate als viele andere Krankheiten, und es gibt keine Behandlung oder Impfung – das einzige Mittel ist zu verhindern, dass sich Menschen infizieren."
Lange hatten die chinesischen Behörden zu verheimlichen versucht, dass bereits Monate zuvor, im November 2002, in der südchinesischen Provinz Guangdong gehäuft schwere Lungenentzündungen aufgefallen waren. Die Erkrankung erhält den Namen Sars: "Severe akute respiratory Syndrom", also "schwere akute Atemwegserkrankung". Bald finden Forscher heraus, dass ein bis dahin unbekanntes Coronavirus dahintersteckt. Es ist von Tieren auf den Menschen übergesprungen – vermutlich auf einem Markt – bevor es sich von Mensch zu Mensch weiterverbreitet hat. Ein Warnschuss, aber die Pandemie bleibt aus. Knapp 8500 Menschen in 29 Ländern erkranken nachweislich. Knapp 1000 sterben. Im Juli 2003 erklärt die WHO den Ausbruch für beendet.
Blick auf eine belebte Straße, auf der Chinesen mit Mundschutz entlanggehen.
Alltag während der SARS-Epidemie 2003: Der Mundschutz sollte vor einer Infektion schützen (PETER PARKS / AFP)
Schnelle Rückkehr zur Tagesordnung
Die Welt ist glimpflich davongekommen, die Sache erledigt. Forschungsprogramme werden abgebrochen, so beobachtet es David Heymann. 2003 war er bei der WHO verantwortlich für Infektionskrankheiten und damit auch für die Bekämpfung von Sars:
"Nach dem Sars-Ausbruch wurde die Entwicklung eines Impfstoffs und die Forschung dazu, welche Bedeutung Märkte für die Übertragung von Viren in China hatten, auf Eis gelegt, weil kein Geld mehr zur Verfügung stand."
Länder wie Deutschland, die nicht direkt von dem Ausbruch betroffen waren, kehren zur Tagesordnung zurück. Anders einige asiatische Staaten: Sie wollen sich nicht noch einmal nur auf Glück verlassen. Heymann:
"Singapur zum Beispiel hat eine spezielle Krankenhausstation mit 300 Betten eingerichtet, die nur für einen solchen Notfall bereitstehen. Jedes Zimmer hat Beatmungs- und Dialysegeräte. Sie haben sich also vorbereitet."
Neue Gesundheitsvorschriften für eine globalisierte Welt
Auch die Weltgemeinschaft zieht Konsequenzen, sagt Dr. Petra Dickmann. Die Ärztin und Politikwissenschaftlerin hat am Universitätsklinikum Jena den Bereich Public Health aufgebaut und ist Spezialistin für Risikokommunikation.
"Die WHO hat ja in der Folge von Sars ihre Internationalen Gesundheitsvorschriften nochmal komplett neu aufgestellt, sodass man stärker auf den Aspekt der Globalisierung Rücksicht nehmen konnte, dass man das besser beachten konnte. Und auch diese Internationalität, dass Krankheiten sich so schnell über den Globus verbreiten und so einen Effekt haben - nicht nur auf die Krankenhäuser, sondern auch auf die sozialen Systeme, also wie Gesellschaften leben, miteinander umgehen, wie gewirtschaftet wird, wie man zur Schule geht - dass das solche enormen Auswirkungen hat, das war die Lehre von Sars."
Im Jahr 2005 beschließt die Vollversammlung der WHO die neuen Internationalen Gesundheitsvorschriften. Am 15. Juni 2007 treten sie in Kraft. Für Dickmann persönlich zeigt sich beim Sars-Ausbruch noch etwas Anderes:
"Sars 2003-04, das war für mich der wesentliche Aha-Moment, wo ich gemerkt habe, dass Medizin und Kommunikation und Gesellschaft so zusammenrücken."
Die richtige Kommunikation ist unerlässlich, das wird damals klar. Und doch ging sie beim nächsten Krankheitsausbruch so richtig schief.
Der Arbeitsstab zur Schweine-Influenza bei der Senatsverwaltung für Gesundheit tagt in Berlin.
Die Schweinegrippe 2009 wurde zunächst als erhebliche Gefahr eingestuft (AP)
Der nächste Ausbruch: Die Schweinegrippe
"Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit den Tagesthemen. Guten Abend, meine Damen und Herren. Es ist ein Spagat. Die Behörden wollen sich vorbereiten auf ein gefährliches Virus." "Wachsende Bedrohung: Schweinegrippe erreicht Europa." "In Mexiko, wo der neue Grippetyp ja seinen Ursprung hat, steigt die Zahl der Toten wieder." "Das Virus ist besonders tückisch." "Nur ist dieser Typ auch noch leicht von Mensch zu Mensch übertragbar, das erhöht das Risiko einer Pandemie."
24. April 2009. Die Behörden in Mexiko melden, dass sie eine große Zahl tödlicher Atemwegserkrankungen festgestellt haben. Dr. Gérard Krause leitet zu der Zeit die Abteilung Epidemiologie am Robert-Koch-Institut:
"Da kamen die ersten Meldungen aus Mexiko mit sehr schweren Verläufen, die dann auch entsprechend relativ früh zurückgeführt werden konnten auf dieses neue Influenzavirus, und das war dann allen klar, dass es sich hier sehr wahrscheinlich um einen Pandemiestamm handelt, also um eine Influenza-Pandemie, und das war ja dann auch so."
WHO ruft Pandemie-Alarm aus
Bereits am 25. April 2009, einen Tag nach der Meldung aus Mexiko, erklärt Margaret Chan, die Generaldirektorin der WHO den Ausbruch zu einem "Gesundheitsnotstand von internationaler Bedeutung". Diesen Krisenfall hat die WHO gerade erst in ihre Regularien aufgenommen als Reaktion auf den ersten Sars-Ausbruch. Am 29. April treten in Deutschland die ersten drei Fälle auf. Am 11. Juni tritt Chan erneut vor die Öffentlichkeit und verkündet:
"Das Virus ist völlig neu. Es ist ansteckend, springt leicht von Mensch zu Mensch und von einem Land ins nächste. Stand heute wurden fast 30.000 bestätigte Fälle aus 74 Ländern gemeldet. Die wissenschaftlichen Kriterien für eine Influenza-Pandemie sind erfüllt. Ich habe darum entschieden, die Stufe des Influenza-Pandemiealarms von Phase 5 auf Phase 6 anzuheben. Die Welt steht jetzt am Anfang der Grippepandemie von 2009."
Die Botschaft lautet: Die Lage ist ernst. Die WHO löst mit ihren Warnstufen in den einzelnen Ländern Verpflichtungen aus. Die Regierungen sollen so viel Grippemedikamente und -impfstoff beschaffen, dass sie einen großen Teil ihrer Bevölkerung vor dem Erreger schützen können.
Ein leeres Klassenzimmer einer Schule am Mittwoch (04.11.2009) in Leipzig. Wegen der Schweinegrippe ist am gleichen Tag die vierte Schule in Sachsen-Anhalt geschlossen worden.
Auch 2009 gab es schon kurzfristig Schulschließungen in Deutschland (dpa / Peter Endig)
Medikamente und Influenza-Impfstoffe waren verfügbar
Gerd Glaeske, Professor für Public Health, Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik an der Universität Bremen:
"Das war natürlich eine spannende Situation oder auch eine zum Teil beängstigende Situation, als dann deutlich wurde, dass sich das Virus doch auch weltweit verbreitet. Wenn man sich die Situation damals anschaut, waren natürlich alle in Hab-Acht-Stellung. Was können wir tun und was ist die Möglichkeit zu reagieren, auch aus therapeutischer Sicht?"
Denn das ist der große Vorteil der Situation im Jahr 2009: Grippeviren sind lange bekannt. Es gibt Medikamente, die den Krankheitsverlauf zumindest abmildern können. Auch diverse Impfungen existieren bereits, sagt Klaus Cichutek, der heutige Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts.
"Es bestand hinsichtlich der Influenzaimpfstoffe jahrzehntelange Erfahrung hinsichtlich Sicherheit und Wirksamkeit, und wir hatten im Vorfeld einer Pandemie bereits durch eine Musterzulassung sogenannter präpandemischer Impfstoffe dafür gesorgt, dass die Sicherheit der Impfstoffe vorab abgeklärt wurde, und im Sommer war dann nur noch ein ganz üblicher Stammwechsel, den wir auch bei den saisonalen Influenza-Impfstoffen hatten, notwendig."
Ein moderner Impfstoff mit Wirkverstärker
Das Paul-Ehrlich-Institut hat in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Behörden eine sogenannte Mock-up-Zulassung, eine Musterzulassung für eine Grippeimpfung mit einem neuen Impfverstärker durchgeführt, die schnell auf den H1N1-Stamm der Schweinegrippe angepasst werden kann. Der Impfstoff mit dem Namen Pandemrix ist ein besonders moderner, denn in ihm steckt der Wirkverstärker AS03. Solche Stoffe haben zwei Vorteile: Erstens kommt eine Impfdosis mit weniger Antigen aus, man kann also mit derselben Menge Antigen viel mehr Menschen gegen die Krankheit impfen. Und zweitens stimuliert ein Wirkverstärker bei älteren Menschen das Immunsystem stärker. Cichutek:
"Der Influenza-Impfstoff mit dem Wirkverstärker AS03 war bei der Musterzulassung für einen pandemischen Impfstoff auf ganz normalem und üblichem Weg mit aller Sorgfalt zugelassen worden."
Glasdöschen mit dem Impfstoff Pandemrix und Impfspritze stehen auf einem Formular mit einer Impf-Einverständniserklärung 
Pandemrix: Erst empfohlener Schutz vor der Schweinegrippe, dann selbst Auslöser für Ängste (imago stock&people)
Große Impfkampagne in Deutschland
Etwa 5000 erwachsenen Probandinnen und Probanden hatten im schlimmsten Fall Kopfschmerz, vorübergehend etwas Fieber, leichtes Unwohlsein gespürt. Solche Nebenwirkungen akzeptieren die Prüfer. Schäden dürfen selbstverständlich nicht auftreten. Den Erregerstamm auszutauschen ist Routine. Jedes Jahr passen die Pharmahersteller den Vorgaben der WHO entsprechend die Antigene im Impfstoff an die Influenzastämme an, die gerade kursieren. Eine neue Zulassung ist dabei nicht nötig. Im Sommer 2009 stellen die Hersteller die Impfstoffe also auf den Schweinegrippe-Influenzastamm um und prüfen ihn erneut an einigen Hundert Menschen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Ältere. Klaus Cichutek:
"Es gab saisonale Influenza-Impfstoffe mit ähnlichen Immunverstärkern, und die waren bereits zugelassen und hatten keine besonderen Sicherheitsprobleme bei langjährigem Gebrauch gezeigt."
Im Juli steigen auch in Deutschland die Fallzahlen. Am 24. September 2009 lässt die europäische Zulassungsbehörde Emea Pandemrix und einen weiteren Impfstoff zu, am 1. Oktober einen dritten. Anfangs stehen die Menschen vor Arztpraxen und Gesundheitsämtern Schlange, um sich gegen den Pandemieerreger impfen zu lassen. Im Oktober 2009 soll eine große Impfkampagne anlaufen. Ziel: 25 Millionen Menschen in Deutschland impfen, also etwa 30 Prozent der Bevölkerung.
"Tiger"-Virus entpuppt sich als "Schmusekätzchen"
Doch die Stimmung kippt, erinnert sich Petra Dickmann.
"Als die Schweinegrippe dann tatsächlich da war und nicht so dramatisch war, wie sie angekündigt wurde, da hat man doch ein sehr starkes Abfallen des Interesses in der Öffentlichkeit bemerkt."
Drei Ängste sind die wesentlichen Treiber in dieser Situation: Die Verantwortlichen fürchten, der Erreger könne zum Killer mutieren. Schließlich registriert das Robert-Koch-Institut, dass mancherorts die Intensivstationen erheblich ausgelastet sind. Manche Beatmungsplätze werden knapp. Diese erste Angst stellt sich als unbegründet heraus, sagt Gerd Glaeske:
"Seinerzeit hat einer der Virologen, die auch heute noch eine wichtige Rolle spielen, gesagt: ‚Wir haben damit gerechnet, dass eine Herde von Tigern aus dem Wald kommt, und letzten Endes kam ein kleines Schmusekätzchen sozusagen durch die Bäume.'"
Eine Apothekerin hält eine Schachtel Tamiflu in die Kamera, Prag 2009
Die Medikamente Tamiflu und Relenza sollten den Krankheitsverlauf wesentlich abmildern - so das Versprechen der Hersteller (imago stock&people)
Angst vor dem Impfstoff, Zweifel am "Wundermedikament"
In der Bevölkerung wandelt sich die Angst: Aus der Angst vor dem Grippevirus wird eine Angst vor dem Impfstoff – genauer gesagt vor Pandemrix von GlaxoSmithKline, mit dem sich die Bundesländer bevorraten. Vielen Menschen gilt der Immunverstärker als suspekt. Auch das vielgepriesene Grippemedikament Tamiflu von Roche, das das Grippevirus in der Vermehrung hemmt, kommt in Verruf. Zu stark sind die Nebenwirkungen. Zu gering der Nutzen, denn Ärzte müssen das Mittel ganz früh geben, um den Krankheitsverlauf gerade einmal um ein paar Stunden zu verkürzen.
Zudem verdächtigen viele Leute die Entscheidungsträger, den Pharmakonzernen zu nahe zu stehen. In Großbritannien stellt sich heraus, dass Roy Anderson, der die britische Regierung in Sachen Schweinegrippe berät, daneben einen bezahlten Posten bei GlaxoSmithKline hat.
Profitinteressen der Pharmahersteller als treibende Kraft?
Und dann kommt auch noch heraus: Die Bundesregierung hat Impfstoff für Bundesbedienstete und die Bundeswehr ohne den umstrittenen Impfverstärker AS03 gekauft, sagt Gérard Krause:
"Aus der Angst heraus, dass es so wirkt, als hätte sich jetzt die Regierung ein Privileg eingekauft, wurde erst einmal darüber gar nicht kommuniziert, früher oder später kam es natürlich dann raus, und dann war dieses Narrativ, ‚die Bundesregierung hat sich den besseren Impfstoff besorgt‘, erst recht verstärkt."
Was vielen Menschen sauer aufstößt: Die Pharmafirmen spielen Bund, Länder und die europäischen Partner gegeneinander aus. Wer nicht schnell bestellt, muss fürchten, am Ende ohne Impfstoff dazustehen.
Die Verträge sind geheim. Die Abnahmemengen festgelegt. Unterm Strich verfestigt sich bei vielen Menschen der Eindruck: Von Impfung und Medikamenten profitieren in erster Linie die Pharmahersteller. Im Herbst sind einer Umfrage zufolge nur noch ein Viertel der Befragten bereit, sich gegen die Schweinegrippe impfen zu lassen. Am Ende bekommen knapp acht Prozent die schützende Spritze – weniger als während einer normalen saisonalen Grippe.
Eine seltene, aber schwere Nebenwirkung wird sichtbar
In Schweden dagegen läuft die Diskussion ganz anders. Dort lassen sich 70 Prozent der Bevölkerung impfen. Weil so viele den Impfstoff bekommen haben, bemerken Forscher dort eine extrem seltene, aber schwere Nebenwirkung: Narkolepsie, die Betroffenen kämpfen tagsüber mit Einschlafattacken. Spätere Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit einer bestimmten Genvariante anfällig dafür sind. Besonders tragisch: Sie tritt vor allem bei Kindern und Jugendlichen auf. Weltweit leiden am Ende 120 Menschen nach einer Impfung mit Pandemrix an Narkolepsie. Dahinter steckte tatsächlich der Impfverstärker AS03, allerdings nicht allein. Klaus Cichutek vom Paul-Ehrlich-Institut:
"Die Einschätzung heutzutage bezieht sich darauf, dass nur das Zusammenspiel des H1N1-Antigens mit dem AS03 zusammen zu diesem Phänomen geführt hat."
"Was hätte bei der Zulassung oder der Testung des pandemischen Grippeimpfstoffs anders laufen müssen, um diese schweren Nebenwirkungen zu entdecken?"
"Es hätte nichts anders gemacht werden können. Denn es wurde bereits alles erdenklich Mögliche getan, um die Nebenwirkungen zu erkennen, vorher und nachher ist das Phänomen nicht wieder aufgetreten. Wir haben auch bis heute bei nicht-klinischen Untersuchungen keine Möglichkeit, genau diese Nebenwirkung abzuklären, und deswegen haben wir gelernt – und das haben wir auch damals schon gemacht – dass bei Einführung neuer Impfstoffprodukte eine Begleitung durch eine engmaschige Überwachung in der Pharmakovigilanz vorgenommen werden muss, um solche extrem seltenen Phänomene zu entdecken und dann die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen."
Fehlinvestition in teure Arzneimittel
Im Rückblick sehen die Vorwürfe zur Schweinegrippe so aus: Die Reaktion war zu heftig. Spätestens als nach dem Sommer die Zahlen über die Grippesituation auf der Südhalbkugel Anzeichen dafür lieferten, dass der pandemische Influenzastamm von 2009 weniger gefährlich war als befürchtet, hätten die Verantwortlichen die Weichen neu stellen müssen.
Ein Greifarm bewegt Schachteln mit dem Impfstoff Pandemrix aus der Grippe-Saison 2009/2010 bei der Entsorgung im Müllheizkraftwerk Rothensee 
Impfstoff-Vorrat aus der Grippe-Saison 2009/2010: Erst teuer angeschafft, dann ungenutzt entsorgt (imago stock&people)
So bleiben Bund und Länder auf kistenweise Impfstoff und Medikamenten sitzen. Eine Zeitlang überlegen Bundesländer, die zu viele Impfdosen haben, sie in Länder des Globalen Südens zu verkaufen. Aber auch das schlägt fehl. Gerd Glaeske, der Gesundheitsökonom von der Universität Bremen:
"Wenn man das heute nachträglich anrechnet, dann waren das offensichtlich seinerzeit Arzneimittel, wo man jetzt schätzt, dass es bis zu 330 Millionen Euro Kosten verursacht hat. Manche sagen 70 Millionen; die Zahl, die eigentlich auch ganz gut bestätigt ist, ist 330 Millionen bei uns. Also insofern sind es große Geschäfte gewesen, die gemacht worden sind gegenüber einer Erkrankung, bei der man eigentlich schon relativ frühzeitig erkennen konnte, dass sie sozusagen nicht die dramatischen Folgen hat wie die Spanische Grippe oder andere Fälle."
"Null-Risiko-Leben" als Vorgabe an Politik?
Die dritte Angst war die ums politische Überleben. Gérard Krause: "Einer der sehr hochrangigen Politiker im Bundesministerium für Gesundheit habe ich noch sehr gut in Erinnerung, wie er das dargestellt hat. Der dann sagte, dass die Gesellschaft heutzutage nicht mehr bereit ist, Risiken zu akzeptieren. Das war seine Sicht und die hat sein Handeln geprägt. Die Sicht nämlich, dass die Bevölkerung von ihren Regierungen ein Null-Risiko-Leben erwartet. Und verlangt, dass das ermöglicht und sichergestellt wird."
"Haben wir einfach nur Glück, dass wir gerade keine Wahlen anstehen haben?"
"Das ist ein guter Punkt. Ich möchte es nicht ganz ausschließen, dass das Handeln dann vielleicht anders gewesen wäre."
Schweinegrippe-Debakel als Lehre für Entscheidungsträger
Petra Dickmann vom Universitätsklinikum Jena sieht ganz konkrete Lehren aus dem Debakel:
"Mein Eindruck ist, dass die politischen Entscheidungsträger da unheimlich viel gelernt haben..."
…von der Wissenschaft. Aber auch die Wissenschaft selbst habe gelernt:
"Welche Vorbereitung man treffen muss, wie die Impfstoffentwicklung ist, wie die Kommunikation zu Impfstoffen sein kann und welche Vorbereitungen man auch miteinander in Kliniken, im öffentlichen Gesundheitsdienst, bei den politischen Entscheidungsträgern, was wir da beachten müssen. Dass die Schweinegrippe dann nicht so dramatisch in der Öffentlichkeit wahrgenommen war, empfand ich als Glück, denn das hat ja die Gelegenheit gegeben, dass man das tatsächlich nochmal als Übung sozusagen begreift. Und ich denke, wir haben viele Lehren daraus gezogen."
Bevorratung mit Masken und Reagenzien sträflich versäumt
Gérard Krause: "Wir haben damals schon einige Lehren ja geschlossen und auch so aufgearbeitet, zum Teil ist damals dann auch stückweise schon das Surveillance-System verbessert worden als Folge der Erfahrungen. In Bezug auf die Bevorratung ist leider keine Verbesserung eingetreten, nach meiner Einschätzung …"
"Bevorratung womit?"
"Zum Beispiel von Masken."
Ein Mann im weißen Kittel hält eine FFP2 Atemschutzmaske in den Händen
Zeitweise nicht mehr verfügbar: Hochwertige Atemschutzmasken für medizinisches Personal (picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
Das hat sich am Anfang der aktuellen Corona-Krise gezeigt. Der Mangel führte zu Konkurrenz um Masken und Reagenzien für Tests. Man hat sich darauf verlassen, dass Nachschub aus China binnen zwei Tagen per Flugzeug eintrifft, sagt Ilona Kickbusch. Die Professorin leitet seit 2008 das Studienprogramm Globale Gesundheit am Graduate Institute for international and development studies in Genf in der Schweiz. Außerdem ist sie Mitglied des Global preparedness monitoring boards, einer unabhängigen Kommission, die die WHO zu Gefahren neuer Pandemien berät.
"In einer wirklichen Pandemie fliegen halt die Flugzeuge nicht, und kommt man auch an diese Mittel gar nicht so einfach heran, weil auch eine ganz große Konkurrenz darüber besteht. Man versucht, sich zu überbieten, auch im Preis. Also wenn man sich nicht gut vorbereitet hat, ist das Ergebnis in einer wirklichen Pandemie dann das Chaos."
Prophetisches Pandemie-Planspiel aus dem Jahr 2012
Darauf waren auch die Pandemiepläne nicht eingestellt. Zumal: Pandemiepläne sind auf Influenza-Pandemien ausgerichtet, gar nicht mal auf andere Erreger. Ilona Kickbusch:
"Viele Länder haben Pandemiepläne, aber die sind veraltet. Viele dieser Elemente sind eben nicht genug überlegt worden, immer wieder auf den neuesten Stand gebracht worden. Ein gutes Beispiel ist, dass viele der Pandemiepläne zum Beispiel so um 2015 herum geschrieben worden sind, da war zum Beispiel die digitale Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten wie heute. Da waren die sozialen Medien noch nicht so aktiv wie heute."
Im Jahr 2012 lässt das Bundesinnenministerium eine Expertenrunde zwei Katastrophenszenarien durchspielen. Katastrophe 1: eine Überschwemmung. Nummer 2: eine Pandemie. Gerd Glaeske:
"Interessanterweise stellt dieses Papier dann tatsächlich auch in den Mittelpunkt einen bisher unbekannten Erreger, ein unbekanntes Virus, das dann zu einer neuen Epidemie führt."
Wer es heute liest, dem kommen die Parallelen zu Covid-19 geradezu prophetisch vor. Glaeske:
"Dieses Papier zeigt eigentlich sehr genau auf – und das fand ich schon erstaunlich – wo man 2009 auch die Defizite gesehen hat. Das ist ein Papier, was eigentlich einen relativ guten Fahrplan oder ein relativ gutes Drehbuch auch für die jetzige Situation geboten hätte. Ich habe nur den Eindruck – und das hat sich bei mir auch verstärkt –, dass dieses Papier überhaupt nicht mehr in Erinnerung war."
Die 30 Seiten mit Überlegungen zu dem Erreger, den die Fachleute "Modi-Sars" taufen, erscheinen am 3. Januar 2013 als Bundestagsdrucksache. Im Plenum des Parlaments wird nie darüber debattiert.
Corona-Testkapazitäten "kein Glück, sondern Vorsorge"
Andere Übungen hinterlassen größere Spuren. Im Mai 2017 lädt die Bundesregierung – sie hat den Vorsitz der G20 – die Gesundheitsminister dieser Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer nach Berlin ein, um einen Pandemie-Ausbruch durchzuspielen. Diesmal ist der Erreger ein fiktives Mars-Virus. David Heymann und Ilona Kickbusch haben die Bundesregierung bei der Planung beraten. Heymann zieht diese Bilanz:
"Wir waren absolut überzeugt, dass einige Länder Lehren daraus gezogen haben. Deutschland mit Sicherheit, denn es war jetzt vorbereitet. Andere Länder scheinen die Lehren nicht so berücksichtigt zu haben wie nötig."
Coronavirus-Teströhrchen in einer Ambulanz in Stuttgart
Coronavirus-Teströhrchen in einer Ambulanz in Stuttgart (dpa/Sebastian Gollnow)
Deutschland war in der Corona-Krise in der glücklichen Lage, dass von Anfang an ausreichend Testkapazitäten zur Verfügung standen. Heymann:
"Das war kein Glück, das war Vorsorge. Die müssen Länder treffen. Ich bin sicher: Wenn wir nach Corona Bilanz ziehen, wird Deutschland als eines der Beispiele für gute Vorsorge dastehen, wie ein solcher Ausbruch eingedämmt werden kann."
Ilona Kickbusch: "Wenn die Politik nicht mitspielt, dann hilft ihnen das beste Ergebnis auf jedem Index nichts. Die beste Institution hilft Ihnen nichts, wenn die Politik nicht bereit ist, die Entscheidungen zu treffen, die notwendig sind - Stichwort Lockdown - oder wenn das Geld nicht bereitgestellt wird, um zum Beispiel zu testen und zu tracken, um zusätzliche Materialien zu beschaffen oder ähnliches."
Trump bricht mit der WHO
US-Präsident Donald Trump: "Die Wahrheit ist, dass die WHO dabei versagt hat, Informationen einzuholen, zu bewerten und zeitnah und transparent weiterzugeben."
Donald Trump bei einer Pressekonferenz am 13. April im Weißen Haus
Donald Trump sieht die WHO als Erfüllungsgehilfen der chinesischen Regierung (www.imago-images.de)
Die USA hatten zwar den ersten Platz im Global Health Security Index, aber diese Zahlen zeigen lediglich, was möglich gewesen wäre. Stattdessen verschläft die US-Regierung den Coronavirusausbruch. Die Verantwortung sieht sie bei der WHO und China. Trump:
"China hat totale Kontrolle über die Weltgesundheitsorganisation. Weil sie die verlangten und dringend erforderlichen Reformen verfehlt hat, beenden wir heute unsere Beziehungen mit der WHO und leiten unsere Mittel zu anderen weltweiten, verdienstvollen und dringenden Belangen der öffentlichen Gesundheit um."
Ein Nebenschauplatz. Die eigentliche Frage ist: Ist die WHO richtig aufgestellt, als oberste Kriseninstanz in einer globalen Pandemie?
Tatsächlich hatte Generalsekretär Tedros Adhanom Ende Januar die chinesischen Anstrengungen in den höchsten Tönen gelobt. Zu große persönliche Nähe wird ihm nachgesagt.
"Die Geschwindigkeit, mit der China den Ausbruch aufgespürt hat, das Virus isoliert hat, das Genom sequenziert und mit der Welt geteilt hat, ist sehr beeindruckend und unbeschreiblich. Ebenso wie Chinas Bekenntnis zu Transparenz und zur Unterstützung anderer Länder."
Politischer Eiertanz aus finanziellen Gründen
Doch man kann die Äußerungen auch anders verstehen. Die Nachrichtenagentur Associated Press hat Protokolle aus internen WHO-Sitzungen analysiert und kommt zu dem Schluss: Hinter den Kulissen war die Stimmung schlecht im Januar. Die WHO-Experten seien genervt gewesen, weil die Informationen aus China nur zäh flossen. Aber die WHO-Funktionäre hätten gute Miene zum bösen Spiel gemacht, um möglichst viele Daten zu bekommen, schreiben die Journalisten. Für einen solchen Eiertanz gibt es gute Gründe: Der erste sei das Geld, sagt Gerd Glaeske, der Gesundheitsökonom von der Universität Bremen:
"Wir wissen ja, dass die WHO eigentlich – das muss man wirklich deutlich sagen – bezogen auf ihre Finanzierung immer eine sehr unsichere Position hatte. Und man weiß auch, dass etwa nur 25 Prozent der Finanzierung der WHO staatlicherseits gesichert ist und dass 75 Prozent über Spenden kommen muss, und dass bei den Spenden auch bei den letzten Endes projektbezogenen Spenden auch unter anderem die Pharmaindustrie eine Rolle spielt."
Nur mit dem einen Viertel ihrer Einnahmen kann die WHO also das machen, was sie für richtig hält. Die Verwendung der restlichen drei Viertel bestimmen die Geldgeber. Das können Staaten sein, oder große Stiftungen, die damit ihre Lieblingsprojekte fördern.
WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Peking/China
Die WHO ist auf zahlungswillige Geldgeber angewiesen (dpa / MAXPPP)
WHO fehlen Sanktionsmöglichkeiten
Das zweite Problem sei ein Konstruktionsfehler der Internationalen Gesundheitsvorschriften, sagt Ilona Kickbusch: Die WHO kann widerborstige Mitgliedsstaaten nicht sanktionieren. Sie kann weder ihren Erkundungsteams Zugang zu Ausbruchsgebieten verschaffen noch einen Gerichtsvollzieher zum Weißen Haus schicken, um ausstehende Mitgliedsbeiträge zu kassieren. Die einzigen, die an dieser vertrackten Situation etwas ändern können, sind die Mitgliedsländer selbst, so Kickbusch:
"Die Mitgliedsländer müssen sehr viel aktiver in den Entscheidungsgremien mitwirken, die Finanzierung muss auf ganz neue Weise gesichert werden, sodass einzelne Länder nicht einen Großteil des Budgets tragen, und es muss dadurch auch gewährleistet sein, dass die Weltgesundheitsorganisation in ihrem Vorgehen sehr viel mehr Unabhängigkeit hat."
Der australische Premierminister Scott Morrison hat vorgeschlagen, WHO-Experten dieselben Rechte zu geben wie Waffeninspekteuren.
Jedenfalls spricht viel dafür, die internationalen Regularien zu ändern. Für die Gesundheitsexpertin Ilona Kickbusch läuft alles auf zwei Fragen hinaus:
"Wie wichtig nehmen die Mitgliedsländer ihre Organisation, und wie viel sind sie bereit, dafür zu zahlen?"
Fehlende Ressourcen bei Gesundheitsämtern
In vielen Ländern ist das neue Coronavirus inzwischen weit zurückgedrängt. Damit entstehen neue Konflikte.
"Natürlich wird es immer wieder Gruppen der Bevölkerung geben, die verunsichert sind, Gruppen der Bevölkerung, die ökonomisch besonders betroffen sind, die sich ungerecht behandelt fühlen, die sich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen, und hier ist dann die Kommunikation fast nochmal doppelt so wichtig wie vorher."
Jetzt kommt es auf die Gesundheitsbehörden an, sagt Ilona Kickbusch.
"Wenn Sie hier auch einen Vergleich sozusagen machen mit Schweinegrippe und heute, ist natürlich heute das Robert-Koch-Institut um einiges besser aufgestellt als damals, obwohl es immer noch nicht genug Ressourcen hat. Weil auch Deutschland nicht genug in Public Health investiert hat, weder in das zentrale Institut, noch – und das geht zur früheren Frage von Ihnen zurück, ‚wo war Deutschland nicht gut aufgestellt?‘ – nämlich das Aushungern der Gesundheitsämter."
Drei Mitarbeiter vom Gesundheitsamt in Berlin Mitte stehen in Schutzkleidung, in der ambulanten Corona-Test- Einrichtung. 
Über Jahre personell ausgedünnt, nun plötzlich im Zentrum des Geschehens - die Gesundheitsämter (picture alliance / dpa-Zentralbild / Britta Pedersen)
Doch genau die Gesundheitsämter in Städten und Kreisen müssen lokale Ausbrüche aufspüren und verhindern, dass sich das Virus erneut ausbreiten kann. Die Kommunikation ist deshalb umso wichtiger, weil die Menschen hierzulande zum ersten Mal mit einem solchen Krankheitsausbruch konfrontiert sind, sagt die Expertin für Risikokommunikation Petra Dickmann vom Universitätsklinikum Jena.
"Uns fehlte diese hautnahe Erfahrung, dieses Lernen aus Anschauung, den tatsächlichen, hautnahen Ausbruch. Da sind wir, Gott sei Dank, relativ glimpflich in den letzten Jahrzehnten davongekommen. Wir hatten Planungsstäbe, Krisenstäbe, Pandemiepläne, nur ist das mit den Planungen immer so: Wenn man nur Pläne hat und sie nicht tatsächlich macht und lebt, sind die Pläne im Grunde für die Katz."
Wer kann Risikokommunikation führen und moderieren?
Nur gute Kommunikation bildet Vertrauen. Petra Dickmann:
"Ich sehe, ehrlich gesagt, auch nicht die Institution, die das machen könnte. Denn es gibt, wenn man sich so die deutsche und die internationale Landschaft anschaut, nicht wirklich Institutionen für Risikokommunikation also, die genau diesen Dialog moderieren könnte. Die dieses Wissen, die andere Perspektive hat; diese Ansprüche und Rahmenbedingungen – wie bringen wir das zusammen?"
"Das ist eine klassische Aufgabe des Wissenschaftsjournalismus, nicht wahr?"
"Ja, das macht Wissenschaftsjournalismus, aber das könnte ich mir auch vorstellen im Rahmen einer wissenschaftlichen Institution, so einer Oberbehörde, die versucht, diesen Dialog so zu führen. Es gibt politische Rahmenbedingungen, es gibt wirtschaftliche Zwänge, und in diesem Karussell der verschiedenen Perspektiven, braucht man eine Orientierung."
Die Medien könnten diese Rolle nur eingeschränkt übernehmen, sagt Dickmann:
"Mein Eindruck ist öfter, dass da viel interessengeleitet ist und gerne polarisiert oder zuspitzt, dass man sagt: ‚War es falsch, dass man zur Schweinegrippe den oder den Impfstoff gekauft hat, hat man das falsch kommuniziert oder nicht?‘"
Corona bringt wichtige gesellschaftliche Fragen in den Fokus
Von allen Lehren aus vergangenen Krankheitsausbrüchen ist eine die wichtigste:
"Wir müssen lernen, mit diesen Unsicherheiten umzugehen, aber gleichzeitig muss die Politik lernen, diese Unsicherheiten zu vermitteln, und auch einen wirklichen Dialog mit der Bevölkerung führen. Dafür sind wir eine Demokratie, dafür müssen wir uns auseinandersetzen, und ich glaube, nur so kann man in Zeiten von Unsicherheit auch Vertrauen schaffen."
Das Leben von vor Corona wird nicht zurückkehren. Petra Dickmann:
"Möchte man überhaupt wieder zurück von vor der Pandemie? Es gibt sicher da einige gute Gründe, das nicht zu tun. Auf den Intensivstationen hat sich in den letzten Jahren ja schon eine sehr starke Ökonomisierung von der Patientenbehandlung durchgesetzt. Hier ist auch die Frage: Möchten wir das als Gesellschaft? Wie möchten wir leben? Wie möchten wir die Kranken behandeln? Wie möchten wir Wirtschaft betreiben? Wie möchten wir die Kinder zur Schule geben? Wie möchten wir zusammen miteinander umgehen? Das sind ja die schönen Fragen, die wir jetzt tatsächlich noch stellen können."