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Pannenserie bei Aufklärung der Nazimordserie "offenkundig"

Norbert Lammert warnt im Zusammenhang mit den Pannen bei der Aufklärung der neonazistischen Mordserie vor einem Generalverdacht gegen die Sicherheitsbehörden. Ein Fehlverhalten einzelner Beamter könne zwar nicht ausgeschlossen werden - dass ganze Dienststellen in eine Kumpanei verwickelt seien, hält der CDU-Politiker jedoch für ausgeschlossen.

Norbert Lammert im Gespräch mit Peter Kapern | 22.11.2011
    Peter Kapern: Heute debattiert der Bundestag über die von Rechtsextremisten verübte Mordserie. Zehn Tote - neun Zuwanderer, eine Polizistin. Das ist nach bisherigem Kenntnisstand die Spur des Grauens, die eine neonazistische Terrorgruppe durch Deutschland gezogen hat. Wie konnten die Täter so lange Zeit unerkannt im Untergrund leben? Wie sind die zahlreichen Ermittlungspannen zu erklären? Und: Was hat diese Mordserie im Verhältnis der Deutschen zu den hier lebenden Zuwanderern angerichtet? Fragen, die bei der Debatte heute im Bundestag zu diesem Thema sicher eine Rolle spielen werden. – Bei uns am Telefon jetzt Norbert Lammert von der CDU, der Bundestagspräsident. Guten Morgen, Herr Lammert.

    Norbert Lammert: Guten Morgen, Herr Kapern.

    Kapern: Das blanke Entsetzen weicht ja so langsam den Versuchen der Aufklärung, Herr Lammert. Eine rechtsterroristische Mordserie in Deutschland, wer hätte das für möglich gehalten? Wer jetzt noch glaubt, etwas vertuschen zu können – das hat Ihr Kollege Wolfgang Bosbach gesagt -, der riskiere eine Staatskrise. Ist das eine reale Gefahr?

    Lammert: Ich glaube nicht, zumal ich im Übrigen, seitdem diese entsetzlichen Zusammenhänge deutlich geworden sind, buchstäblich überhaupt noch niemanden beobachtet habe, der auch nur den Versuch der Vertuschung oder des Verdrängens oder des Banalisierens unternommen hätte. Und wie ernst der Deutsche Bundestag dieses Thema nimmt, wird ja allein aus dem Umstand deutlich, dass er zum ersten denkbaren Zeitpunkt in Änderung seiner Tagesordnung, nicht irgendeiner Tagesordnung, sondern der jährlichen abschließenden Haushaltsberatungen, genau dieses Thema prominent als Erstes heute Morgen auf seine Tagesordnung gesetzt hat.

    Kapern: Welche Botschaft soll, welche Botschaft muss von diesen Beratungen ausgehen?

    Lammert: Ich bin fest davon überzeugt, dass es ein eindrucksvolles Signal einer gemeinsam gefühlten Verantwortung und einer ebenso gemeinsamen Entschlossenheit sein wird. Wir stehen ja alle fassungslos vor den bekannt gewordenen Ereignissen und schon gar der Umstand, dass sie sich über einen so langen Zeitraum offenkundig unauffällig haben planen und umsetzen lassen, macht uns alle ebenso ratlos wie betroffen. Und wir müssen auch ein bisschen aufpassen, dass nun nicht in Umkehrung dieser Entwicklungen der vergangenen Jahre, die offenkundig niemand für möglich gehalten hat und von denen offenkundig niemand auch nur zureichende Anhaltspunkte hatte, nun innerhalb von wenigen Tagen der Eindruck der vollständigen Kenntnis dieser Zusammenhänge vermittelt wird. Das Bedürfnis, in einer solchen Situation nicht nur seine Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen, sondern schnell zu möglichst vorzeigbaren Ergebnissen zu kommen, ist verständlicherweise ausgesprochen groß, aber es darf das Gebot der Sorgfalt nicht außer Kraft setzen, und deswegen bin ich eigentlich auch ganz zufrieden, dass gestern etwa in einer mehrstündigen Sondersitzung des Innenausschusses unter Beteiligung aller dafür in besonderer Weise verantwortlichen Sicherheitsbehörden ein solcher erster gemeinsamer Versuch der Bestandsaufnahme unternommen worden ist.

    Kapern: Haben Sie noch Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden, nach all den vielen Ermittlungspannen und Fehlern, die da geschehen sind?

    Lammert: Ja das gehört genau zu den reflexhaften Übertreibungen, die man in einer solchen Situation eben auch vermeiden muss. Gestern haben ja prominente Spitzenrepräsentanten der Sicherheitsbehörden ihrerseits eingeräumt, dies sei eine große Niederlage für sie und für ihre Arbeit gewesen. Daran kann nun auch offenkundig überhaupt kein Zweifel bestehen. Daraus den Schluss zu ziehen, dass sie offenkundig nicht in der Lage, oder gar nicht willens seien, die ihnen übertragenen Aufgaben wahrzunehmen, das halte ich nun wiederum für eine nicht begründete voreilige Übertreibung. Aber die Versäumnisse, die Fehler, die Pannen sind so offenkundig, dass nun auch nicht mit gut gemeinten Vertrauenserklärungen darüber hinweggegangen werden kann.

    Kapern: Das heißt aber, Sie halten es für ausgeschlossen, dass es da zu einer Kumpanei beispielsweise zwischen Verfassungsschützern und ihren V-Leuten gekommen ist?

    Lammert: Noch mal: Wir können jetzt nicht innerhalb von wenigen Tagen Auskünfte über Zusammenhänge verlässlich geben, die uns jahrelang nicht bekannt und durchsichtig gewesen sind. Und was Ihre Frage angeht, kann ich bei der Vielzahl von beteiligten Institutionen vor allen Dingen in den Ländern, aber auch auf Bundesebene und der entsprechend großen Zahl von direkt oder indirekt daran mitbeteiligten Personen natürlich nicht ausschließen, dass es auch einzelne Personen gegeben haben könnte, für die Ihr Verdacht zutrifft. Genau dem gehen wir ja im Augenblick besonders intensiv nach. Aber dass die Institutionen selbst, dass ganze Landesbehörden für Verfassungsschutz, ganze Dienststellen eine solche Kumpanei geduldet oder gar organisiert hätten, das kann und will ich mir nicht vorstellen.

    Kapern: Die Forderung nach einem Sonderermittler des Bundestages, oder nach einem Untersuchungsausschuss des Bundestages steht im Raum. Um 7:15 Uhr hat sich hier in unserem Programm auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel in diesem Sinne geäußert. Was halten Sie von dieser Idee?

    Lammert: Man muss zwischen beiden Dingen zunächst einmal unterscheiden. Ein Sonderermittler wäre ein professionelles Hilfsorgan für die Bemühungen um Aufklärung der dafür beauftragten Institutionen, insbesondere auch für die Bemühungen des Parlaments, in einer intensivierten Kontrolle das zu begleiten und auch das zu überwachen, was nun an Aufarbeitung der entstandenen Ereignisse und damit verbundener Fehler in den Behörden stattgefunden hat. Ein Untersuchungsausschuss ist nach unserer Geschäftsordnung ein Instrument, das über einen längeren Zeitraum systematisch Entwicklungen – meist vermutete Fehlentwicklungen – überprüfen und möglichst dann auch zu Schlussfolgerungen führen soll, wobei wir aus guten Gründen dieses Recht als Minderheitsrecht ausgestaltet haben. Das heißt, dafür bedarf es keines Mehrheitsbeschlusses des Deutschen Bundestages, sondern dafür können entsprechende, in der Geschäftsordnung festgelegte Minderheiten, in diesem Falle 25 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundestages, einen durchsetzbaren Antrag stellen.

    Kapern: Würde das Ihre Unterstützung finden?

    Lammert: Noch mal: Es käme auf diese Unterstützung gar nicht an, weil wir aus guten Gründen gerade für solche Aufklärungsbedürfnisse, wenn sie denn angemeldet werden, gewissermaßen einen Automatismus vorgesehen haben.

    Kapern: Ich möchte ja gerne Ihre Meinung in Erfahrung bringen, Herr Bundestagspräsident.

    Lammert: Ja! Ich habe ja meine Einschätzung vorgetragen, dass kein Anlass zum Zweifel daran besteht, dass alle Beteiligten, sowohl im Parlament wie in den unmittelbar mit diesen Aufgabenstellungen beauftragten Behörden, sich nun um eine intensive auch im Wortsinne rücksichtslose Aufklärung bemühen werden. Meine Empfehlung wäre, dies zunächst auch mal jedenfalls einige Wochen zu begleiten und dann die Frage zu beantworten, ob es ergänzend dazu Bedarf oder gar die Notwendigkeit eines Untersuchungsausschusses gibt. Das würde ich im Augenblick weder mit einem prinzipiellen Ja, noch gar umgekehrt mit einer unbedingten Warnung verbinden wollen. Das hängt auch sehr davon ab, zu welchen Aufschlüssen jetzt die ersten gründlichen Recherchen führen.

    Kapern: Bundestagspräsident Norbert Lammert heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Lammert, danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Lammert: Keine Ursache. Auf Wiederhören, Herr Kapern.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.