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Papst Franziskus
Mit watteweichen Gedanken anecken

Das erste Interviewbuch von Papst Franziskus liegt vor: "Der Name Gottes ist Barmherzigkeit". Der Vatikan-Experte Andrea Tornielli hatte die Gelegenheit, mit Franziskus über das Thema Barmherzigkeit zu sprechen. Herausgekommen ist eine Art geistliche Übung für hart gesottene Barmherzigkeitsverweigerer.

Von Christiane Florin | 18.01.2016
    Franziskus ist ein zuverlässiger Zitat-Zulieferer. Diese Wirtschaft tötet. Wer bin ich, über andere zu urteilen. Katholiken müssen sich nicht vermehren wie die Karnickel. Solche Sätze versteht jeder. Wenn er über Produktionsmittel und Reproduktionsgewohnheiten redet, spricht man darüber in Kantinen wie in Salons.
    Nun liegt Franziskus' erstes Interviewbuch vor. Der Vatikan-Experte Andrea Tornielli hat das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche an einem heißen Juli-Tag des vergangenen Jahres getroffen und mit ihm über Barmherzigkeit gesprochen. Glaubt man dem Kirchenkalender, müsste es das alles beherrschende Thema sein, denn am 8. Dezember hat das Heilige Jahr der Barmherzigkeit begonnen. Allerdings zeigen sich gut einen Monat später weder Kirche noch Welt davon sonderlich beeindruckt.
    Was ist Barmherzigkeit, will Tornielli von Franziskus wissen.
    Der antwortet: "Etymologisch gesehen bedeutet Barmherzigkeit, das Herz für die Not zu öffnen. Und damit sind wir auch schon beim Herrn: Die Barmherzigkeit ist jene göttliche Haltung, die umarmt, das Sich-Schenken Gottes, der empfängt, der sich hinabbeugt zur Vergebung. Jesus hat gesagt, er sei nicht um der Gerechten willen gekommen, sondern um der Sünder willen. Er ist nicht wegen der Heiligen gekommen, denn die brauchen keinen Arzt, sondern wegen der Kranken." (S. 29)
    Die Antwort zeigt: Wer zitable politische Botschaften vom gemeinhin politischen Papst erwartet, wird enttäuscht. Franziskus schweigt auf diesen 128 Seiten über Wirtschaft, Sozialsysteme und Klima. Das Buch ist vor allem eine Art geistliche Übung für hart gesottene Barmherzigkeitsverweigerer. Aber stellenweise interveniert der Papst dann doch politisch, kirchenpolitisch genauer gesagt. Franziskus scheint, salopp ausgedrückt, mit seinem Laden unzufrieden. Er ist zwar der Boss, doch die katholische Firma entwickelt sich nicht in seinem Sinne. Schon in seiner ersten Predigt am Morgen nach seiner Wahl hatte er Barmherzigkeit angemahnt, schon in seinem ersten großen Interview im Herbst 2013 hatte er von einer Kirche geträumt, die Wunden heilt. Von einem Feldlazarett sprach er damals. Vergeblich offenbar, denn den Appell wiederholt er nun:
    "Die Kirche ist nicht in der Welt, um zu verurteilen, sondern um die Begegnung mit dieser ursprünglichen Liebe zu ermöglichen, die die Barmherzigkeit Gottes ist. Und ich sage immer wieder: Damit dies geschehen kann, ist es nötig, hinauszugehen. Hinauszugehen aus den Kirchen und Pfarrhäusern, hinauszugehen und die Menschen dort zu suchen, wo sie leben, wo sie leiden, wo sie hoffen. Ein Feldlazarett, das ist das Bild, mit dem ich am liebsten diese hinausgehende Kirche beschreibe, denn es wird dort aufgeschlagen, wo Kämpfe stattfinden."
    An anderer Stelle wünscht sich der Papst, weniger martialisch, eine "Mama-Kirche", die der verletzten Menschheit ihr mütterliches Antlitz zeige.
    Das Buch wurde am vergangenen Dienstag in 84 Ländern veröffentlicht. Gerade das deutsche Publikum hofft darauf, dass die franziskanische Mama-Firma weniger streng auf die Hausordnung achtet. Was bedeutet Barmherzigkeit zum Beispiel für Wiederverheiratete? Dürfen sie endlich die Sakramente empfangen?, fragen Reformkatholiken. Andrea Tornielli fragt so nicht. Er gibt Stichworte, ohne nachzuhaken. Ein Hofberichterstatter bei einem Papst ohne Hof.
    Tornielli lässt seinem Interviewpartner allzu viele wolkige Antworten durchgehen. Da rät Franziskus Beichtvätern: "Redet, hört geduldig und vor allem: Sagt den Menschen, dass Gott sie liebt. Wenn dann ein Beichtvater tatsächlich keine Absolution erteilen kann, dann möge er den Menschen erklären warum, und ihnen zumindest seinen Segen erteilen, auch wenn die sakramentale Absolution nicht möglich ist. Die Liebe Gottes ist auch für jene da, die nicht in der Lage sind, das Sakrament zu empfangen." (S. 38)
    Was daraus folgt, bleibt das Geheimnis des Glaubens. Ausführlich spricht Franziskus über Sünde, Reue und Vergebung. Gütig lächelt er von der Buchrückseite, aber Barmherzigkeit heißt für ihn nun einmal nicht: Mach, was du willst, die Sünde ist abgeschafft. Abschaffen will Franziskus die Verachtung der Sünder, den kirchlichen Hochmut gegenüber den Gestrauchelten, die Lust an der Strafe. Barmherzigkeit ist für ihn eine grundsätzliche Haltung, nicht nur eine Handlung.
    Kritiker werfen dem Argentinier vor, er sei theologisch wenig sattelfest. Er sei eher ein Weltpastor als ein Gelehrter. Akademische Fachsimpelei wischt Franziskus im Interview prompt beiseite. Auf Torniellis Frage, ob die Lehre und die Barmherzigkeit im Widerspruch zueinander stehen können, antwortet er: "Des Weiteren kann man theologische Überlegungen anstellen über die Lehre und die Barmherzigkeit, doch dürfen wir dabei nicht vergessen, dass die Barmherzigkeit die Lehre ist... Die Barmherzigkeit ist wahr." (S. 85)
    Das klingt lehramtlich, ist es aber nicht. In Interviews spricht ein Papst als Privatperson. Auch Benedikt XVI. hatte sich in seiner Amtszeit von einem Journalisten befragen lassen. Die beiden Gesprächs-Bände "Licht der Welt" und "Salz der Erde" verkauften sich gut. Sie lösten sogar eine kurze Medienaufwallung aus, weil Benedikt darin angeblich Kondome erlaubt haben soll. Der Vatikan ruderte hernach zurück.
    Derart Skandaltaugliches liefert Franziskus nicht, auf sexualmoralische Belehrungen verzichtet er. Das Leben hat ihn mehr gelehrt als die Moraltheologie, erfährt der Leser. Früher kümmerte er sich nämlich auch um Frauen, die, wie er schamhaft formuliert, "auf die Straße gingen", die sich also prostituierten.
    Er erzählt: "Als ich Rektor am Collegio Massimo dei Gesuiti und Pfarrer in Argentinien war, kam eine Mutter mit kleinen Kindern zu mir, die von ihrem Mann verlassen worden war. Sie hatte keine feste Arbeit, sondern fand nur hin und wieder einen Job für ein paar Monate im Jahr. Wenn sie keine Arbeit fand, ging sie auf die Straße, um ihren Kindern etwas zu essen geben zu können. Sie war eine demütige Frau, ging regelmäßig in die Kirche.... Man rief mich, und ich habe sie empfangen. Sie war gekommen, um mir zu danken. Ich glaubte, es gehe ihr um das Lebensmittelpaket, das wir ihr über die Caritas hatten zukommen lassen. 'Haben Sie es bekommen?', fragte ich sie. Und sie: 'Ja, ja, ich danke Ihnen auch dafür, aber vor allem wollte ich mich bedanken, weil sie nie aufgehört haben, mich respektvoll 'Signora' zu nennen."
    Die Moral von dieser Geschicht: Jeder Mensch hat es verdient, mit Takt behandelt zu werden. Eigentlich selbstverständlich. Aber wenn ein Papst so eindringlich für Barmherzigkeit werben muss, verweigert ihm ein Teil des Bodenpersonals offenbar hartnäckig den Gehorsam. Franziskus vollbringt das Wunder, mit watteweichen Gedanken anzuecken.
    Papst Franziskus: "Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornielli." Kösel Verlag, 128 Seiten, 16,99 Euro