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Paradoxes Hormon
Testosteron macht aggressiv, aber auch großzügig

Dass das Sexualhormon Testosteron zu Aggressionen und antisozialem Verhalten führt, ist ein Allgemeinplatz. Dass auch pro-soziales Verhalten von dem Geschlechtshormon herrühren kann, weniger. Ein internationales Forscherteams kommt nun zu dem Ergebnis: Beides stimmt.

Von Michael Gessat | 04.11.2016
    Russische Abgeordnete prügeln sich im Parlamentssaal
    Das Klischee kennt jeder: Testosteron sorgt für aggressives Verhalten, doch wie viel ist dran? (dpa / Ria Novosti)
    Männer sind das aggressive Geschlecht. Und sexueller Triebstau oder ein Testosteron-Überschuss führen quasi zwangsläufig zu riskantem, unempathischem Verhalten, zu körperlicher Gewalt und Krieg. Diese Sichtweise ist zwar nach wie vor recht populär – in der Wissenschaft ist man aber seit geraumer Zeit einen Schritt weiter.
    Zweifellos existieren eine ganze Reihe von Studien, die tatsächlich einen Zusammenhang von Testosteron und aggressivem Verhalten nachweisen – und zwar nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Affen und Vögeln. Aber da gibt es ein gravierendes methodisches Problem, sagt Jean-Claude Dreher vom Institut für Kognitionswissenschaft im französischen Bron:
    "Die Hypothese, wonach Testosteron bei Menschen aggressives Verhalten hervorruft, stützt sich nur auf indirekte Beweise. Bei den sogenannten qualitativen Studien messen Sie den Testosteronspiegel von Individuen und versuchen den in Beziehung zu setzen zu dem Verhalten, das Sie beobachten. Es gab da zum Beispiel eine Studie an inhaftierten Gewalttätern – aber der Nachweis, dass der Einfluss von Testosteron auch wirklich kausal ist, der fehlt bislang."
    Dreher und seine Kollegen setzten deshalb auf einen verhaltensökonomischen Klassiker: Das Ultimatum-Spiel, allerdings in einer leicht modifizierten Variante, mit folgenden Regeln: Spieler A hat einen bestimmten Geldbetrag und bietet einen Teil davon Spieler B an. Dieser wiederum kann das Angebot annehmen oder ablehnen. Und anschließend entweder nichts tun oder reagieren: Fand er das Angebot von Spieler A zu mickrig, kann er ihm eine Geldstrafe aufbrummen. Fand er es großzügig, kann er Spieler A einen Bonus gewähren. Beide Reaktionen sind für Spieler B mit einem eigenen finanziellen Einsatz verbunden, schmälern also seinen Gewinn.
    Testosteron spielt eine Rolle beim prosozialen Verhalten
    Den Wissenschaftlern ging es allein um das Verhalten der Empfänger, der Spieler B – die 40 Versuchspersonen hatten nämlich vor dem Experiment entweder Testosteron oder aber ein Placebo gespritzt bekommen. Das Resultat nach zahlreichen Spielrunden war eindeutig: Spieler, die Testosteron erhalten hatten, bestraften und belohnten häufiger als Spieler aus der Placebogruppe. Jean-Claude Dreher:
    "Testosteron spielt also nicht nur eine Rolle bei dem, was man als 'reaktive Aggression' bezeichnet, sondern auch beim prosozialen Verhalten. Es verstärkt offenbar großzügiges Verhalten gegenüber Personen, die nett zu Ihnen waren; und es verstärkt Vergeltung oder Aggression, wenn eine Person Sie zuvor unfreundlich oder unfair behandelt hat."
    Das passt sehr gut zu dem, was ein Wissenschaftlerteam um den Verhaltensökonomen Armin Falk von der Uni Bonn in einem ähnlichen Spiel-Experiment herausgefunden hatte. Der Hauptautor war damals Matthias Wibral von der Universität Maastricht:
    "Unsere Studie aus dem Jahr 2012 ist ja die erste, die gezeigt hat, das Testosteron prosoziales Verhalten fördern kann. Bei uns war das ja so, dass die Probanden, die Testosteron erhalten haben, weniger auf Kosten anderer gelogen haben als die Mitglieder einer Placebo-Gruppe."
    Testosteron hat also zwei Gesichter. Aber wie lassen sich die paradoxen Wirkungen des männlichen Geschlechtshormons evolutionsgeschichtlich erklären? Matthias Wibral tendiert zu einer ähnlichen Interpretation wie das Team um Jean-Claude Dreher: Testosteron fördert das Streben nach Status.
    "Das Schöne an dieser Studie ist, dass es die Hypothese testet: Wenn Testosteron wirklich das Streben nach Status fördert, dann sollte die Gabe von Testosteron je nach Kontext aggressives oder prosoziales Verhalten fördern, je nach dem, was halt gerade mehr Status bringt."
    Völlig bewiesen ist diese Theorie noch keineswegs, sagt Wibral. Andere Hypothesen lauten: Testosteron fördert die Durchsetzung von sozialen Normen. Oder führt schlicht dazu, vorhandene Aktionstendenzen in die Tat umzusetzen.
    "Dieser Einfluss von Testosteron auf Verhalten ist eine unglaublich komplizierte Geschichte, wir sind da erst ganz am Anfang, das zu verstehen."