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Paragraf 217
"Es gibt auch einen Fetisch der Selbstbestimmung"

Aus den Kirchen kam deutliche Kritik an der Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Sterbehilfe. Ulrich Lilie, evangelischer Theologe und Präsident der Diakonie, will das Urteil nicht in Bausch und Bogen verdammen. Doch er warnt vor möglichen "furchtbaren Mechanismen" der Marktlogik.

Ulrich Lilie im Gespräch mit Benedikt Schulz | 28.02.2020
Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie
Das tiefe Wissen, dass auch schwache und kranke Menschen ihre unverletzliche Würde behalten, sollte eine Gesellschaft, die immer älter, wird, hochhalten, forderte der Theologe Lilie im Dlf (picture alliance /dpa /Arno Burgi)
Benedikt Schulz: Auf der Seite der scharfen Kritiker der Karlsruher Entscheidung zum Paragrafen 217 sind nicht nur, aber auch die Religionsgemeinschaften zu finden sind. Deren zentrales Argument eben der vermutete Dammbruch ist. Einer der Kritiker ist Ulrich Lilie. Er sagte: "In einer immer älter werdenden Gesellschaft steigt der finanzielle Druck auf den Gesundheitssektor ebenso wie der soziale Druck auf die kranken Menschen. Sie dürfen angesichts ihres Leidens keinesfalls als Last für die Gesellschaft abgestempelt und gedrängt werden, auf medizinische Maßnahmen zu verzichten, weil sie denken, dass ihre Behandlung zu teuer ist für die Angehörigen." Ulrich Lilie ist evangelischer Theologe und Präsident der Diakonie Deutschland und er ist am Telefon. Ich grüße Sie.
Ulrich Lilie: Hallo, ich grüße Sie auch, Herr Schulz.
Schulz: Ein wichtiges Argument habe ich schon genannt, gerade der sogenannte Dammbruch, der befürchtet wird. Was denken Sie denn, was passiert?
Lilie: Ich habe selber nicht von Dammbruch geredet. Wir haben in solchen Debatten schnell die Neigung zum Schwarz-Weiß. Aber wir reden hier wirklich über einen Graubereich. Ich habe dieses Urteil auch nicht in Bausch und Bogen verurteilt. Ich habe gesagt: Wir müssen jetzt mit den Aufgaben, die uns dieses Urteil stellt, sehr genau aufpassen, dass wir in einer Marktgesellschaft - Michael Sandel spricht von einer Marktgesellschaft, in der wir alle inzwischen gerne Geld zahlen, um auf der Überholspur zu fahren -, dass das nicht sozusagen zu furchtbaren Mechanismen führt, dass Leute selber sagen: Ich bin jetzt ja nichts mehr wert. Ja, das geht schneller, als wir uns das selber vorstellen wollen, dass eine Gesellschaft, die so tickt, auf einmal Normen und Werte ausruft, die die Leute internalisieren und dann selbst sozusagen zu ihrem schärfsten Richter, wenn nicht zum Scharfrichter werden. Und da müssen wir sehr aufpassen.
"Humanere und menschenfreundlichere Möglichkeiten als Suizid"
Schulz: Wenn Sie aber mit einem eher pessimistischen Menschenbild oder einem pessimistischen Gesellschaftsbild argumentieren, jetzt wirtschaftlich ökonomisch argumentierend, müsste es doch er genau andersherum sein. Rein ökonomisch gedacht, ist es eher wirtschaftlich von Vorteil, Patientinnen und Patienten möglichst lange mit einträglichen Maßnahmen am Leben zu erhalten.
Lilie: Das ist eine Frage der Allokation, der Mittel. Also wir haben eben sehr knappe Mittel in diesem Sektor. Wir wissen, dass wir diese Debatte hier in einem Land führen, in dem uns ungefähr 120.000 Pflegekräfte fehlen, wie gerade ein Gutachten gesagt hat. Ich finde eine Stärke dieses Urteils, dass es das Selbstbestimmungsrecht stark macht. Mir liegt sehr daran, dass Menschen unter den Bedingungen sterben können, die sie sich selber wünschen und dass die Selbstbestimmung bis zum Schluss des Lebens wirklich gewährleistet ist.
Schulz: Aber damit gehen Sie ja auf zumindest vorsichtige Distanz zum Positionspapier der EKD gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz. Denn da ist das Selbstbestimmungsrecht eher zweitrangig im Vergleich zum Schutz des Lebens als anderem Rechtsgut.
Lilie: Ja, ich habe ja sowohl in meinem Statement wie auch in meinem Blog hier etwas differenzierter argumentiert. Ich glaube, dass man das Selbstbestimmungsrecht an diesem Punkt insofern ernst nehmen muss, als wir - das ist auch wirklich meiner beruflichen Erfahrung geschuldet - hier über Menschen sprechen, die immer in einem asymmetrischen Kräfteverhältnis sind. Die liegen im Bett, die sind angewiesen - und ich glaube, das hat das Gericht auch wirklich beschäftigt - darauf, dass ihnen dann jemand in ihrer Not hilft.
Die zweite Frage ist dann: Ist wirklich der assistierte Suizid der richtige Ausweg? Da würde ich sagen, da haben wir wirklich inzwischen sehr viel humanere und menschenfreundlichere Möglichkeiten, Menschen vor schlimmsten Schmerzen oder vor schlimmsten Entstellungen oder Anderem abzuschirmen. Stichwort palliative Sedierung - das ist die Diskussion, die wir führen müssen. Ich glaube, dass wir ganz prinzipiell mit einer Kritik am Selbstbestimmungsrecht nicht weiterkommen.
"Biblische Tradition sieht das Leben als Geschenk"
Schulz: Die Evangelische Kirche in Deutschland, aber auch die Deutsche Bischofskonferenz machen es sich dann offensichtlich etwas leichter.
Lilie: Das will ich jetzt gar nicht sagen. In unserer biblischen Tradition ist der Stellenwert des Lebens als Geschenk, das uns nicht gehört, das uns auch selbst entzogen ist - das ist etwas, was wirklich ein tiefes und profundes Wissen ist. Dass Leben geschenktes Leben ist, dass die Selbstbestimmung natürlich auch erst mal ein Postulat ist, ist in einem anderen Sinne sehr richtig. Vielleicht kennen Sie das aus ihrem eigenen Leben auch, dass sie manche Entscheidungen getroffen haben, von der Sie gesagt haben: 'Naja, bei Licht betrachtet ist das nicht das Beste, oder? Da war ich nicht richtig Herr meiner Sinne, als ich das gemacht habe. Darum wissen die biblischen Erzählungen und das Postulat, dass wir in allen Dingen frei entscheiden, das hat dann bei Licht betrachtet natürlich auch eine ganze Menge Schatten.
Schulz: Ich habe das Gefühl, dass die christlichen Kirchen in Deutschland bislang nicht in der Lage sind, eine Begründung gegen den assistierten Suizid zu finden, die bei einer Mehrheit der Bevölkerung auch verfängt. Eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist ja durchaus der Meinung, dass es diese Möglichkeit geben sollte.
Lilie: Ja, es gibt auch Untersuchungen, dass die Mehrheit für die Einführung der Todesstrafe ist. Also vorsichtig mit solchen rein demoskopischen Argumenten. Ich glaube wirklich, hier geht es um sehr komplexe ethische Fragen, die wir noch mal nicht im luftleeren Raum diskutieren, sondern in einer Gesellschaft, in der Großartigkeit, gutes Auftreten, Fitness, Jugendlichkeit als die Werte vorgegaukelt werden. Und wenn man dann krank, behindert, dement oder was anderes ist, dann kommt sehr schnell die Geschichte, dass man sagt das ist kein lebenswertes Leben mehr, da gebe ich mir doch lieber die Kugel.
"Leben ist immer verletzlich"
Schulz: Das wird ja immer behauptet, aber haben Sie dafür Belege?
Lilie: Ja. Wir hatten in der letzten Diskussion, also 2015, viele Beispiele von großartigen Menschen, die in ihrer Großartigkeit dann eben gesagt haben: Also das will ich auf keinen Fall erleben. Wenn das das gesellschaftliche Leitbild wird, dann bin ich ganz auf der Seite der Kirchen zu sagen: Da haben wir um der Menschen Willen erhebliche Kritik, weil das Leben ist immer verletzlich, gerade das verletztliche Leben. Wir sind jetzt gerade am Beginn der Passionszeit, in der wir den leidenden Gott predigen und feiern, uns zu dem bekennen, der das Leiden als eine Seite des Lebens anerkennt, die göttliche Dignität genießt. Das macht einen ganz tiefen und ein ganz humanen Sinn. Das weiß jeder Mensch, der selber gelitten hat. Das deutlich zu machen und zu sagen, das gehört auch zum Leben. Ohne dass man damit sagt: Jeder muss jetzt Leiden aushalten, das vermeidbar ist. Das wäre ein fataler Trugschluss. Das sagt aber auch keiner in den Kirchen.
Schulz: Aber trotzdem: So etwas wie göttliche Dignität reicht es denn als argumentative Begründung aus?
Lilie: Das tiefe Wissen, dass zum menschlichen Leben das unvermeidbare Leiden dazugehört und dass das auch zur Würde des Menschen gehört, dass er schwach und krank auf Hilfe angewiesen sein kann, ohne dass er damit seine unverletzliche Würde verliert, sondern damit einen Respekt verdient und allen Anspruch auf alle menschliche Hilfe und Unterstützung hat. Das hochzuhalten halte ich für eine humane Gesellschaft, die immer älter wird, wirklich für ein ganz hohes kulturelles Gut. Das hochzuhalten sind die Kirchen, sind wir aber auch, glaube ich, sehr gut beraten. Die Debatte sollten wir nicht scheuen. Es gibt auch einen Fetisch der Selbstbestimmung in dieser Debatte, der wirklich auch einer realistischen Überprüfung nicht standhält.
"Wir sind als Kirche berufen, dazu etwas zu sagen"
Schulz: Sie nennen es jetzt kulturelles Gut. Man könnte es auch umdrehen und sagen: Die christlichen Kirchen in Deutschland beanspruchen über einen Bereich, der sich individueller ja kaum denken lässt, nämlich der menschliche Bereich, das Leben, sie beanspruchen darüber Deutungshoheit.
Lilie: Also, ich glaube, sie beanspruchen zu recht, dass sie dazu etwas Fundamentales zu sagen haben, was in einer offenen und freien Gesellschaft Gehör verdient, diskutiert werden muss. Aber wir leben ja in einer Gesellschaft, in der Staat und Kirche längst getrennt sind. Dieses Urteil ist ja wirklich ein Beweis dafür, dass das da niemand was diktiert, dass die Kirche eine Stimme unter vielen ist. Es ist völlig in Ordnung, dass die Kirchen sich so äußern mit dem, was sie sozusagen in diese Diskussion einzubringen haben und dass andere andere Argumente einbringen. Dann werden wir in dieser offenen Gesellschaft zu neuen Lösungen kommen. Das steht ja jetzt an, weil der Gesetzgeber jetzt wieder neu gefragt ist.
Schulz: Dass die Kirchen sich äußern, stellen wir natürlich nicht in Frage. Stehen die christlichen Kirchen nicht am Rand einer Gesellschaft, in der solche Argumente nicht mehr so verfangen?
Lilie: Ich finde es unabhängig, wieviele Mitglieder in Deutschland noch Mitglied einer christlichen Kirche sind, sind wir als Kirchen sehr gut berufen, das, was wir zu bestimmten Themen zu sagen haben, in die Debatten einzubringen. Es ist völlig in Ordnung, dass das jetzt nicht mehr automatisch Mehrheitsmeinung von allen ist. Damit müssen wir, glaube ich, in aller Demut lernen zu leben. Ich stehe für eine streitbare, dialogfähige und auch lernbereite Position. Die habe ich versucht, deutlich zu machen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.