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Paralympics in Tokio
"Emotionale Pornographie"

Mit den Paralympics hat der Tokioter Sportsommer sein Ende gefunden. Die Spiele des Behindertensports, die vielen in Japan sympathischer waren als Olympia, sollten das Land verändern. Und vielleicht sogar ein paar in diesem Sommer entstandene Wogen glätten. Das klappte nicht bei allen Beteiligten.

Von Felix Lill | 05.09.2021
Feuerwerk bei der Abschlussfeier der Paralympischen Spiele
Feuerwerk bei der Abschlussfeier der Paralympischen Spiele (Yomiuri Shimbun/ap/dpa/picture-alliance)
So groß waren die Paralympischen Spiele noch nie. Mindestens 4,25 Milliarden Menschen in rund 150 Ländern haben die größte Behindertensportveranstaltung der Welt im TV gesehen. Auch mit den ungefähr 4.400 Sportlerinnen und Sportlern, die nach Tokio reisten, wurde ein Rekord erreicht. Trotz Pandemie haben die Paralympics ihren jahrelangen Wachstumskurs fortgesetzt.
Und das in Japan, das bisher nicht gerade als Hochburg des Parasports bekannt war. Im ostasiatischen Land sollten die Paralympics für mehr Diversität sorgen. Die Barrierefreiheit sollte verbessert und die Sichtbarkeit von Menschen mit einer Behinderung erhöht werden.

Erfolg aus Sicht der Veranstalter

Die Animesendung "Anipara", die Japans öffentlicher Rundfunksender NHK im Vorfeld der Spiele ausstrahlte, hat einen kleinen Beitrag geleistet. Die Serie richtet sich an Kinder und stellt mit coolen Protagonisten den Parasport vor. Während der Spiele übertrug NHK dann rund 600 Stunden Livesport – ein historischer Rekord für ein Gastgeberland. Und im Studio saßen diverse Experten – mit diversen Behinderungen.
Auf blauem Untergrund mit dem weißen Schriftzug Tokio liegen ein Rucksack, ein Handtuch, Schwimmkleidung und zwei Beinprothesen. 
Sportangebote für Menschen mit Behinderung - "Die Scheu der Vereine muss fallen"
In vielen Sportvereinen wird Menschen mit Behinderung kein Angebot gemacht. Dominic Holschbach vom Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Rheinland-Pfalz berät Vereine, die das ändern wollen. Ein niederschwelliges Angebot sei wichtig, sagt der Experte im Dlf.
Ein Erfolg also? Das Internationale Paralympische Komitee sowie das lokale Organisationskomitee haben das immer wieder betont. Kritiker sehen es anders. Zu den prominentesten gehört Hiroki Ogasawara, Soziologieprofessor an der Universität Kobe:
"So, wie die Spiele im TV präsentiert wurden, war es in großen Teilen emotionale Pornographie. Die Athleten wurden mit ihren persönlichen Geschichten angereichert. Das war zu viel Storytelling, der Sport stand oft nicht im Mittelpunkt. Ich denke, das liegt daran, dass man den Sport allein für nicht interessant genug hält. Also brauchen sie diese Geschichten, um die Veranstaltung attraktiver zu machen. Und die Botschaft ans Publikum ist: 'Sieh hin, sogar die können das! Dann kannst du das auch!' Diese Darstellung gefällt mir nicht. Natürlich können die Athleten das besser als wir Zuschauer. Sie sind Athleten."

"Ironie durch Idealisierung der Paralympics"

Neben diesem voyeuristischen Aspekt, den Ogasawara in der Inszenierung der Paralympics sieht, bestehe im Vergleich zu den Olympischen Spielen noch ein weiterer Unterschied:
"Durch diese ganze Emotionalisierung entsteht eine bestimmte Ironie. Die Paralympics werden nämlich auf eine Weise zum Idealbild der Olympischen Spiele. Plötzlich sind die Medaillen gar nicht mehr so wichtig, stattdessen geht es ums Dabeisein. Das zählt bei Olympia ja schon lange nicht mehr. Da geht es vor allem ums Gold."
Diese vermeintliche Reinheit, die die Paralympics auszeichnet, sollte in diesem Sommer auch dem angekratzten Image der Olympischen Spiele helfen. Die Opposition gegen die Austragung inmitten der Pandemie war vor den Olympischen Spielen groß. An den Paralympics gab es anfangs weniger Kritik.

Hörbare Kritik an COVID-Behandlung eines Para-Sportlers

Aber das änderte sich bald. Denn die Infektionsquote unter den Teilnehmern der Paralympics war schon zur Halbzeit in etwa so hoch wie bei Olympischen Spielen zum Ende. Wie dicht die Blasen, die die Teilnehmer der Sportveranstaltungen von der japanischen Bevölkerung isolieren sollten, wirklich gewesen sind, ist weiter umstritten. Jedenfalls hat sich die Pandemielage in Japan deutlich verschärft.
Kurz vorm Paralympicsstart machte der Fall einer hochschwangeren Frau Schlagzeilen, die wegen der Krankenhausüberlastung wieder nachhause geschickt worden war, wo ihr Kind dann bei der Geburt starb. Am Donnerstag berichtete dann der TV-Sender Asahi Terebi mit hörbarer Schärfe im Ton:
"Am 2. September wurde ein Sportler der Paralympischen Spiele, der mit dem Coronavirus infiziert ist, ins Krankenhaus eingeliefert. Die Nationalität und die Sportart wurden nicht erklärt. Aber die Situation soll nicht kritisch sein."

"Öffentliche Unterstützung könnte schwinden"

Heikel war die Nachricht deshalb, weil Japans Premierminister Yoshihide Suga einen Monat früher verkündet hatte, es würden nur noch Patienten mit schweren Covid-19-Symptomen in die Krankenhäuser aufgenommen. Außerdem wurde betont, die Olympischen und Paralympischen Spiele würden auf keinen Fall das japanische Gesundheitssystem belasten. Dass dann ein Athlet ohne schwere Symptome in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, offenbarte das Gegenteil.
Solche Sonderregeln und Widersprüche haben dazu beigetragen, dass sich die Olympischen und Paralympischen Spiele bei jeder politischen Couleur in Japan Feinde gemacht haben. Es sind nicht nur Kapitalismuskritiker wie Hiroki Ogasawara, die sich beschweren. Auch die konservative Politikkommentatorin Lully Miura, die eigentlich für die Veranstaltung war, äußert nun Zweifel:
"Ich habe eigentlich nichts gegen extravagante Veranstaltungen. Aber die Organisatoren müssen sich schon zurückhalten. Dass zum Beispiel der IOC-Präsident Bach ins Land kam und dann in einer Presidential Suite untergebracht wurde, war unangemessen. Solche und ähnliche Sachen kamen den ganzen Sommer über mehrfach vor. Außerdem wurden die Spiele ja sehr viel teurer als erwartet. Und dann kann ich mir vorstellen, dass die öffentliche Unterstützung für die Veranstaltung irgendwann schwindet."

Sapporo 2030 scheint fraglich

Nach den Olympischen und Paralympischen Spielen von Tokio, die voll von Kontroversen waren, will sich nun die nordjapanische Metropole Sapporo um die Winterspiele 2030 bemühen. Das IOC hat vor zwei Jahren angekündigt, dass in Zukunft auch eine Volksabstimmung zu den Bewerbungsunterlagen gehören soll. Sofern sich IOC und IPC an diese Ankündigungen halten, ist ungewiss, ob die japanische Bevölkerung so bald nach "Tokyo 2020" schon ein "Sapporo 2030" will. Die Nachrichtenagentur Kyodo schrieb zuletzt jedenfalls:
"In Japan könnten die Spiele öffentlichen Zuspruch verlieren."
Tokyo Olympic torch relay Japanese Prime Minister Yoshihide Suga speaks to reporters at his office in Tokyo on March 25, 2021, alongside Tokyo 2020 Olympic and Paralympic mascots, Miraitowa and Someity. The torch relay for the Tokyo Games started the same day in Japan s northeastern prefecture of Fukushima. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY
Rückzug von Japans Premierminister - Geht Suga auch wegen Olympia?
Japans Ministerpräsident Yoshihide Suga gibt nach monatelanger Kritik überraschend sein Amt auf. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung sei momentan sehr gering und so habe seine Partei die Notbremse gezogen, sagte der Japanologe Christian Tagsold im Dlf. Auch Olympia hat daran einen Anteil.
Am Freitag, noch während der Paralympischen Spiele, kündigte dann Premierminister Yoshihide Suga seinen Rückzug aus der Regierung an. Inmitten der Pandemie hat ihn dieser Sportsommer nicht beliebter gemacht, sondern unbeliebter.