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"Pardon wird nicht gegeben"

Mit dieser markigen Parole schickte Kaiser Wilhelm II. seine Kriegsflotte nach China. Der Beginn einer kolonialpolitischen Episode, die hierzulande kaum bekannt ist. In seinem neuen Buch beschreibt Gerhard Seyfried das China der Kolonialzeit – mit einer Detailversessenheit, in der man seine Vergangenheit als Comic-Zeichner erkennt.

Von Christel Wester | 05.08.2008
    "Diskussionen will ich damit nicht anstoßen, ich bin etwas bescheidener und will nur berichten, so gut ich’s berichten kann, was damals passiert ist. Das Interesse ist allerdings sehr groß an der Zeit, auch bei mir. Es gibt bei mir z. B. eine gewisse Überfütterung mit Zweiter Weltkrieg, Nazizeit und Holocaust. Dass bei mir immer die Frage hochgekommen ist, was war eigentlich vorher, was hat dazu geführt?"

    Die Vorgeschichte beginnt für Gerhard Seyfried Ende des 19. Jahrhunderts, als das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. anfing, sich am Wettlauf der Industriestaaten um die Aufteilung der Erde zu beteiligen. Nach seinem ersten Kolonialroman "Herero" über den Aufstand der namibischen Bevölkerung gegen die deutsche Fremdherrschaft widmet er sich in "Gelber Wind" dem Boxerkrieg in China, der im Jahre 1900 stattfand und an dem internationale Truppen von insgesamt acht Kolonialmächten beteiligt waren. Damit greift Gerhard Seyfried ein hierzulande kaum bekanntes Kapitel deutscher Geschichte auf. Dabei wirkt gerade diese kolonialpolitische Episode immer noch in unseren Alltag hinein – allerdings weitgehend losgelöst von den historischen Ereignissen, gewissermaßen wie Partikel eines Mythos. Da ist vor allem die Rede, die Kaiser Wilhelm II. bei der Entsendung der Kriegsflotte nach China hielt und in der er die Soldaten zu möglichst brutalem Vorgehen anhielt: "Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht", lautete das Motto, das er ausgab. Wie vor tausend Jahren die Hunnen sollten sich nun auch die Deutschen einen Namen machen. Das war die legendäre "Hunnenrede".

    "Die uns den schönen Namen "Hunnen" eingebracht hat, mit dem uns die Engländer gerne bedenken, wenn sie ein Fußballspiel verlieren. Das wirkt jetzt seit 108 Jahren."

    Ebenfalls seit über 100 Jahren wirkt ein Befehl fort. Er kam von dem britischen Admiral Seymour, der die internationale Truppe anführte, die aus Briten, Franzosen, Russen, Italienern, Österreichern, Japanern, Amerikanern und Deutschen bestand: "Germans to the front", lautete dieser Befehl.

    "Ja, das ist aktuell, das ist uns auch gerade wieder um die Ohren gehauen worden von unseren Nato-Partnern, weil wir uns in Afghanistan und anderen Schauplätzen nicht genug militärisch engagieren."

    In die deutsche Geschichtsschreibung ist dieses "Germans to the front" als regelrechter Heldenmythos eingegangen, der sich lange gehalten hat, die historischen Tatsachen aber verfälscht.

    "Das ist in Deutschland aufgeblasen worden, als wäre Deutschland an die Spitze der ganzen Menschheit kommandiert worden und hat entsprechendes Missfallen bei den anderen Nationen erregt. Tatsächlich war es eine ganz normale militärische Ablösungsmaßnahme. Die vorher an der Spitze waren, waren erschöpft, also hat Admiral Seymour die Deutschen an die Spitze gestellt, das war alles. "

    Und Tatsache ist auch, dass das Deutschen Reich sich nur mit einer kleinen Truppeneinheit beteiligte, die damals in Ostasien stationiert war. Die 20.000 Soldaten, die Kaiser Wilhelm II. mit seiner "Hunnenrede" auf den Weg geschickt hatte, trafen erst ein, als der Boxeraufstand weitgehend niedergeschlagen war. Dann allerdings beteiligten sich die Deutschen mit erheblicher Brutalität an den Rachefeldzügen, die man damals Strafexpedition nannte. Gerhard Seyfried hat penibel recherchiert. Aber da er kein Sachbuch, sondern einen Roman geschrieben hat, hat er natürlich auch erfunden.

    "Ich hab vier Protagonisten erfunden, die waren nötig, um die wichtigsten Schauplätze abzudecken. Der eine ist ein Seeoffizier beim damaligen deutschen ostasiatischen Geschwader. Zwei Personen sind in Peking, das ist die Privatlehrerin Arletta Lind, die für einen Kaufmann in Tsingtau arbeitet, und der deutsche Pressekorrespondent Ferdinand Roeder, das sind frei erfundene Personen. Und die vierte Person ist SPD-Reichtagsabgeordneter in Berlin, den ich brauche, dass da jemand ist, der den Kaiser und seine Äußerungen irgendwie direkt mitkriegt."

    1897 besetzen deutsche Truppen die Bucht Kiautschou in der chinesischen Provinz Schantung und 1898 trotzt das Deutsche Reich der chinesischen Regierung ein sogenanntes "Pachtgebiet" ab. Die Hafenstadt Tsingtau wird als deutsche Handelsniederlassung errichtet. 99 Jahre lang soll das Gebiet unter deutscher Hoheit stehen. Zu diesem Zeitpunkt hat sich bereits eine chinesische Widerstandsbewegung gegen die imperialen Mächte formiert. Die Situation eskaliert, als am 20. Juni 1900 der deutsche Gesandte in Peking, Freiherr Clemens von Ketteler, auf offener Straße erschossen wird. Internationale Truppen werden nach Peking beordert, auf ihrem Weg dorthin werden sie in Kämpfe verstrickt, das Gesandtschaftsviertel in Peking ist von Aufständischen belagert. Minutiös rekonstruiert Gerhard Seyfried die 55 Tage, die diese Belagerung dauert. Dabei erzählt er aus unterschiedlichen Perspektiven: Aus der eher unpolitischen der Lehrerin Arletta Lind, die allerdings allmählich ihre Naivität verliert und beginnt die Deutschen in China kritisch zu betrachten. Dann aus der des Pressekorrespondenten Ferdinand Roeder, der Karriere machen will und darum vornehmlich das berichtet, was an der Heimatfront genehm ist. Von dem Marsch der internationalen Truppen auf Peking, der alles andere als geordnet verläuft, berichtet der Seeoffizier Max von Reichenow. Eine Kaiser-kritische Position wiederum übernimmt der SPD-Abgeordnete Janus Ballhaus in Berlin. Diese vier Protagonisten sind ein Amalgam aus verschiedenen Persönlichkeiten der damaligen Zeit. Im Roman hat Gerhard Seyfried sie durch ein lockeres Beziehungsnetz miteinander verbunden. Und dem Genre des historischen Roman entsprechend gibt es natürlich auch Liebesgeschichten und sogar eine Kindesentführung. Diese Episoden sind jedoch nichts weiter als Garnitur, denn am Seelenleben seiner Figuren ist der Autor nur mäßig interessiert.

    "Mir geht es in aller erster Linie um die Darstellung der Historie, das ist das Hauptziel, das ich habe und dem sich auch die Protagonisten unterwerfen müssen. Ich lasse meine Protagonisten auch nichts machen, was den Ablauf der Historie verfälscht oder verändern würde. Ich würde sagen, ich gehe verhalten mit der Psychologie meiner Protagonisten um. Natürlich ist etwas da und sie machen sich Gedanken und haben Gefühle und so. Ich will aber nicht, dass das dominiert."

    Die Protagonisten sind Prototypen, die damals verbreitete Haltungen und Denkarten verkörpern. Ihre psychologische Motivation ist nicht das, was den Reiz der Lektüre ausmacht. Faszinierend ist dagegen die Detailversessenheit, mit der sich Gerhard Seyfried den historischen Ereignissen nähert. Da erkennt man im Schriftsteller den Zeichner. Jedem Uniformknopf und jedem Damenhut schenkt er genauso viel Aufmerksamkeit wie der Ausstattung von Räumen, den Windungen der Pekinger Gassen und den Diners in den Gesandtschaften der Kolonialmächte. Seine Beschreibungen haben eine ungeheure optische Opulenz.

    "Die kommt zum großen Teil aus Fotografien. Ich habe sehr, sehr viele Fotografien gefunden aus dem Jahr 1900, da haben offensichtlich viele Leute fotografiert damals. Und ich habe natürlich auch Fotografien, Filme und Fernsehbeiträge über das jetzige China gesehen in Farbe und konnte mir ein schönes atmosphärisches Bild von der Landschaft, von der Stadt machen, wobei in Peking keine Spuren der damaligen Zeit mehr übrig sind, außer dem Kaiserpalast, der weniger interessant ist."

    Weil kaum Spuren der Vergangenheit erhalten sind, ist Gerhard Seyfried nicht in China gewesen. Er entschied sich für eine Zeitreise mittels historischer Dokumente.

    "Recherchieren und Schreiben vermengt sich, der ganze Prozess hat vier Jahre gedauert. Und ich habe unter anderem im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes den ganzen Telegrafieverkehr zwischen Peking und dem Auswärtigen Amt gefunden von damals. Ich habe sehr viele Akten gelesen aus der Zeit, alle in Sütterlinschrift. Und das Deutsche Historische Museum hat mich sehr unterstützt in Berlin mit Kartenmaterial, mit amtlichen Büchern, die damals herausgegeben wurden danach."

    Gerhard Seyfried hat historisches Dokumentarmaterial in seinen Text eingearbeitet: Er zitiert aus Telegrammen, Briefen, Tagebüchern und Zeitungsartikeln. Das verleiht seinen detaillierten Schilderungen zusätzliche Authentizität. Und da er sich völlig auf die damalige deutsche Sicht der Ereignisse konzentriert, gelingt es ihm, ein Stück Mentalitäts- und Bewusstseinsgeschichte darzustellen. Und er hat einen Anti-Kriegsroman geschrieben. Akribisch wie ein Militärhistoriker schildert er die Schlachten, geht aber wie mit einem Zoom ganz ran an die Kampfhandlungen und verletzten Körper. Und vor allem gegen Ende des Romans gibt es einige schockierende, in fotorealistischem Stil beschriebene Massaker an der chinesischen Zivilbevölkerung. Auch wenn die Romanhandlung ein hölzernes Gerüst bleibt, so hat Gerhard Seyfried sein Recherchematerial doch gekonnt ausgewertet.


    Gerhard Seyfried: Gelber Wind oder Der Aufstand der Boxer
    Roman
    Eichborn 2008
    643 Seiten, 29.95 Euro