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Parlamentswahl in Spanien
Die Sorgen im Arbeiterviertel

Auch wenn die Sozialisten von Ministerpräsident Sánchez die Wahl klar gewonnen haben, wird die Regierungsbildung wohl langwierig. Denn die parlamentarische Mehrheit haben die Sozialisten nicht, Zeit für lange Verhandlungen aber eigentlich auch nicht. Die Wähler in den Vororten wollen schnelle Resultate.

Von Hans-Günter Kellner | 29.04.2019
Ministepräsident Sanchez aus Spanien steht auf einer Bühne und feiert seinen Wahlsieg. Links die Fahne seiner sozialistischen Partei.
Die Sozialistische Arbeiterpartei hat die Parlamentswahl in Spanien mit knapp 29 Prozent gewonnen. (JAVIER SORIANO / AFP)
Es ist der traditionelle Tag der Tortilla in Vallecas, dem Arbeiterstadtteil im Süden von Madrid. Hier haben alle schon gewählt. Jetzt sitzen sie bei Omelette und Bier in einem Schrebergarten beisammen. "Hier in Vallecas sind die Leute stolz auf ihr Viertel", sagt Rosa María Pérez. "Wir sind normale Leute. Wir schlagen uns hier so durch." Rosa María Pérez ist die Vorsitzende der Nachbarschaftsvereinigung, die Anwohnerinteressen gegenüber Behörden vertritt. An sie wenden sich ihre Nachbarn zuerst, wenn ihre Kinder keinen Platz an einer öffentlichen Schule finden oder sie zu lange auf einen Arzttermin im Gesundheitszentrum warten müssen. Doch im Wahlkampf war all das kaum ein Thema, sagt sie:
"Die Politiker sprechen lieber über die großen, scheinbar grundsätzlichen Themen als über konkrete Dinge. Das ist ihnen wohl zu lokal. Vielleicht bringen solche Sachen auch weniger Stimmen."
Die große Politik hat sich von den Problemen vieler Wähler entfernt
Nicht nur in Vallecas haben die Menschen darum den Eindruck, dass sich die große Politik weit von ihren Problemen entfernt hat. Ignacio Urquizu glaubt, den Grund dafür zu kennen, er war in der nun zu Ende gegangenen Legislaturperiode zwei Jahre lang Abgeordneter für die sozialistische Partei:
"Viele Politiker und Journalisten sind nie aus der Innenstadt herausgekommen. Sie kennen die Arbeiterstadtteile oder die kleineren Städte in der Provinz nur aus dem Fernsehen. Wir sehen uns morgens im Parlament, später beim Essen und am Abend bei einer Buchvorstellung. Aber dort, wo die einfachen Leute leben, gehen wir nicht hin."
Der 40-Jährige kehrt nicht mehr ins Parlament zurück; er wird an der Madrider Universität wieder Soziologie unterrichten. Über die einfachen Leute hat er ein Buch veröffentlicht: "So sind wir – ein Porträt der gewöhnlichen Leute", hat er es genannt. Der Durchschnittsspanier hat eine geringe berufliche Qualifikation, lebt entweder in den Außenbezirken der Großstädte oder in Städten der Provinz und verdient weniger als 1.500 Euro. Und, so Ignacio Urquizu:
"In den Arbeitervierteln liegt die Quote der Schulabbrecher bis zu 20 Prozent über der in den Vierteln der Besserverdienenden. Die Lebenserwartung ist dort niedriger, weil Krankenhäuser und Gesundheitszentren überlastet sind. Die öffentlichen Dienstleistungen funktionieren schlechter."
Hinzu kommt Angst vor einer digitalen Zukunft. Zu alledem muss der einfache Spanier auch noch den Spott der Medien ertragen: Der Soziologe zitiert Studien, nach denen Menschen mit schlechter beruflicher Qualifikation in Fernsehserien häufiger lächerlich dargestellt werden als Geschäftsleute.
Die rechtsextreme Vox-Partei bekam weniger Stimmen als befürchtet
Dennoch hat sich der Durchschnittsspanier offenbar jetzt nicht massiv für die neue ultrarechte Partei Vox entschieden, sagt Ignacio Urquizu erleichtert. 10 Prozent bekam die Partei, er hatte ein besseres Ergebnis befürchtet:
"Ob Vox ein gutes oder schlechtes Ergebnis hat, hängt ganz klar vom Wahlverhalten der einfachen Leute ab. Sie sind schlechter informiert als die urbanen Besserverdiener, sind aber ideologisch stärker verwurzelt. Sie stehen politisch eher leicht links der Mitte. Das Ergebnis zeigt, dass ihre Ideologie hier eine Brandmauer war, die die Rechtsextremen nicht überwinden konnten."
Doch das muss nicht so bleiben. Ignacio Urquizu will sein Buch als Warnung und als Handlungsanweisung an die neuen Abgeordneten im spanischen Parlament verstanden wissen. Die Politik müsse wieder relevant für die Lebensverhältnisse der Menschen werden, fordert er. Und auch Rosa María Pérez im Madrider Arbeiterviertel Vallecas meint:
"Die Politiker sollten weniger gegenseitig auf sich einschlagen. Sie sind ja schließlich unsere Volksvertreter. Das Wichtige ist nicht der Wettbewerb zwischen den Parteien, es sind die Bedürfnisse der Menschen."