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Parlamentswahl in Tunesien
Tauziehen um die Macht

Der Wahlkampf ist vorbei – der Ausgang noch offen: Wer macht das Rennen im neuen tunesischen Parlament? Der Kampf dürfte sich zwischen dem religiösen und dem weltlichen Lager entscheiden. Bis zum Schluss haben beide Seiten ihre Unterstützer mobilisiert. Die Hälfte der Wähler ist allerdings noch unentschieden – Überraschungen sind möglich.

Von Alexander Göbel | 25.10.2014
    Der Gründer und Präsident der Freien Patriotischen Union in Tunesien, Slim Riahi, grüßt seine Unterstützer während einer Wahlkampfveranstaltung in Mellassine.
    Der Gründer und Präsident der Freien Patriotischen Union in Tunesien, Slim Riahi, auf einer Wahlkampfveranstaltung. (afp / Fethi Belaid)
    Wahlkampfabschluss auf der Avenue Bourguiba in Tunis. Die Flaniermeile im Herzen der Hauptstadt ist voller Menschen und hat sich in einen langgestreckten Basar der tausend Wahlversprechen verwandelt: überall lautstarke Kundgebungen, fahnenschwenkende Anhänger großer und kleiner Parteien verteilen Flugblätter.
    Die islamistische Ennahda lockt mit großer Bühne, lauter Musik, Friedenstauben und einem Feuerwerk. In der verfassungsgebenden Versammlung hatte Ennahda die letzten drei Jahre die Mehrheit, rechnet sich nun wieder Chancen auf einen Sieg aus. Partei-Chef Rached Ghannouchi betont, die Islamisten wollten einen "demokratischen Staat" errichten, eine Regierung der Nationalen Einheit bilden. Verteufelt werden sie vom großen politischen Gegner Nidaa Tounes, der bürgerlich-säkularen Partei von Ex-Premier Beji Caid Essebsi. Der fordert die Tunesier zum "vote utile" auf, zum nützlichen Wählen: Was er damit eigentlich sagen will: Wer nicht für Nidaa Tounes stimmt, verschenkt seine Stimme an Ennahda.
    Die junge Amal will am Sonntag wählen - aber keine dieser beiden Parteien. Von dem oberflächlichen Gezerre um die Macht ist sie enttäuscht. "Wir brauchen keine Ideologen, wir brauchen Leute, die Ahnung von Wirtschaft haben, von sozialer Gerechtigkeit. Wir brauchen kein Blabla, wir brauchen Leute, die für uns arbeiten können. Die verstanden haben: Diese Wahl wird über den Tag hinaus wirken!"
    Soziale Konflikte, politische Krisen, Ermordung von Oppositionellen, der Aufstieg militanter Islamisten: Tunesien hat einiges durchgemacht, seit das Land sich vor fast vier Jahren vom Ben Ali-Regime befreit hat. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, besonders hoch unter den jungen Hochschulabsolventen - manche verkaufen schon ihr Diplom, weil sie es für wertlos halten.
    Viele Wähler sind frustriert
    Schon jetzt wird eine niedrige Wahlbeteiligung vorausgesagt. Der junge politische Analyst Selim Kharrat kann den Frust vieler Wähler verstehen. Aber er macht auch klar: Es geht um viel, um sehr viel, bei dieser Wahl. Tunesien müsse sich jetzt stabile, demokratische Institutionen schaffen, die dann die Verfassung schützen - und Reformen durchsetzen. Der Weg der Revolution sei noch nicht zu Ende: "Was wir haben, ist eine hübsche Verfassung, auf dem Papier sieht das alles gut aus. Aber jetzt geht es darum, diese Verfassung anzuwenden. Es geht darum, Recht und Gesetz umzusetzen, im Sinne der Werte, die diese Verfassung Tunesiens festschreibt. Das ist die eigentliche Herausforderung!"
    Für keines der großen Probleme, sagt die junge Amal mitten in der Menschenmenge auf der Avenue, für keines hätten die Parteien ein Programm, geschweige denn eine Lösung. Stattdessen scheine es nur um die Verteilung der Fleischtöpfe zu gehen. Das habe mit dem Erbe der Revolution nichts mehr zu tun: "Ich wäre froh, wenn es nicht bloß diese beiden Pole gäbe, Tunesien ist mehr als 'nur' Ennahdha oder 'nur' Nidaa Tounes. Aber diese Parteien treiben einen Keil in die Gesellschaft - weil sie es können, weil wir verunsichert sind. Es geht um etwas anderes als die Frage der Religion: Es geht nicht um Rechts oder Links, und nicht um Äußerlichkeiten, es geht um die besten Ideen. Dass ich ein Kopftuch trage, heißt nicht, dass ich politisch konservativ bin. Ich bin ein freier Mensch. Das ist ein Traum für mich. Die Freiheit haben wir uns erkämpft – und das ist wunderbar! Und dann betont Amal noch, dass ihr Name übersetzt nichts Geringeres bedeutet als "Hoffnung". Hoffnung im Plural. Und gerade in diesen Zeiten in Tunesien gefällt ihr das ganz besonders.