Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Gino Vermicelli: „Die unsichtbaren Dörfer“
Partisanen in Italiens Bergen

Der Gründungsmythos der italienischen Republik - Gino Vermicelli erzählt vom idealistischen Kampf der Partisanen im Ossolatal. Die Erfahrungen aus der zeitweiligen Selbstverwaltung flossen in die italienische Verfassung ein.

Von Maike Albath | 30.06.2022
Gino Vermicelli: "Die unsichtbaren Dörfer"
Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Gino Vermicelli: "Die unsichtbaren Dörfer" (Buchcover: Rotpunktverlag / Foto: Mario Dondero)
Der geradlinige Simon, die Hauptfigur in Gino Vermicellis autobiographischem Zeugnis „Die unsichtbaren Dörfer“ und das Alter Ego des Verfassers, kehrt im Frühjahr 1944 nach Italien zurück, um im Ossolatal gegen die deutschen Besatzer und die italienischen Faschisten zu kämpfen. In Frankreich aufgewachsen, beherrscht er den Dialekt der Gegend nicht, was für die Akzeptanz des Widerstands unter den Ortsansässigen wichtig wäre. Aber der charismatische junge Mann, Politkommissar der Gruppe, verschafft sich mit seiner leisen, unaufgeregten Art dennoch Respekt. Für die Partisanen wird er zum Vorbild.
"Dann sagte Simon, ohne jemanden direkt anzusprechen, den Blick ins Tal gerichtet: ,Wenn man sagt, Krieg ist Krieg, meint man damit oft, dass im Krieg alles erlaubt sei. Wenn dem so wäre, glaube ich nicht, dass wir vier alle hier säßen. ,Sicher nicht…´ flüsterte Nella. ,Auch im Krieg muss es eine Moral, eine Ethik geben.´ ,Nur schade, dass die da unten es nicht wissen…´ Emilio deutete auf die im Tal."

Genaue Kenntnis der Berge

Simon, überzeugter Kommunist und politischer Kommissar der Truppe, und der Kommandant Emilio, ein gläubiger Katholik, stehen für bestimmte Prinzipien: Ihr Kampfverband ist zwar hierarchisch gegliedert, aber es gilt Gleichbehandlung. Kaum etwas zählt mehr als die genauen Kenntnisse der Berge, wie sie die Einheimischen besitzen. Jeder übernimmt bestimmte Aufgaben; es herrscht eine gelassene Disziplin. Bei Mahlzeiten stellen sich die Partisanen in einer Schlange an. Simon und Emilio essen als letzte. Lebensmittel, die sie von den Dorfbewohnern bekommen, werden bezahlt. Auch Regelbrüche, wie Gewalt gegen gefangen genommene Faschisten, „die Schwarzen“ genannt, werden geahndet.
"Simon hörte Emilio zu und gab zur Antwort: ,Glaubst du denn nicht, dass der Hauptgrund für das Unrecht die Ungleichheit ist? Schau dir unsere Burschen an! Sie sind besser als die anderen, die Schwarzen, das ist sicher. Und je länger sie hier oben leben, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie sich für Gemeinheiten hergeben. Was hat sie verändert? Deine Reden, meine Reden? Sicher nicht, wir halten ja keine. Sie haben sich verändert, weil sie ein anderes Leben führen.´“
Gino Vermicelli, 1922 in Novara geboren, aber wie sein Held in Frankreich aufgewachsen, verdienter Partisan, später wichtiger Funktionär des Partito Communista und Mitbegründer der linken Tageszeitung Il Manifesto, schrieb sein Buch über die Geschehnisse im Ossolatal knapp vierzig Jahre nach Kriegsende. Vielleicht griff er deshalb zur Genrebezeichnung „Roman“ – es entband ihn von der Pflicht, historisch präzise zu sein.

Kollektives Gedächtnis

Dennoch gehört der Band eher zu der in Italien zentralen Strömung der Memorialistik. Sie war Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses. Italo Calvino sprach davon, dass diese Bücher beinahe anonym aus dem Klima einer bestimmten Epoche entstanden seien. Die Zeugnisse zeichneten sich durch eine große Nähe zur Mündlichkeit aus, man vertraute auf die politische Funktion von Kunst, und im Mittelpunkt stand das Abenteuer des Kampfes.
Eine ambivalentere und komplexere Deutung dieser Umbruchphase, die de facto ein italienischer Bürgerkrieg war, leisteten die auch stilistisch vielfältigeren zentralen Resistenza-Romane: von Italo Calvinos „Wo Spinnen ihre Nester bauen“, erschienen 1947, Beppe Fenoglios „Die 23 Tage der Stadt Alba“ von 1952 und Luigi Meneghellos „Die kleinen Meister“ von 1964. Literarisch kann Vermicelli mit diesen Werken nicht mithalten. Es gebricht ihm an erzählerischen Mitteln, die binäre Konstruktion – ein invalider deutscher Polizist ist von der Rache an Simon besessen – kommt eine Spur zu simpel daher. Dennoch gelingt Gino Vermicelli in „Die unsichtbaren Dörfer“ die packende Schilderung eines asymmetrischen Krieges, der zunächst völlig aussichtslos zu sein schien und dann doch zu einer kurzzeitigen Befreiung des Ossolatals führt.
Die übermächtigen Gegner werden durch die hochmotivierten Partisanen immer wieder verunsichert, es kommt zu Überraschungsangriffen und Anschlägen. Eine der verblüffendsten Wendungen ist, wie eine Truppe georgischer Soldaten, die freiwillig in die Wehrmacht eingetreten war, überläuft.
"Georgier wollen nicht Partisanen bekämpfen", sagte Cotny. "Partisanen wollen Georgier auch nicht bekämpfen", gab Simon zur Antwort. "Wir nicht ergeben. Wir mit euch kommen. Bewaffnet", fuhr Cotny fort. "Ihr könnt wählen. Ihr könnt mit uns kämpfen, oder wir führen euch in die Schweiz."

Stilistisch begrenzt

Dass Vermicelli den Georgiern eine grammatikalisch unbeholfene Sprache auf den Leib schreibt, statt ihre Fremdheit anders zu vermitteln, ist bezeichnend – seine stilistischen Register sind beschränkt. Simon erlebt eine Liebesgeschichte mit einer Schmugglerin, und so realistisch Verwicklungen dieser Art sein mögen, so durchsichtig sind sie als spannungsschürendes Element.
Dennoch lohnt die Lektüre von „Die unsichtbaren Dörfer“, denn Vermicelli schildert nicht nur die Mühsal des Befreiungskampfes und die politische Konkurrenz zwischen den Partisanenverbänden, sondern vermittelt anschaulich, wie kompliziert sich demokratische Prozesse gestalten. Angesichts der zahlreichen Überläufer stellt Simon fest:
 „ ,Wenn sie nur die Macht suchen, sind sie beschissen. Hier ist die Macht sehr zerbrechlich.´ Toni entfuhr ein höhnisches Lachen: ,Die Macht ist bequem. Sie ist der einzige Ort, wo man alle Schweinereien der Welt begehen kann, ohne dafür bezahlen zu müssen.´“
Gino Vermicelli, der nur diesen einzigen Roman schrieb, idealisiert weder den Krieg noch die Haltung der Partisanen. Der Autor zeigt vielmehr, welchen elektrisierenden Effekt der Kampf für Freiheit und Gleichheit haben kann. Selten war es so wichtig, daran zu erinnern.
Gino Vermicelli: „Die unsichtbaren Dörfer“
Aus dem Italienischen von Barbara Fahrni-Mascolo
Rotpunkt Verlag Zürich 2022. 418 Seiten, 29 Euro.