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Pastor Ephraim Magnus
Schlicht großartig und jede Überanstrengung wert

Frank Castorf inszeniert Hans Henny Jahnns "Pastor Ephraim Magnus" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Dabei hält er sich an Jahnns Texte, deren Sprache auch heute noch ein Skandal ist. Ein voller Erfolg.

Von Michael Laages |
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    Das Stück "Pastor Ephraim Magnus" in der Regie von Frank Castorf feierte seine Premiere am 19.03.2015 am Deutschen Schauspielhaus. (picture alliance / dpa / Markus Scholz)
    Mitternacht ist schon vorüber; und nach fünf Stunden geht Castorfs Inszenierung in die Nachspielzeit. Gerade wurden sowohl an der Rampe wie auch auf der Predigerkanzel im kirchenschiff-grandiosen Bühnenbau von Aleksandar Denic wüste Abrechnungen mit dem konventionellen Theater exekutiert - dass es natürlich tot sei, solange es nicht unabhängig werde vom Publikum und nicht körperlich, wie Jahnn das fordert, und so weiter und sofort -, da versammeln sich Stück für Stück alle Ensemblemitglieder auf den Kirchenbänken und vor den abendfüllend flackernden Kerzen. Und sie entfachen eine herrlich abstruse Debatte, wie sie nur bei Castorf ein Stück beenden kann.
    Stellt euch vor, sagen sie uns, dem zunehmend entgeisterten Publikum - oder was davon noch übrig ist um Mitternacht -, es gäbe einen Autor, der alles, wirklich alles aufschriebe, was die Leute auf der Bühne so reden und denken und fühlen und tun und so weiter. Und auch all das schriebe er auf, was an Fantasie mit all diesem Reden und Denken und Fühlen und Tun zusammen hängt oder zusammen hängen könnte.
    "Das wird ein dickes Buch", sagt einer; und ein anderer wiederholt ein ums andere Mal: "Damit kommen wir nie ans Ende." Genau, denkt das Publikum und fängt an, zu protestieren. Und mit diesem Nicht-Schluss ist dann nach ein paar Wiederholungen tatsächlich Schluss, zwölf Minuten nach Mitternacht.
    Jahnn im Originaltext
    Der Text dieser Szene ist übrigens original Jahnn; wie überhaupt dieser monströse Abend dem chronisch verkannten Autor - anders als bei Brecht und "Baal" - sehr eng und streng folgt. Auch im Dom von Denic, ausgestattet außer mit Kanzel und Orgel auch mit Weinkeller und Cola-Vorrat, Bücherregalen, Sitzecken und Kaminfeuer sowie einer Streckbank zum Foltern, brennen die Kerzen ja, weil es bei Jahnn akkurat so steht.
    Und wo die zentralen Protagonisten gefühlte mehrere Stunden miteinander dialogisieren im zweiten Teil, ohne auch nur einen Zentimeter vom Fleck zu kommen - während die Souffleuse Evelyn Wietfeld von rechts nach links um die Bühne flitzt, um einen Teil der Akteure auf dem Laufenden zu halten -, verbannt die Regie den Diskurs in die Videoprojektion – im engeren Sinne geschieht ja ohnehin nichts. Als sei die Regie mal für eine Weile abgetaucht in die Kantine, läuft der Abend speziell nach der Pause sehr oft sehr lange sehr leer.
    Wie Jahnns Text: Der könnte hart gestrichen werden. Aber das passiert ja immer, wenn Jahnn sich auf den Spielplan verirrt. Gerade das wollte Frank Castorf nicht.
    Jahnns Sprache bleibt ein Skandal
    Jahnns Sprache war und blieb und bleibt ein Skandal, bis heute. Natürlich hat die Gegenwart schon kannibalischere Gemetzeltexte wie die von Bret Easton Ellis überlebt. Und also schockt ein alter Prediger nicht mehr so sehr, der sich erschießt, weil er nicht mehr aufs Klo gehen kann und überhaupt meint, dass er bald platzen wird vor innerlich angehäuftem Kot und Dreck:
    "Wir sind verlassen, seitdem weder Gott noch der Teufel zu uns tritt. Misthaufen sind wir, in und aus uns faul. Jauchegruben sind wir, Eiterbeulen. Ich will aus mir schreien, was ich weiß und was in mir ist."
    Auch sonst besteht die Pfarre vom alten Magnus aus lauter Exzess-Models: Bruder Ephraim und Tochter Johanna sind inzestuös ineinander verkrallt bis hin zu Mord- und Schlachtgelüsten; daneben mausert sich der uneheliche Sohn Jakob vom spektakulären Schwulen über den Stechschritt-Nazi bis zu einem Jack the Ripper, der vor der Pause im Video mit dem Schlachtmesser um die Häuser im Hamburger Bahnhofsviertel streunt und vorzugsweise Huren metzeln und danach ausnehmen will, wofür er nach der Pause zum Tode verurteilt wird.
    Alles, wirklich alles an Lust und Schmerz jenseits bürgerlicher Norm muss hier zum Thema werden. Die Zumutung der Inszenierung ist es, dass Frank Castorf uns diese unerlöste, zu keiner halbwegs realen Wirklichkeit gelangende Sprachorgiastik nicht erspart.
    Großartig und jede Überanstrengung wert
    Das ist schlicht großartig und jede Überanstrengung wert. Der Abend leidet allerdings beträchtlich unter Castorfs Unlust, völlig unverständliches Gefasel - in der vierten der fünf Stunden - auch nur ansatzweise zugänglich machen zu wollen. Und leider ist auch das Hamburger Schauspielhaus-Ensemble dieser Schreckgespensterei nicht durchweg gewachsen. Nur Josef Ostendorf, der verstopfte Papa Magnus zu Beginn und zum Schluss - eine kluge Entscheidung -, auch der von eigener Hand geblendete Sohn Ephraim, der einen Dom bauen lassen will, der mindestens so teuer werden wird wie die Elbphilharmonie, dieser Josef Ostendorf kommt der Unerträglichkeit von Jahnns Bestiarium Humanum ziemlich nahe.