Patrick Modiano schreibt einfache Sätze. Man ahnt zunächst nicht, in welche Fallstricke man dabei gerät. So fängt es an:
"Eines Tages auf den Quais hat ein Buchtitel mein Interesse geweckt: 'Die Zeit der Begegnungen'. Auch für mich gab es eine Zeit der Begegnungen, in einer fernen Vergangenheit. Damals hatte ich oft Angst vor der Leere. Dieses Schwindelgefühl spürte ich nicht, wenn ich allein war, sondern bloß mit gewissen Personen, denen ich gerade begegnet war. Um mich zu beruhigen, sagte ich mir: es wird schon eine Gelegenheit kommen, dann mache ich mich aus dem Staub. Bei einigen dieser Personen wusste man nicht, bis wohin sie einen vielleicht mitzogen. Der Hang war rutschig."
Es gibt hier scheinbar keine hohen Anforderungen an den Leser, der Satzbau ist nicht kompliziert, und die Wörter sind sofort verständlich. Dennoch stellt sich schon nach wenigen Passagen ein merkwürdiger Schwebezustand ein, eine Trance, bei der man nicht mehr genau weiß, wo man ist und mit wem man es zu tun hat. Personen tauchen auf und werden dann wieder unkenntlich, und unmerklich überlagern sich verschiedene Zeitebenen. Im Mittelpunkt steht die männliche Hauptperson, die "Ich" sagt und an die man sich halten möchte. Doch sie scheint nicht nur für den Leser unzuverlässig zu sein, sondern in allererster Linie auch für sich selbst. Die Frage, warum man trotzdem weiterliest, mit immer größer werdender Faszination und einem Gefühl, in etwas hineinversetzt zu werden, in das man schon immer hineinversetzt werden wollte – diese Frage gehört zum nie restlos aufzulösenden Geheimnis dieses Autors.
"Paris ist für mich übersät mit Gespenstern."
Der Ich-Erzähler erklärt, dass das Gefühl der Leere bei ihm durch die Konfrontation mit anderen Personen ausgelöst wird. Die Ursachen dafür, das wird gleich erkennbar, liegen in einer ganz besonderen Kindheit und Jugend, wie so oft bei den Modiano-Helden mit ihrem schwankenden Ich. Sein Vater ist in undurchsichtigen Geschäften unterwegs, und die Mutter verkehrt in einem etwas flirrenden und haltlosen Schauspieler- und Theatermilieu. Da wirkt der Titel des neuen Romans, "Schlafende Erinnerungen", geradezu programmatisch. Aus einer diffusen Vergangenheit strahlen plötzlich unvermutete Einzelheiten hervor, kristallklar. Bereits im Alter von 11 Jahren, so erzählt der Protagonist im Rückblick, begann er, sich herumzutreiben. Die Straßen von Paris wurden früh zu einer Art Heimat für ihn, sie prägten sein Lebensgefühl. Der Ich-Erzähler empfindet sich selbst als etwas Pulsierendes und Getriebenes. Und er nennt einmal den Zeitraum, der für ihn entscheidend war und der so etwas wie den Bodensatz seiner schriftstellerischen Existenz bildete: im Alter zwischen 17 und 22 Jahren geriet er in etwas hinein, das er nicht durchschaute. Es sind die Jahre zwischen 1962 und 1967 – versunkene Jahre, in einer mythisch gewordenen Vergangenheit, der immer neue Farben und Töne abgewonnen werden. Obwohl man nicht sehr viel Konkretes erfährt, hatte die Hauptfigur zum Beispiel eine Affäre mit einer gewissen Geneviève Dalame, die in einem Hotel wohnte.
Der birnenförmige Lichtschalter auf dem Nachttisch
"Es lag im unteren Teil der Rue Monge, an der Grenze zum Gobelins-Viertel und dem dreizehnten Arrondissement. Fast ein halbes Jahrhundert ist vergangen, und man lebt in Paris nicht mehr in Hotelzimmern, wie oftmals nach dem Krieg und bis hinein in die sechziger Jahre. Geneviève Dalame ist wahrscheinlich die letzte in einem Hotelzimmer lebende Person gewesen, die ich gekannt habe. Mir scheint auch, in den Jahren 1963, 1964 verhielt die alte Welt ein letztes Mal den Atem, bevor sie zusammenstürzte wie all diese Häuser und all diese Gebäude in den Faubourgs und an der Peripherie, die kurz vor dem Abriss standen. Uns, die wir sehr jung waren, uns war es gegeben, noch ein paar Monate lang in den alten Kulissen zu leben. Im Hotel der Rue Monge, daran erinnere ich mich, gab es einen birnenförmigen Lichtschalter auf dem Nachttisch und einen schwarzen Vorhang, den Geneviève Dalame immer mit einem Ruck zuzog, ein Vorhang aus der passiven Verteidigung, den man seit dem Krieg nicht ausgetauscht hatte."
Wie diese Geneviève genauer aussieht, erfährt man nicht. Umso deutlicher und ganz scharf umrissen erscheint aber der Schalter für die Nachttischlampe in seiner Birnenform. Diese Technik ist charakteristisch für Modiano. Die Personen bleiben rätselhaft und sind nicht so recht greifbar. Die Geliebte wird distanziert mit Vor- und Nachnamen genannt, wie eine fremde Person, die man nicht mit intimen Gefühlen in Verbindung bringt. Die Atmosphäre aber, in der die Hauptfigur gewissen Personen begegnet, verselbständigt sich und wird zum eigentlichen Stoff. Dass die Welt Anfang der sechziger Jahre den Atem ein letztes Mal anhielt, ist untergründig auch gesellschaftspolitisch zu verstehen, der Aufstand von 1968 steht kurz bevor. Aber es sind auch die Jahre, in denen die Hauptfigur Modianos sich zwischen jugendlichen Orientierungsversuchen und frühem Erwachsensein bewegt. Im Rückblick liegt in ihnen manchmal eine unaussprechliche Verheißung, aber vor allem befinden sie sich in einem unheimlichen Zwielicht. Der Zweite Weltkrieg ist noch nicht lange vorbei, er legt einen merkwürdigen Schatten über das Ganze. Der Vater kommt durch wenige Andeutungen ins Spiel, in Modianos Romanen erschien die Figur des Vaters oft in einer schwierigen Mischung zwischen jüdischer Herkunft, Schwarzmarkt und Kollaboration. Die Zeit der frühen sechziger Jahre, in der die Ich-Figuren Patrick Modianos ihre widersprüchliche Gestalt annehmen, verschwimmt immer wieder mit der verdrängten Zeit der vierziger Jahre, in der der Vater seine Geschäfte betrieb. Der Ich-Erzähler in "Schlafende Erinnerungen" gibt jetzt unumwunden kund, dass es genau diese Konstellation ist, die ihm immer wieder den Stoff für seine Romane lieferte. Ja: Romane! Der Protagonist erwähnt sie hin und wieder ganz selbstverständlich, und da überrascht es nicht weiter, dass er wie sein Schöpfer Patrick Modiano im Jahr 1945 geboren wurde. Überhaupt sind die äußeren Daten, die man über ihn erfährt, deckungsgleich mit biografischen Stationen des berühmten Schriftstellers und Nobelpreisträgers. Mit derlei Konstellationen wird radikal gespielt. Der Autor gibt seinem neuesten Buch nicht einmal mehr eine Gattungsbezeichnung, er nennt es nicht mehr "Roman" – zusehends möchte er offenbar auf eine fiktionale Einbettung verzichten und seinen Schreibimpuls auf direkteste Weise freilegen. Es gibt nur noch einen ironischen, selbstreferenziellen Reflex auf das Handwerk des Schriftstellers gegen Schluss. Da taucht Modianos Ich-Figur in unklaren Aktennotizen von unbestimmter Hand als ein gewisser "Jean D." auf, der in einen undurchsichtigen Kriminalfall verwickelt ist. Der Protagonist scheint dabei etwas wiederaufzunehmen, was er von seinem Vater weiß: er verkehrt, ohne dass er das bewusst angestrebt hätte, in dubiosen Kreisen, und verliert sich in etwas Bohemienhaften, in halblegalen Tätigkeiten.
"Ein altes Schuldgefühl? Es hat mich verfolgt, ohne dass ich den Grund dafür nennen könnte. Eines Tages hatte ich die Ahnung, dieser Grund liege vor meiner Geburt und das Schuldgefühl habe sich entlang einer Bickford-Zündschnur weitergefressen. Meine Ahnung war so flüchtig, ein Streichholz, dessen winzige Flamme ein paar Sekunden aufleuchtet in der Dunkelheit, bevor sie erlischt ..."
Mit Francoise Hardy in einem Ruderboot
Am Anfang findet sich in einer zusammengewürfelten Pariser Gesellschaft wieder, in der Wohnung einer gewissen Martine Hayward. Hier treffen sich versprengte Theater- und Künstlerexistenzen, doch das erfährt man erst viel später, gegen Ende des Buches. Zunächst gibt es einen scheinbar zufälligen Assoziationssprung in die früheste Zeit, als der Ich-Erzähler durch die Straßen streifte. Er fühlte sich, ohne dass das näher ausgeführt wird, von der Mutter alleingelassen, die an einem Theater in Pigalle arbeitete. Der Protagonist schreibt sich schließlich an der Universität ein, studiert aber nicht und geht ungeregelten Tätigkeiten nach. Sie münden schließlich darin, dass er sein Geld als "Chansontexter" verdienen will. Einen gewissen Zusammenhang gibt es dabei wohl mit den angedeuteten halbseidenen, künstlerisch ambitionierten Tätigkeiten der Mutter, und vielleicht hat auch seine Vorliebe für okkulte, esoterische Bücher hier ihren Ursprung. In einer entsprechenden Buchhandlung lernt er die bereits erwähnte Geneviève Dalame kennen, die in einem Hotelzimmer wohnt. Sie arbeitet bei der damals sehr renommierten Schallplattenfirma Polydor.
"Ich hatte gerade eine Prüfung als 'Texter' bestanden, bei der Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger, und ich brauchte einen 'Paten', um ihr beitreten zu können. Ein gewisser Emil Stern, Komponist von Chansons, Dirigent und Pianist, war bereit, diese Rolle zu übernehmen. Er hatte vor 25 Jahren bei den Polydor-Studios die ersten Aufnahmen von Edith Piaf geleitet. Ich habe Geneviève Dalame gefragt, ob in den Archiven der Polydor-Studios davon noch etwas zu finden sei. Eines Morgens im Café überreichte sie mir einen Umschlag, und der enthielt die alten Karteikarten der Aufnahmen von Edith Piaf, unter der Leitung meines 'Paten' Emil Stern. Sie schien ziemlich aufgewühlt, weil sie diesen Diebstahl für mich begangen hatte."
Chansontexte, Edith Piaf, Theater in Pigalle: in der zwischen Kunst und Amüsement angesiedelten Unterhaltungsbranche, wo das Leben überbordend ist und doch oft nur vorgetäuscht wird – da sind die Gefühle bei Patrick Modiano seit jeher verblüffend zuverlässig verankert. Seine Hauptfiguren finden hier das einzige sichere Terrain. Der reale Patrick Modiano hat tatsächlich in den sechziger Jahren, als noch ziemlich unbekannter Autor, Chansontexte für den Jungstar Francoise Hardy geschrieben. Es gibt ein Foto von beiden in romantischem Ambiente in einem Ruderboot, in dem Modiano krampfhaft aufrecht sitzt und sich neben der strahlenden, hinreißend schönen Francoise Hardy scheinbar deplatziert fühlt. Mit dem Verhältnis zwischen Kunst und Leben hat es bei Patrick Modiano eine besondere Bewandtnis. Wie er sich nun in seinem neuen Roman unverhohlen selbst als Schriftsteller schildert und dabei doch einen ironischen, aber auch suggestiv sehnsüchtigen Abstand wahrt – das wirkt wie der Drahtseilakt eines Connaisseurs, der sich vor nichts mehr zu scheuen braucht. In jener Zeit Anfang, Mitte der 60er-Jahre schien auch die Welt der Chansons noch einigermaßen unschuldig zu sein, wie der Moment vor dem Sündenfall, und dem Paris dieser Zeit gewinnt Modiano unvergängliche Stimmungen ab, eine Atmosphäre, die Paris transzendiert und zu einer nie auszuschöpfenden Kunstwelt erhebt. Mit seinem großen Vorgänger Marcel Proust verbindet ihn eine spezifische Poesie konkreter Straßennamen, Cafés und Adressen. Wer dies jedoch als eine touristische Anleitung missversteht, sieht sich sofort in die Irre geführt. Modianos Topographie von Paris ist eine des Traums, real wird sie nie eingelöst werden können. Das Hotel am Montmartre, in dem sich der Ich-Erzähler eine Zeitlang eingemietet hat, ist längst zu einem Appartementhaus umgewandelt worden, und der Boulevard, in dem eine subjektiv sehr aufgeladene Szene spielt, hat, wie gleich hinzugefügt wird, mittlerweile einen anderen Namen. Auch, wer gezielt die vielversprechend beschworene Bäckerei an der Ecke Rue Victor-Massé/Rue Pigalle aufsuchen möchte, sieht sich unvermeidlich auf die Literatur selbst verwiesen und muss damit zurechtkommen.
"Es ist vorgekommen, dass ich in Paris immer wieder dieselben Menschen auf der Straße getroffen habe, Menschen, die ich nicht kannte. Da sich unsere Wege ständig kreuzten, wurden mir ihre Gesichter vertraut. Sie dagegen, glaube ich, nahmen mich nicht wahr, und nur mir fielen diese zufälligen Begegnungen auf. Denn sonst hätten wir uns gegrüßt oder ein Gespräch angefangen. Am verblüffendsten ist, dass ich oft dieselbe Person in verschiedenen und weit auseinanderliegenden Vierteln traf, als würde das Schicksal – oder der Zufall – darauf dringen, dass wir uns kennenlernen. Und jedesmal empfand ich Gewissensbisse, weil ich sie vorübergehen ließ, ohne sie anzusprechen. Von der Kreuzung zweigten viele Wege ab, und ich hatte einen übersehen, der vielleicht der richtige war. Um mich zu trösten, verzeichnete ich diese Begegnungen ohne Zukunft peinlich genau in meinen Heften, mit exakter Ortsangabe und einer Beschreibung des Aussehens dieser Namenlosen. So ist Paris übersät mit neuralgischen Punkten und den vielfältigen Formen, die unser Leben hätte annehmen können."
Das verführerische Schwarzweiß eines Film noir
Das Buch spielt mit Fiktion und autobiografischer Reflexion, und dabei lässt es eine neue Ebene entstehen, in der solche Zuweisungen unwichtig werden. Klar ist aber, dass es sich um ein ausgefeiltes Kunstwerk handelt, das mitten in das Erleben selbst hinein zielt. Der Kriminalfall, der zum Schluss als solcher deutlich wird, hat viele Momente des Film noir und spielt mit allen möglichen Schwarz-Weiß-Verweisen auf die frühen sechziger Jahre. Die Wohnung jener Martine Hayward, die anfangs so abrupt verlassen wurde, stellt sich als Schauplatz eines Ereignisses heraus, das den Ich-Erzähler Zeit seines Lebens umtreiben wird – die Schuld, um die es geht, weist jedoch über diesen Fall hinaus und scheint eine existenzielle zu sein. Sie wird versuchsweise dadurch aufgehoben, dass ihr immer neue erzählerische Formen gegeben werden. "Schlafende Erinnerungen" ist nicht das erste Buch, das Patrick Modiano nach dem Nobelpreis 2014 geschrieben hat, es ist wie viele seiner Bücher eine Fortschreibung derselben Obsessionen, aber das Gefühl, das alles bereits zu kennen, verflüchtigt sich merkwürdigerweise auch hier wieder schon nach wenigen Sätzen – wie wenn man durch eine vorher nicht vorhandene, aber sich plötzlich öffnende neue Tür tritt. Und als kleines Impromptu hat der Autor parallel dazu ein Theaterstück verfasst, das die Grundmotive genregemäß variiert. "Unsere Anfänge im Leben", so der Titel, handelt von einem jungen Schriftsteller, der auch hier "Jean" heißt, und wieder spielt die Mutter eine Rolle, die den Sohn schon früh sich selbst überlässt. Gleich zu Beginn schlägt Jean in einem Monolog den Ton an, der auch das große Prosastück einläutet – von "Vergangenheit" ist da die Rede und von "Leere". Das Stück spielt vor allem in der Theatergarderobe von Jeans Freundin Dominique, als sie beide zwanzig sind, als konkretes Datum wird einmal die Premiere am 19. September 1966 genannt. Dominique hat in Tschechows "Möwe" die Rolle der Nina. Modiano benutzt die Mechanismen des Theaters, setzt auf Spiegeleffekte und Zeitverschmelzungen. Jeans Mutter hat zufällig zur selben Zeit ein Engagement an einem benachbarten Haus, es ist durch eine Art Geheimgang sogar direkt zu erreichen, und sie sucht mit ihrem Lebensgefährten, einem verkrachten Schriftsteller, Jean und Dominique heim. Sie erpresst ihn und will von ihm Geld, ein altes Modiano-Motiv in Bezug auf die Eltern, und dass die Mutter in einem schnöden Boulevardstück auftritt und es nie bis zu Tschechows "Möwe" geschafft hat, verzeiht sie ihrem Sohn nicht. Jeans Mutter und ihr Freund Caveux legen sich wie ein bedrohlicher Schatten über die Liebe zwischen Jean und Dominique, es ist ein Verhängnis aus der Vergangenheit, das man nie los wird. Einmal erzählt Dominique ihrem Freund Jean, wie Caveux ihr aufgelauert hat:
"'Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Jean zu sprechen, sagte er. Seine Stimme war sehr ölig, dann aber auch wieder sehr schroff. Er sagte: Ich wünsche, dass Sie Jean nicht mehr sehen. Das geschieht zu seinem Wohl. Der Junge ist allzu empfindsam …'
'Allzu empfindsam? Sollen wir jetzt Tränen vergießen.'
'Er sagte, deine Mutter macht sich große Sorgen um dich.'
'Das hat sie immer getan … eine von diesen Müttern, die sich heimlich für ihren Sohn opfern und ihm beistehen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Zwischen elf und achtzehn habe ich sie vielleicht zwei- oder dreimal gesehen, und immer nur eine knappe Stunde. Sie hatte schnell genug.'"
Es kommt zu hübschen Szenen, wenn Jean, Dominique und die jungen Liebenden aus Tschechows "Möwe" eins werden, ein Verwirrspiel, das der Autor lustvoll mit fintenreichen Effekten betreibt. Theater und Leben gehen ineinander über, und auch die Zeiten verschmelzen. Jean blickt zurück auf die titelgebenden "Anfänge im Leben", und genauso wie bei seinem Pendant im Prosastück gibt es nichts, woran er sich halten kann. Es gibt nur geheimnisvoll auf- und abtretende Personen, die für ihn eine Rolle gespielt haben, die nicht genau einzuordnen sind und etwas mit seinen Sehnsüchten zu tun haben. Der Kern von Modianos Literatur liegt aber in Paris, einer Stadt aus verwunschenen Träumen, die Modiano wie kein zweiter evoziert. Niemand kann "schlafende Erinnerungen" so wachrufen wie er:
"Es war im August. Niemand ging ans Telefon. Etliche Male habe ich mich gegen Ende des Nachmittags vor das Backsteingebäude gestellt, hinter dem sich der Square de la Butte-du-Chapeau-Rouge erstreckt. Ich kannte dieses Viertel nicht. Andere Menschen machen uns mit einer Stadt in ihren geheimsten und entlegensten Zonen bekannt, indem sie sich mit uns an dieser oder jener Adresse verabreden. Wenn sie verschwunden sind, locken sie uns auf ihre Spuren. Gegen Ende des Nachmittags, unten am Fuß der ansteigenden Rue Sérurier, hatte ich ein Gefühl, als sei die Zeit stehengeblieben."
Patrick Modiano: "Schlafende Erinnerungen"
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, München. 112 Seiten, 16 Euro.
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, München. 112 Seiten, 16 Euro.