Belfast, Anfang der 80er-Jahre, katholisches Viertel. Für einen Zwölfjährigen gibt es klare Vorgaben: Brutal männlich muss er auftreten, auch wenn sein Körper noch schmächtig ist und die Stimme fiepsig klingt. Das verlangen alle - die Mädchen, der ältere Bruder, das gesamte Umgebungsmilieu. Nur die Mutter und der örtliche Priester machen da eine Ausnahme. Sie wachen darüber, dass keine schwarzen Flecken auf der Seele wachsen – durch Lügen, Flüche oder andere Missetaten:
"Ich frage mich, wie die Seele aussieht. Wie ein roter Kreis, nehme ich an. Nein, rot ist schon das Herz, dann ist die Seele wohl eher rosa. Rosa ist allerdings für Mädchen. Ich stelle mir meine kreisförmige Seele vor, und sie ist definitiv rosa. Ich werd einfach niemand erzählen, dass ich ’ne Mädchenseele hab."
Die falsche Seele im Jungenkörper zu haben ist nicht das einzige Problem von Michael Donnelly, genannt Mickey. Er ist einfach zu schlau, zu fantasievoll, zu wenig gewaltverliebt für eine Wohngegend, deren Vorteile sich nur sarkastisch zusammenfassen lassen:
"Alle ziehen nach Ardoyne, weil wir keine Fernsehgebühren bezahlen. Und dich keiner überfällt oder bei dir einbricht – höchstens dein eigener Papa! – oder gegen unsere Gesetze verstößt, weil die IRA ihm sonst die Kniescheiben durchlöchert. Wenn man’s nochmal tut, wird man aus dem Stadtteil verbannt, und wenn man doch wiederkommt, ist man tot."
Dieses verordnete Lebensschicksal steht Mickey düster vor Augen. Wie die meisten Männer ist sein Bruder Paddy – obwohl noch schulpflichtig – bereits IRA-Kämpfer, wozu es der arbeitslose Vater, ein irischer Säufer vor dem Herrn, nie gebracht hat. Doch wer weiß? Offen zu reden, steht unter Knieschuss-Androhung, da bleibt viel Raum für Verschwörungshypothesen:
"Vielleicht ist Papa ja doch in der IRA. Vielleicht ist sein Gesaufe nur ein Schutz – eine Tarnung, um sie von seiner geheimen Identität abzulenken."
"Ich frage mich, wie die Seele aussieht. Wie ein roter Kreis, nehme ich an. Nein, rot ist schon das Herz, dann ist die Seele wohl eher rosa. Rosa ist allerdings für Mädchen. Ich stelle mir meine kreisförmige Seele vor, und sie ist definitiv rosa. Ich werd einfach niemand erzählen, dass ich ’ne Mädchenseele hab."
Die falsche Seele im Jungenkörper zu haben ist nicht das einzige Problem von Michael Donnelly, genannt Mickey. Er ist einfach zu schlau, zu fantasievoll, zu wenig gewaltverliebt für eine Wohngegend, deren Vorteile sich nur sarkastisch zusammenfassen lassen:
"Alle ziehen nach Ardoyne, weil wir keine Fernsehgebühren bezahlen. Und dich keiner überfällt oder bei dir einbricht – höchstens dein eigener Papa! – oder gegen unsere Gesetze verstößt, weil die IRA ihm sonst die Kniescheiben durchlöchert. Wenn man’s nochmal tut, wird man aus dem Stadtteil verbannt, und wenn man doch wiederkommt, ist man tot."
Dieses verordnete Lebensschicksal steht Mickey düster vor Augen. Wie die meisten Männer ist sein Bruder Paddy – obwohl noch schulpflichtig – bereits IRA-Kämpfer, wozu es der arbeitslose Vater, ein irischer Säufer vor dem Herrn, nie gebracht hat. Doch wer weiß? Offen zu reden, steht unter Knieschuss-Androhung, da bleibt viel Raum für Verschwörungshypothesen:
"Vielleicht ist Papa ja doch in der IRA. Vielleicht ist sein Gesaufe nur ein Schutz – eine Tarnung, um sie von seiner geheimen Identität abzulenken."
Flucht in Tagträume
Mickey ist für seine zwölf Jahre reichlich vergrübelt, flüchtet sich tagträumend nach Amerika und gedanklich auf die nächste Schule. Die St. Malachy’s Grammer School, ein Elitegymnasium, wird ihn wegen seiner guten Noten aufnehmen. Doch der Traum weicht schon auf Seite 17 einem Alptraum: Alles Geld vom Vater versoffen, kann die Familie die Schulkosten nicht aufbringen. Wie alle anderen aus dem Viertel muss Mickey nach den Ferien zu St. Gabriel’s wechseln, zur Nachwuchsbrutstätte des IRA-Terrorismus. Neun Wochen lang durchlebt er einen rückwärtsgewandten Adaptionsprozess, sich wieder aufs alte Milieu einzustellen, dem er sich durch den schulischen Aufstieg doch sicher entronnen glaubte. Das ist schwer. Begleitete ihn nicht sein Hund Killer durch diese Sommerferien, und wäre nicht seine Mutter von rauer Herzlichkeit, zerbräche der sensible Junge wohl. Allein die rituellen Anforderungen an die pubertäre Identität, die er – der angebliche Schwule – dennoch erfüllen soll, bereiten ihm Kopfzerbrechen:
"Ich kapier’s einfach nicht, mit diesem Jungs-fassen-sich-an-ihr-Ding. Wenn man das tut, ist man schwul. Aber soweit ich sehe, tun sie’s die ganze Zeit. Weil ich kein richtiger Junge bin, weiß ich nicht, wann es schwul ist und wann nicht."
Das alles könnte mit dem Grau des Belfaster Alltags zu einer trübe Soße verschwimmen, zur typisch britischen sozialrealistischen Studie, doch in seinem Debütroman "Guter Junge" beschreibt Paul McVeigh Mickeys Reifeprozess als humorvolle Erfolgsgeschichte, in der ein Schwacher über die tumben Starken triumphiert. Zwar stirbt Mickeys Hund bei einem Bombenanschlag, zwar wird Mickey von seiner ersten Liebe schmählich vorgeführt, aber es gelingt ihm, den verhassten Vater durch einen Trick aus der Familie zu entfernen. Die wirtschaftlichen Nöte der Mutter lindert er durch einen Brennholzhandel, und die Adoleszenz-Herausforderungen – er muss beispielsweise lernen, wie man ein Mädchen "hobelt" – führen ihn nur in die Abgründe eines Zungenkusses hinein. Obwohl wir derartige Coming-of-Age-Bücher zur Genüge kennen, besticht McVeighs Roman durch die präzise Rückversetzung in die Wahrnehmungswelt eines Zwölfjährigen, geschildert jedoch mit der sprachlichen Könnerschaft des Erwachsenen. Eine Gruppe Klebstoffschnüffler bezeichnet der Ich-Erzähler als "Kinder Klebraels", und fürs abgelenkte Zuhören von Pubertierenden findet McVeigh ein wirklich gutes Sprachbild:
"Mamas Stimme spazierte an mir vorbei."
Das sollte dieser Text beim Leser nicht tun. In der Balance zwischen bedrückender Milieuschilderung aus einem Bürgerkriegsgebiet und vitaler Zukunftsbejahung eines Kindes wächst das Buch übers Autobiographische weit hinaus. Man kann es nicht oft genug betonen: Echte Bildung (St. Malachy’s) statt einer schulischen Aufbewahrungsanstalt (St. Gabriels) – ist der Schlüssel zum besseren Leben. Am ersten Schultag trägt Mickey allen Widrigkeiten zum Trotz denn auch jene Schuluniform, die seine Seele kleidet.
"Ich kapier’s einfach nicht, mit diesem Jungs-fassen-sich-an-ihr-Ding. Wenn man das tut, ist man schwul. Aber soweit ich sehe, tun sie’s die ganze Zeit. Weil ich kein richtiger Junge bin, weiß ich nicht, wann es schwul ist und wann nicht."
Das alles könnte mit dem Grau des Belfaster Alltags zu einer trübe Soße verschwimmen, zur typisch britischen sozialrealistischen Studie, doch in seinem Debütroman "Guter Junge" beschreibt Paul McVeigh Mickeys Reifeprozess als humorvolle Erfolgsgeschichte, in der ein Schwacher über die tumben Starken triumphiert. Zwar stirbt Mickeys Hund bei einem Bombenanschlag, zwar wird Mickey von seiner ersten Liebe schmählich vorgeführt, aber es gelingt ihm, den verhassten Vater durch einen Trick aus der Familie zu entfernen. Die wirtschaftlichen Nöte der Mutter lindert er durch einen Brennholzhandel, und die Adoleszenz-Herausforderungen – er muss beispielsweise lernen, wie man ein Mädchen "hobelt" – führen ihn nur in die Abgründe eines Zungenkusses hinein. Obwohl wir derartige Coming-of-Age-Bücher zur Genüge kennen, besticht McVeighs Roman durch die präzise Rückversetzung in die Wahrnehmungswelt eines Zwölfjährigen, geschildert jedoch mit der sprachlichen Könnerschaft des Erwachsenen. Eine Gruppe Klebstoffschnüffler bezeichnet der Ich-Erzähler als "Kinder Klebraels", und fürs abgelenkte Zuhören von Pubertierenden findet McVeigh ein wirklich gutes Sprachbild:
"Mamas Stimme spazierte an mir vorbei."
Das sollte dieser Text beim Leser nicht tun. In der Balance zwischen bedrückender Milieuschilderung aus einem Bürgerkriegsgebiet und vitaler Zukunftsbejahung eines Kindes wächst das Buch übers Autobiographische weit hinaus. Man kann es nicht oft genug betonen: Echte Bildung (St. Malachy’s) statt einer schulischen Aufbewahrungsanstalt (St. Gabriels) – ist der Schlüssel zum besseren Leben. Am ersten Schultag trägt Mickey allen Widrigkeiten zum Trotz denn auch jene Schuluniform, die seine Seele kleidet.
Paul McVeigh: "Guter Junge", Aus dem Englischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser,Wagenbach Verlag, 254 Seiten; 22,00 Euro