Donnerstag, 25. April 2024

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Paul Nolte
"In der Flüchtlingsfrage gibt es keine objektiven Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit"

In der Flüchtlingspolitik müsse man nicht über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit, sondern über die Konsequenzen sprechen, sagte Paul Nolte, Historiker an der FU Berlin im DLF. "Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir vielleicht eine Steuererhöhung bekommen oder dass das Schulsystem knirscht, auch mit Konsequenzen für die Klassengröße der eigenen Kinder."

Paul Nolte im Gespräch mit Peter Kapern | 30.09.2015
    Das Bild zeigt Noltes Kopf in graukariertem Sakko mit hellblau-weiß gestreiften Hemd. Im Hintergrund sieht man sehr unscharf Studio-Publikum auf den Rängen.
    Paul Nolte in einer Talkshow ( Ingo Wagner / dpa)
    Nolte wies auf diese Konsequenzen im Zusammenhang mit einer Rede von Bundespräsident Joachim Gauck hin [Anm. der Redaktion: Rede zum Auftakt der 40. Interkulturellen Woche]. "Die Vorstellung, es gebe Grenzen bei der Flüchtlingsaufnahmefähigkeit - bei allem Respekt vor unserem Bundespräsidenten: Es gibt keine objektiven Grenzen. "Nur müssen wir uns dann darüber klar sein und auch die Decken und Wasser jetzt im Moment herantragenden Bürger müssen sich darüber klar sein, dass das dann andere Konsequenzen hat, dass wir dann vielleicht eine Steuererhöhung bekommen oder dass dann das Schulsystem knirscht, auch mit Konsequenzen für die Klassengröße der eigenen Kinder."
    Moralische Politik als Chance sehen
    "Wir sehen ein immer stärkeres Zusammenspiel der moralischen Instanzen von unten mit der Politik heraus". Man dürfe diese moralische Politik nicht als Gefährdung, sondern als Chance sehen. "Wir haben eine große moralische Zivilgesellschaft". Es seinen keine linken Romantiker, die den Westen nicht richtig verstanden hätten. Diese Kultur komme aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, sagte Nolte
    Mitgefühl und Helfersyndrom starke Triebfedern geworden
    Es sei ein großer Vorteil, wenn Deutschland Mitgefühl und Moral gewonnen habe, sagte Nolte. Es könne daher auch ein Element der klassischen Politik sein: "Wir wollen gut sein, wir wollen den Menschen helfen, wir wollen Mitgefühl zeigen", sagte Nolte.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Die deutsche Politik, die Deutschen insgesamt und eigentlich sogar der ganze Westen bekommen gerade massive Kritik aus den Reihen der Historiker zu hören. Götz Aly zum Beispiel attestierte gerade in einem Artikel der "Berliner Zeitung" dem gesamten Westen einen, wenn man so will, gesinnungsethischen Überschuss, der unter den Einwohnern Syriens, Ägyptens, Libyens und des Irak größere Blutbäder angerichtet hat als das verheerende Wirken der Diktatoren, die der Westen von der Macht vertrieben hat oder vertreiben wollte. Heinrich August Winkler hingegen fokussiert seine massive Kritik vor allem auf die Deutschen. Sie gerierten sich als moralische Leitnation, als Großmacht der Werte, die befreundete Länder düpiere und in der Außenpolitik, Stichwort Ukraine und Syrien, immensen Schaden anrichte. Es gibt also Gegenwind für all jene, denen ob der eigenen Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge Tränen der Rührung in die Augen schossen, und Unterstützung für die, die angesichts des Flüchtlingschaos binnen weniger Wochen sich von einer wertebasierten Außenpolitik ab- und einer interessengeleiteten Realpolitik zuwenden. Aber ist die Schelte der Historiker auch berechtigt? - Das soll uns jetzt Paul Nolte sagen, seinerseits Historiker an der Freien Universität in Berlin. Guten Morgen, Herr Nolte.
    Paul Nolte: Schönen guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Herr Nolte, fangen wir mit einem konkreten Fall an. Da wurde die Ukraine mit Verve gegen den russischen Übergriff verteidigt, auch durch Sanktionen, mit denen der Westen auch sich selbst geschadet hat. Und jetzt, nur ein paar Monate später, stehen Millionen Flüchtlinge vor den Toren Europas und auf einmal erinnert sich der Westen daran, dass Moskau ein Partner und kein Gegner sein muss. Wie erklären Sie sich dieses Oszillieren zwischen Moral und Pragmatismus?
    Nolte: Ich glaube, das sind, Ukraine und Flüchtlinge, zwei ziemlich unterschiedliche Fälle, obwohl da auch Gemeinsamkeiten eines neuen Zögerns vielleicht der Deutschen gegenüber ihrer klassischen Verankerung, die die Westdeutschen vor allen Dingen in der alten Bundesrepublik vor 1990 gehabt haben, deutlich werden. In der Flüchtlingskrise geht es vor allen Dingen um Moral und nicht um Werte, und ich glaube, diesen Unterschied zu machen, ist sehr wichtig, denn es geht hier gar nicht darum, ob wir bestimmte Werte - darunter verstehen wir ja so etwas wie Freiheit oder Gerechtigkeit - verteidigen, sondern wirklich um dieses Mitgefühl, um das Helfersyndrom, das ja jetzt häufig auch ironisiert wird. Das ist eine ganz starke Triebkraft auch der deutschen Gesellschaft, der Zivilgesellschaft, sozusagen von unten geworden, aber immer stärker auch ein Element der klassischen Politik, der governmentalen Politik. Wir wollen gut sein, wir wollen den Menschen helfen, wir wollen Mitgefühl zeigen, also, wenn man so will, mit Götz Aly dieser gesinnungsethische Überschuss. Aber ich sehe gar keinen Grund, mich darüber irgendwie lustig zu machen. Zunächst einmal ist das, finde ich, ein großer Vorteil, wenn die Deutschen dieses Mitgefühl und diese Moral und Menschlichkeit gewonnen haben.
    Kapern: Aber es ist doch gleichwohl erstaunlich, wie schnell auf einmal das Ruder herumgeworfen wird und Putin wieder als Partner einer Außenpolitik entdeckt wird und beispielsweise diskutiert wird über die Abschaffung der Sanktionen, nur um mit Putin ins Geschäft zu kommen und die Flüchtlingsströme dann doch fernzuhalten, statt ihnen hier zu helfen.
    Nolte: Ja. Das sind aber, glaube ich, klassische Oszillationen, in denen so jemand wie Putin dann als Gesprächspartner immer wieder ernst genommen werden muss. Ich glaube, das ist von dem Problem der Flüchtlingskrise wie gesagt ziemlich stark zu trennen. Der Nexus liegt jetzt darin, dass wir versuchen wollen, die Flüchtlingsströme aufzuhalten und die Ursachen am Entstehungsort zu bekämpfen, und dafür schließt man dann auch den Pakt mit dem Teufel. Dass Putin jetzt nicht der große Freund geworden ist, sondern in vieler Hinsicht noch der Teufel geblieben ist, das ist, glaube ich, den meisten in Deutschland auch klar.
    Gesinnungsethische Überschuss aus nationalem Trauma der NS-Zeit
    Kapern: Ist der Vorwurf, den Götz Aly da formuliert hat - ich gebe das sinngemäß wieder -, dass dieser gesinnungsethische Überschuss in der deutschen Politik einen verheerenden Blutzoll angerichtet hat in den Ländern, wo die Deutschen eigentlich Diktaturen beenden wollten, ist der berechtigt?
    Nolte: Möglicherweise wird man das - das muss man mit aller Vorsicht sagen - erst mit ganz großem Abstand beurteilen können. Aber ich glaube schon, da sind ihm die Maßstäbe etwas verrutscht. Das wäre ja auch so - und bei jemandem, der ein so profilierter Nationalsozialismus-Forscher ist wie Götz Aly, überrascht einen das wirklich -, als würde man die Schweiz oder die USA oder die Länder, in die Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland, jüdische, politisch verfolgte Flüchtlinge geströmt sind, eher für die Verfolgung verantwortlich machen als das NS-Regime. Ich glaube vielmehr, dass in der Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland noch ein ganz manifestes historisches Trauma liegt, das die Hauptursache auch dieses gesinnungsethischen Überschusses, wie Aly das nennt, ist: Die Tatsache, dass wir Nachbarn vertrieben haben und die Flüchtlinge jetzt in einer Art moralisch-kompensatorischem Akt hier wieder begrüßen wollen und als neue Nachbarn hier bei uns zuhause eingliedern wollen.
    Gesinnungs- und Verantwortungsethik unterscheiden
    Kapern: Aber was, wenn das Ergebnis gar nicht das erwünschte ist, sondern das Ergebnis dieses Versuchs, die Schuld der Vergangenheit zu kompensieren, zu neuer Schuld führt, wie es ja Götz Aly unterstellt?
    Nolte: Ja, das ist eine schwierige Frage tatsächlich dann auch der Differenz zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Das ist ja eine Frage, die die deutsche Politik auch schon seit Langem umgetrieben hat, klassischerweise ja auch in der Konstellation der frühen 80er-Jahre, als es im Nachrüstungsstreit darum ging. Damals war die Konstellation ja noch etwas anders. Damals hatten wir eine gesinnungsethische Bewegung von unten in der Friedensbewegung und ein sozialpolitisches Korrektiv in den Regierungs-, in den governmentalen Kräften, zunächst in der sozialliberalen Koalition mit Helmut Schmidt und dann im Regierungswechsel zu Helmut Kohl und seiner Regierung. Aber die klassischen Parteien, die Regierungspolitik war sich eigentlich einig. Das hat sich in der Tat in Deutschland in den letzten 15, 20 Jahren verändert. Wir sehen immer stärker ein Zusammenspiel dieser moralischen Dynamik von unten mit einer moralischen Politik auch aus der Regierung heraus. Das war 2003 so, als sich Gerhard Schröder dem Irak-Krieg verweigert hat, das war im Zeichen von Fukushima mit der Energiewende so und das ist jetzt auch in der Flüchtlingspolitik in der Übereinstimmung des zivilgesellschaftlichen Helfersyndroms und der Ansage der Bundeskanzlerin, wir schaffen das und die sind willkommen, genauso, und man könnte vermuten, dass darin möglicherweise ein gewisses realpolitisches Korrektiv jetzt verloren geht. Aber noch einmal: Ich sehe diese moralische Politik per se nicht als eine Gefährdung, sondern als eine große Chance. Wir haben eine große, starke, moralisch engagierte Zivilgesellschaft, und wenn jemand wie Winkler das ein bisschen so spöttisch darstellt, als seien das ein paar linke Romantiker, immer noch wie in den 70er oder 80er-Jahren, die den Westen nicht richtig verstanden haben, dann muss man sagen, diese Kultur, die kommt aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland.
    Es gibt keine objektive Grenze der Aufnahmefähigkeit
    Kapern: Gibt es eine Möglichkeit, diese Einstellung, die sich in Gesellschaft und Politik findet, zu kombinieren mit einer gesunden realpolitischen Einstellung, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen, oder schließen die sich grundsätzlich aus in gewissem Sinne?
    Nolte: Ich glaube, wir müssen da jetzt einfach mal konkret denken und die Gesinnungsethik in Verantwortungsethik übersetzen und in verantwortliche Politik und dann überlegen, was das heißt am Beispiel der Flüchtlingsfrage. Die Vorstellung, bei allem Respekt auch vor dem Bundespräsidenten, es gäbe da irgendwo objektive Grenzen, die ist natürlich falsch. Es gibt keine objektiven Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit. Wohl gibt es aber - und das ist ja das verantwortungsethische Argument -, es gibt Konsequenzen, die wir bedenken sollen. Also müssen wir das mal durchdeklinieren. Machen wir es so, dass wir 500.000 pro Jahr aufnehmen, dann ist das ganz gut verkraftbar. Eine Grenze liegt aber möglicherweise auch nicht bei zwei Millionen, wenn das mal in den nächsten drei Jahren so wäre. Nur müssen wir uns dann darüber klar sein und auch die Decken und Wasser jetzt im Moment herantragenden Bürger müssen sich darüber klar sein, dass das dann andere Konsequenzen hat, dass wir dann vielleicht eine Steuererhöhung bekommen oder dass dann das Schulsystem knirscht, auch mit Konsequenzen für die Klassengröße der eigenen Kinder. Also wir müssen uns so ganz konkret über die Konsequenzen deutlich werden. Das ist für mich die Verbindung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik.
    Kapern: ... sagt Paul Nolte, Historiker an der Freien Universität in Berlin. Herr Nolte, danke, dass Sie heute Früh Zeit für uns hatten. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und sage auf Wiederhören.
    Nolte: Ja, auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.