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Pavel Kohout: "Aus den Tagebüchern eines Europäers"
Spaziergang in die Freiheit

Der tschechische Schriftsteller Pavel Kohout litt unter den Repressalien des kommunistischen Regimes und musste sein Heimatland schließlich verlassen. In seinem jüngsten Buch "Aus den Tagebüchern eines Europäers" blickt er zurück auf sein bewegtes Leben - mit Melancholie und dem typisch tschechischen Humor.

Von Martin Becker | 07.06.2019
Zu sehen ist Pavel Kohout auf dem Cover seines Buches "Aus den Tagebüchern eines Europäers"; im Hintergrund einmarschierende Truppen des Warschauer Paktes in in die damalige CSSR am 21. August 1968.
Der August 1968 prägte Kohouts Dichterleben (Buchcover. Osburg Verlag/ Hintergrund: imago images, CTK)
"Nach dem Desaster des Prager Frühlings glaubte ich, viele von uns erwarten eigentlich ziemlich harte Strafen wie nach '56, inklusive Sibirien oder wenn nicht schlimmer. Und so habe ich das Gefühl gehabt: Ich muss schnell jetzt als Prosa schreiben, was wir eigentlich wirklich gewollt haben, wie das alles angefangen hat und warum das also so enden musste."
Die Katastrophe beginnt eines Morgens in San Marino. Und zwar mit einer klemmenden Jalousie. Der Erzähler ist mit seiner Frau im Sommerurlaub und versucht verzweifelt, die Sonne ins Zimmer zu lassen – er scheitert kläglich an der Reparatur, weil er einige Zentimeter zu klein ist. Es kommt zu einem heftigen Streit mit seiner Frau, deren Urteil über den eigenen Mann vernichtend ausfällt: "Das ganze Leben lang versprecht Ihr uns herrliche Aussichten – und immer kommt Euch irgendeine blöde Jalousie dazwischen." Eigentlich trennen sich der Erzähler Pavel Kohout und seine Frau Jelena kurze Zeit später. Doch vor dem endgültigen Abschied ereilt sie plötzlich eine schreckliche Nachricht aus ihrer tschechoslowakischen Heimat: Der Prager Frühling ist niedergeschlagen, die sowjetischen Panzer sind in Prag eingerollt in diesem August 1968. Das Paar bleibt also zusammen, ihre private Katastrophe wird regelrecht überrollt von der Weltgeschichte. Aus so intimer Perspektive hat man die Invasion der Tschechoslowakei selten gelesen – und dann nennt Pavel Kohout sein Werk auch noch "Tagebuch":
"Vieles in dieser Novelle ist also wirklich das, was wir wirklich mit Jelena erlebt haben."
Im Visier der Mächtigen
Mit seinen "Tagebüchern eines Europäers" legt der Schriftsteller Pavel Kohout ein umfassendes Zeugnis seines bewegten Lebens ab. Er, der zunächst an den Kommunismus glaubte, geriet selbst ins Visier der Mächtigen, wurde aus der Partei ausgeschlossen, war schließlich Mitverfasser der "Charta 77", mit der sich Künstler und Intellektuelle öffentlich gegen die Menschenrechtsverletzungen des kommunistischen Regimes zur Wehr setzten. Als Dramatiker war Kohout da schon bekannt und wurde de facto in seinem Heimatland verboten. 1979 bürgerte sein kommunistisches Heimatland ihn aus, seither lebte er in Wien. Das alles sind die biographischen Fakten, das alles kann man nachlesen in den "Tagebüchern eines Europäers". Nur sollte man sich hüten, jeden einzelnen Satz als autobiographisches Zeugnis zu lesen. Denn Pavel Kohout kommt vom Theater. Er weiß, wie man sich und sein Leben inszeniert. Daraus macht er selbst auch gar kein großes Geheimnis – er hat für seine autobiographisch gefärbten Bücher sogar das Genre des "Memoiromans" erfunden.
"Das ist mein Ausdruck für etwas, das im Prinzip ernst gemeint ist und auch ein echtes Bild der Zeit malt, auf der anderen Seite aber mit literarischen Mitteln arbeitet, wie damit, dass man es einem Dackel erzählt, oder was weiß ich."
"Aus den Tagebüchern eines Europäers" versammelt die Glutkerne der autobiographischen Prosawerke von Pavel Kohout. So erleben wir die Niederschlagung des Prager Frühlings aus Sicht eines Paars im Italienurlaub – der zweite Teil des Buchs hingegen erinnert mehr an einen grotesken Kriminalroman mit traurigem Ausgang: "Der Sommer des Hundes" beginnt im Juli 1978. Gegen den Erzähler gehen Drohungen ein, er wird erpresst und zu aberwitzigen Treffen an der Autobahn genötigt – das alles dient nur einem einzigen Zweck: Die Staatssicherheit will ihm und seiner Familie Angst machen. Natürlich versteckt sich die Polizei hinter Floskeln, man wolle schließlich nur das Beste für die Kohouts. Man rät zu ausgedehnten Urlauben, obwohl die bizarren Aktionen, die von fingierten Erpressungen bis hin zu einer Bombe unter dem Auto reichen, nur ein Ziel verfolgen: Pavel Kohout soll die Tschechoslowakei verlassen. Wie heftig der Druck auf die Dissidenten damals ist, besonders in den Verhören der gefürchteten Geheimpolizei, schildert Kohout eindringlich: "Für einige genügte die Zigarette auf der Hand und das Versprechen zur Ausreise mit der ganzen Familie. Die meisten würde man in existenzielle Not stürzen, sollten sie plötzlich ihre, wenn auch schlecht bezahlte, Beschäftigung verlieren und eine andere nicht finden dürfen." Der triste Höhepunkt der Geschichte: Das Regime vergiftet den geliebten Hund des Erzählers. Das ist der Moment, in welchem er beschließt, sich zu rächen: Einfach, indem er aufschreibt, was ihm widerfahren ist. Der Tod, so der Erzähler habe schließlich eine Achillesferse: das Andenken.
"Ich fand es eigentlich in Ordnung, dass man gegen uns tätig war, dass man uns verhaftete, dass man uns auch schikanierte – aber dass man einen Hund tötet, nur weil man uns nicht töten darf – das kam mir so zynisch vor, dass ich mir gesagt habe, das geht nicht, das werde ich heimzahlen, indem ich ihm ein Buch schreibe."
Das Komische im Tragischen
Die Schilderungen besitzen eine unglaubliche Melancholie und Poesie zugleich: Das Ziffernblatt auf der Uhr des Erzählers beispielsweise wird plötzlich zum Blick in den nächtlichen Himmel. Immer wieder blitzt auch Hoffnung auf: Als Kohouts Stücke nicht mehr gezeigt werden, da inszeniert er sie kurzerhand zusammen mit Freunden auf dem Land – um am Morgen nach einer solchen Laienaufführung zu resümieren: "Im gleichen Raum, wo gestern gemordet wurde, die Reprise des gestrigen gemütlichen Frühstücks zu viert." Das gibt der Schwere der Geschichte nicht nur Hoffnung und Leichtigkeit, das ist vor allem unverkennbar tschechischer Humor.
"Ich meine, der tschechische Humor ist eigentlich verschwägert mit dem jüdischen Humor. Und beides ist Galgenhumor, mehr oder weniger. Wir neigen dazu, und das ist auch gesund, dass man nach dem Tragischen auch immer das Komische im Tragischen sucht."
Kohouts literarische Erinnerungen reichen bis in die jüngste Vergangenheit und Gegenwart hinein: In "Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel" berichtet er nicht nur von seiner Zeit im österreichischen Exil, er erzählt auch von der Zeit des Aufbruchs: Das kommunistische Regime wird durch die "Samtene Revolution" gestürzt, nun ruhen alle Hoffnungen auf dem Mann, den Pavel Kohout als "Beinahe-Bruder" bezeichnet: sein Freund Václav Havel soll Präsident werden. Und während das Volk auf der Straße "Havel auf die Burg" skandiert, erreicht Kohout über Havels Leibwächter ein Zettel mit einigen Wünschen: Der Erzähler soll Havel Stichpunkte für dessen Ansprache an die Menschen im Exil und an die Schriftstellerkollegen liefern – während die historische Schwere des Augenblicks durch den letzten Punkt der Notiz des kommenden Präsidenten gleich wieder ausgehebelt wird: "Nicht sagen, dass ich krank und unmündig bin."
"In dem Moment ließ er sich so gehen, dass ich ihm sagen musste: Du verspielst alles! Und das hat er auch gleich begriffen und ich glaube, er war auch dafür dankbar, dass ihm jemand sagte: Der Dubček darf dich nicht schlagen, er kann nicht, er darf nicht! Du musst also mit aller Kraft die Menschen mobilisieren und eventuell auch die Kommunisten erpressen."
Die Gefahr des Anekdotischen ist groß bei einem Vorhaben wie diesem wortwörtlichen Lebenswerk in Buchform – doch Pavel Kohout ist ein brillanter, kurzweiliger und kluger Erzähler. Zumindest in diesem Sinne hatte die Niederschlagung des Prager Frühlings also einen konstruktiven Effekt: Durch den Einmarsch der Truppen des "Warschauer Pakts" in die Tschechoslowakei begann Pavel Kohout, überhaupt Prosa zu schreiben – und sei es manchmal auch, um sich selbst vor der Gegenwart zu retten:
"In dem Moment, wo ich in ein fremdes Schicksal einsteige, kann ich mein Schicksal vergessen, und weil wir, ich, sehr oft im Leben Probleme hatte, da war es für mich eigentlich ein Spaziergang in die Freiheit, wenn ich nicht über mich nachdenken musste, sondern über die Helden des Romanes."
Pavel Kohout: "Aus den Tagebüchern eines Europäers"
Aus dem Tschechischen von Felix R. Bosonnet, Joachim Bruss,
Marcela Euler, Friederike Gürbig, Silke Klein, Aleš Půda und Gustav Solar.
Osburg Verlag, Hamburg.
580 Seiten, 28 Euro.