Montag, 13. Mai 2024

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Pegida
"Ein überwiegend ostdeutsches Phänomen"

Wer kaum oder gar keinen Kontakt mit Fremden hat, der neigt stärker zur Ablehnung von Fremden. Diese Hypothese sieht Everhard Holtmann bei vielen Pegida-Anhängern bestätigt. Ausschlaggebend seinen auch Ängste, die mit den Brüchen nach der deutschen Einigung zu tun hätten, sagte der Politikwissenschaftler im DLF.

Everhard Holtmann im Gespräch mit Christine Heuer | 20.01.2015
    Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg.
    Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg. (imago / Steffen Schellhorn)
    Dirk-Oliver Heckmann: Monatelang waren die Anhänger der sogenannten Pegida-Bewegung Montags in Dresden auf die Straße gegangen, unter anderem, um gegen eine angebliche Islamisierung der Gesellschaft zu protestieren. Gestern ist der Protestmarsch zum ersten Mal ausgefallen. Grund: Offenbar eine Morddrohung gegenüber einem der Organisatoren, dem vorbestraften Lutz Bachmann. Die Organisatoren, die riefen gestern dazu auf, sich Demonstrationen in anderen Städten anzuschließen, zum Beispiel in München. Doch die Gegendemonstranten, die waren dort bei Weitem in der Überzahl.
    Everhard Holtmann ist Wissenschaftler am Zentrum für Sozialforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und meine Kollegin Christine Heuer hatte die Gelegenheit, mit ihm gestern Abend zu sprechen. Ihre erste Frage: Pegida durfte auf Grund der Sicherheitslage in Dresden nicht demonstrieren. Ist das eine Niederlage der Demokratie?
    Everhard Holtmann: Auf jeden Fall ist das Demonstrationsrecht ja ein Kernbestand der bürgerlichen Freiheitsrechte. Wir haben es historisch gesehen einer selbstherrlichen Obrigkeit abgetrotzt und daher hat es für freiheitliche Gesellschaften einen nicht nur symbolischen hohen Erkennungswert, und wenn daran aus welchen Gründen auch immer gerüttelt wird, dann ist das in der Tat ein Problem, was alle herausfordert.
    "Gefahr, dass man sich in eine Opferrolle hineinbegibt"
    Christine Heuer: Sie sagen, aus welchen Gründen auch immer. Finden Sie, die Polizei hat übertrieben?
    Holtmann: Das, denke ich, wird man den Sicherheitsbehörden, die in Dresden sich für das Demonstrationsverbot entschieden haben, so nicht unterstellen dürfen, und dass je nach örtlicher Lage ja auch die Sicherheitsorgane zu unterschiedlichen Entscheidungen heute gekommen sind, zeigt ja, dass andernorts sowohl Pegida-Ableger als auch Gegendemonstranten demonstriert haben. Man mag darin auch ein positives Element dieser Dilemma-Lage sehen, dass es offenbar doch Möglichkeiten gibt, je nach Ort und Lage zu entscheiden.
    Heuer: In Dresden war das offenbar nicht möglich. Man kann das darauf zurückführen, dass da Pegida am stärksten ist. Spielt das Verbot Pegida in die Hände als Sieg der Islamisten?
    Holtmann: Das ist nicht ganz auszuschließen, dass Pegida selbst daraus propagandistisch für sich selbst Kapital schlagen kann, indem man sich gewissermaßen in eine Opferrolle hineinbegibt, und auf der anderen Seite in der Tat besteht die Gefahr, dass dadurch den langfristigen strategischen Zielen der islamistischen Terroristen in die Hände gespielt wird, denn denen geht es ja augenscheinlich darum, die vermeintliche oder auch tatsächliche Bedrohungslage in unserer Gesellschaft aufzuwiegeln, in unserer wie in anderen europäischen Gesellschaften, um so für Verunsicherung zu sorgen, für Radikalisierung zu sorgen, Ängste freizusetzen, was dann wiederum die staatlichen Organe zu entsprechenden Gegenmaßnahmen nötigt, und all das - so denken diese Menschen oder Unmenschen - nützt dann ihren eigenen Zielen.
    "Subjektive Ängste und Bedrohungslagen"
    Teilnehmer der islamkritischen Pegida-Demonstration in Dresden.
    Teilnehmer der islamkritischen Pegida-Demonstration in Dresden. (picture alliance / dpa / Peter Endig)
    Heuer: Wie sieht er denn aus, der typische Pegida-Demonstrant?
    Holtmann: Ich denke, da muss man auch ein bisschen vorsichtig sein. Wir haben hier eine vergleichsweise schwache empirische Basis, auch wenn inzwischen die verdienstvolle ad hoc Studie unserer Dresdener Kollegen vorliegt, aber die hohe Verweigerungsquote, die ja auch gar nicht überraschend ist, von etwa 60 Prozent lässt die Ergebnisse doch in einem ziemlich unsicheren empirischen Licht erscheinen. Was man sicherlich sagen kann aus meiner Sicht ist, dass Pegida kein ausschließliches, aber doch überwiegendes ostdeutsches Phänomen bisher ist.
    Das hat meines Erachtens drei Gründe. Zum einen bestätigt sich die von den Soziologen immer wieder ins Feld geführte und bewahrheitete Kontakthypothese. Das heißt, wer kaum oder gar keinen Kontakt mit Fremden hat, der neigt stärker zur Ablehnung von Fremden, und wir wissen alle, dass statistisch die Ausländerquote in Ostdeutschland bei etwa drei Prozent liegt. Und zum anderen kommt hinzu aus meiner Sicht die auch schon seit längerem bekannte, sehr viel geringere Organisationsdichte der gesellschaftlichen Großorganisationen in Ostdeutschland, also der Parteien, der Kirchen und der Gewerkschaften, und ich denke, dass damit auch die Filterfunktion solcher Großorganisationen wegfällt. Das heißt, dass sich Proteste dann vergleichsweise ungefiltert gleich an, wie es dann heißt, gegen die da oben richten können.
    Heuer: Heißt das, Herr Holtmann, der typische Pegida-Demonstrant ist ein heimatloser Jammer-Ossi?
    Holtmann: Das ist, glaube ich, auch etwas zu unscharf gezeichnet. Es geht ja nicht um Jammer. Es geht - und da muss man, glaube ich, auch ein bisschen analytische Gerechtigkeit walten lassen - auch darum, und damit bin ich bei dem dritten Punkt, der auch in Ostdeutschland vielleicht am stärksten durchgreift. Es geht darum, dass subjektiv ja Ängste und Unsicherheiten, Bedrohungsgefühle vorhanden sind, und da mag eine Rolle spielen, dass die Erfahrungen, die viele Menschen mit den Brüchen in den ersten Jahren nach der deutschen Einigung gemacht haben, die sich auswirkten in Arbeitslosigkeit, in Karriereknick und auch dem Verlust von Selbstwertgefühl, dass diese Ängste und Unsicherheiten immer noch gleichsam subkutan vorhanden sind. Und dass dann solche Ängste als Furcht vor dem Unvorhersehbaren mobilisiert werden und dass auch in Situationen gefühlter Unsicherheit solche Abwehrmechanismen dann aktiviert werden, das ist etwas anderes als Jammerei.
    "Zusammenspiel mit AfD könnte sich etablieren"
    Heuer: Wird Pegida durch die jüngsten Ereignisse eher noch länger auf der Straße sein, oder glauben Sie - das ist die Frage nach Ihrer Prognose, Herr Holtmann -, dass sich das Phänomen in absehbarer Zeit dann vielleicht doch auch mal wieder erledigt?
    Holtmann: Es ist beides möglich. Es kann durchaus sein, wenn die Terrorismusgefahr sich nicht nur latent und abstrakt, sondern auch konkret in Anschlägen, was wir alle nicht hoffen wollen, doch wiederholt, dass das dann auch Wasser auf die Mühlen von Pegida ist. Es kann aber auch sein, dass sich das nach einer gewissen Zeit gewissermaßen selbst totläuft, es sei denn - und das wäre dann das Muster, was wir vom Zusammenspiel zwischen neuen sozialen Bewegungen und neu gegründeten Parteien hätten -, es sei denn, Pegida fände dauerhaft Anschluss an eine Partei, und unter diesem Aspekt werden wir auch sehr mit großem Interesse beobachten, wie sich dieses Verhältnis, was sich ja derzeit anbahnt, zwischen AfD einerseits und Pegida-Gruppierungen andererseits tatsächlich gestaltet.
    Heckmann: Everhard Holtmann war das vom Zentrum für Sozialforschung an der Universität Halle-Wittenberg. Die Fragen stellte meine Kollegin Christine Heuer.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.