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SAID: „ein vibrierendes kind“
Persische Kindheit um 1950

In seinem posthum erschienen Roman führt SAID die Leserschaft in seine Teheraner Kindheit zurück. Die Prosaminiaturen im Stile von Walter Benjamins „Berliner Kindheit“ leuchten durch ihre Einfachheit und erzählerische Konzentration.

Von Christian Metz | 28.07.2022
    SAID: "Ein vibrierendes Kind"
    Der aus Teheran stammende Schriftsteller SAID, der am 15. Mai 2021 gestorben ist, lebte seit 1965 - mit kurzer Unterbrechung im Jahr zwischen den Diktaturen im Iran, 1979 - in Deutschland. In "ein vibrierendes kind" imaginiert er die ferne Zeit der Jugend herbei. (Portraitfoto: privat / Cover: Verlag C.H.Beck)
    In SAIDs Erzählen herrscht – wie auch in seiner Poesie – das Gebot größtmöglicher Einfachheit. Seine Sätze sind so ausgefeilt, dass auch das Schwierigste leicht klingt. Diese hart erarbeitete Simplizität ermöglicht SAIDs Lesern, sich vollkommen selbstverständlich und sicher in den erzählten Welten zu bewegen. Um dann offen für Überraschungen zu sein. Im Falle der jetzt, ein Jahr nach dem Tod des großen Autors, vorliegenden „erinnerungen an eine persische kindheit“ gilt dies gleichsam von Geburt an:
     „das kind wird an einem mittwoch um drei uhr nachmittags geboren.
    in einem krankenhaus.
    auf diesen ort haben sich die eltern geeinigt.
    zur stunde der geburt sind sie geschieden.
    die ehe hat 41 tage gedauert.
    die mutter ist bei der geburt 14 jahre alt und blutet stark.“
    Lakonisch, knapp, kein Satz länger als eine Zeile, und doch enthalten diese sechs Sätze ein ganzes Ehedrama, eine Gesellschaftsstudie (Scheidung möglich, Krankenhausgeburten ungewöhnlich), die Erzählung von einem elterlichen Geburts-Pakt, sowie die Ab-ovo-Erfahrung von Schmerz und Trennung. Tatsächlich sieht der Erzähler in den knapp 17 Jahren, von denen dieser Erinnerungstext handelt, seine Mutter kein einziges Mal wieder. Er wächst bei seinem Vater auf, einem hochrangigen Militär, der seinerseits häufig unterwegs ist:
    „fortan lebt das kind in angst, vater würde wieder verschwinden. geht er zur toilette – zu einem plumpsklo in der ecke des hofes –, hält das kind davor wache. die erwachsenen lachen. dann wacht das kind eines tages auf, und vater ist wieder fort.“

    Aufwachsen zwischen Ersatzmüttern

    Nicht „der Vater“, sondern Vater ist wieder fort; wie nah die Erzählung an das vergangene Gefühl rücken kann. Bevor die persische Kindheit in Folge einem Aufwachsen zwischen Ersatzmüttern gleichkommt. Das Kind befindet sich in wechselnder Obhut von der Schwester des Vaters, der „tante zinat, einer später hinzukommenden neuen Frau des Vaters, die Halbmutter genannt, und vor allem der Großmutter väterlicherseits. Eine extrem eigensinnige, haustyrannisch veranlagte, ebenso gläubige wie abergläubige, antisemitisch wie homophob denkende Frau, die nicht zuletzt – was für den Jungen tagtägliche Folgen hat – sauberkeitsfanatisch und übervorsichtig ist. „Großmutter witterte Gefahr“, lautet ein prägendes Kindheitsmuster:
    „großmutter bringt das kind zu einem wasserhahn auf dem bahnhof. „du wäschst das gesicht.“ das wasser ist kalt, das kind liebt es und will davon trinken. großmutter verbietet es.“

    Das Kind und die Phantasien vom Fliegen

    Früh entdeckt das Kind in der Enge der Großmutterobhut die kleinen Epiphanien des Alltags und die Kraft der eigenen Einbildungskraft für sich. Wie ein roter Faden ziehen sich die Flugphantasien und -träume durch diese Kindheitserinnerung:
    „von der baumkrone fliegt das kind hinauf.
    es bleibt im himmel stehen – wie ein pirol sich in der luft hält –
    ohne zu flattern. […]
    in den klaren nächten fliegt es sogar zu den sternen.
    das kind fliegt fort – wann immer es nötig ist.“
    Nie länger als eine Druckseite springen die erzählerischen Miniaturen von einem einprägsamen Moment zum anderen. In größtmöglicher Einfachheit zu erzählen, bedeutet durchaus, die Angst vor Klischees abzulegen. Zumindest solange Leben heißt, sich auch in Stereotypen zu bewegen. Seine erste Zigarette raucht der Erzähler daher genau in dem Alter, als seine Mutter ihn geboren hat: Mit 14 Jahren, allein auf einer Parkbank, flugbereit:
    „auf dem wege zur schule beschließt das kind, endlich eine zigarette zu rauchen. natürlich winston, weil amerikanisch. es kauft eine zigarette, geht in den park und setzt sich auf eine bank. […]
    das kind lehnt sich zurück und gibt sich der zigarette hin.
    der park dreht sich vor seinen augen.
    das kind schwebt fort – auf eigenen flügeln – aus dieser stadt mit ihren verboten.“

    Einen Hauch von Freiheit atmen

    Als dieses Kind wenige Jahre später zum Erwachsenen geworden ist, bleibt ihm in SAIDS Miniaturen weiterhin die Bezeichnung „das Kind“. Und doch beschließt dieser junge Mann unter dem kindlichen Decknamen, den Iran für das Studium zu verlassen. Der Vater macht mit seiner Hilfe und seinen Kontakten die Reise möglich. Am Flughafen blickt der Erzähler noch einmal zurück – für eine letzte Sekunde vielleicht noch das Kind:
    „nach der letzten polizeikontrolle dreht sich das kind um:
    da steht vater; in seiner uniform, das gesicht voll tränen.
    das kind geht über das rollfeld und steigt ins flugzeug der iran air.
    als es sich in der luft fühlt, läutet es und verlangt eine schachtel amerika-
    nische winston.“
    SAID war ein Präzisionserzähler. Der perfekte Kreisschluss war sein bevorzugtes erzählerisches Element. Zufälle? Nur wenn sie gewollt waren. Im Flugzeug nach Deutschland werden im Rauch der Zigarette die kindlichen Phantasien wahr: der Auszug aus der Tyrannei der Verbote in ein anderes Land. Es sollte das Leben eines großen deutschsprachigen Dichters und Erzählers werden, dessen Erinnerungen bleiben.
    SAID: „ein vibrierendes kind. erinnerungen an eine persische kindheit“
    Mit einem Nachwort von Michael Scholz
    C.H. Beck Verlag, München
    272 Seiten, 23 Euro.