Heinlein: Muss man sich also auf Dauer darauf einrichten, dass Deutschland nicht mehr die dritte Rolle im Weltsport einnimmt?
Digel: Ich denke, die Reihenfolge ist relativ klar. China ist die aufsteigende Nation. Das war zu erwarten. In Peking wird es Nummer eins sein, das wird zum ersten Mal für die USA in gewisser Weise vermutlich eine Demütigung werden, denn sie haben den olympischen Sport dominiert seit den ersten olympischen Spielen. Nun ist China auf dem Vormarsch. Sehr systematisch wird auf diese Spiele hingearbeitet, mit wissenschaftlicher Unterstützung. Es wird sehr viel Geld in den Hochleistungssport in China investiert und deswegen gehe ich davon aus, dass China die Nummer eins werden wird. USA wird sicher weiter eine Weltsportnation bleiben, an zweiter Stelle sich behaupten können. Russland hat alle Investitionen getätigt und kann auch weiterhin diese Position einnehmen.
Heinlein: Warum ist das, was in China möglich ist, nicht auch für den deutschen Sport möglich, gezielte Spitzenförderung durch viel Geld?
Digel: Ich denke, nicht China sollte unser Modell sein, aber wir müssen uns schon fragen, wie ist es möglich, dass wir seit 1988 kontinuierlich an Boden verlieren? Wie ist es möglich, dass es eine lineare Abwärtsentwicklung gibt? Wir hatten ja noch 55 Goldmedaillen in Sydney, wenn wir jetzt noch ganz zurückschauen auf das Jahr 1988, so waren es 144 Medaillen, in einer Kombination DDR und ehemalige BRD. Dabei war aber der Anteil der BRD bei dem geringen Anteil von 14 Medaillen gelegen.
Heinlein: Können Sie diese Frage beantworten, die Sie gerade gestellt haben? Woran liegt es, dass es mit dem deutschen Sport, zumindest was die Medaillen anbelangt, kontinuierlich abwärts geht?
Digel: Ja, ich glaube, dass wir nicht die Mittel ergreifen, die wir haben, um gegenzusteuern. Das hat uns Australien gezeigt, das hat uns auch England gezeigt. England war vor wenigen Jahren am zwanzigsten Platz der Weltrangliste angelangt. Sie hatten die große Demütigung in Atlanta und seit dem ein systematisches, qualifiziertes Erneuerungskonzept durchgesetzt und dazu sind wir derzeit offensichtlich nicht in der Lage. In Deutschland sprechen viele, zu viele mit im Hochleistungssport. Wir haben eine Bürokratie aufgebaut, die sich eher durch Verworrenheit auszeichnet. Da gibt es den Innenminister mit einer großen Sportabteilung, da gibt es den deutschen Sportbund, da gibt es das nationale, olympische Komitee, da gibt es die deutsche Stiftung Sporthilfe, dann gibt es 20 Olympiastützpunkte, dann gibt es die Landesleistungsausschüsse. Alle wollen mitsprechen und dabei entstehen sehr lange Kommunikationswege. Diese Strukturen sind nicht effizient.
Heinlein: Also es muss zu Strukturveränderungen kommen?
Digel: Und zu Personalveränderungen. Ich denke, Erneuerung entsteht immer auch durch Personalwechsel, durch eine grundsätzliche Erneuerung. Man muss den Mut zur Erneuerung haben. Eine Strukturänderung alleine genügt nicht, wenn man nicht auch neu motiviert - in vielen Verbänden ist das ein überalterter Stab, der schon 15 Jahre durchaus gute Arbeit geleistet hat, aber es ist nun einmal so, wie auch im beruflichen Leben: Wenn nicht Wechsel entstehen, entsteht Lethargie, denn man ist ausgebrannt, man hat nicht mehr den gleichen Elan, wie man begonnen hatte. Insofern, denke ich, sind ja Prozesse, die sehr natürlich sind, im Gange.
Heinlein: An wen denken Sie denn, wenn Sie über personelle Wechsel nachdenken?
Digel: Ich glaube, dass diese vor allen Dingen auch in den Verbänden selbst wichtig sind, dass man neue Dynamik erzeugt. Aber eines ist auch wichtig: Auch die Führung denke ich, muss neu motivieren, muss neue Ziele sich geben und da könnte man sich durchaus wünschen, dass die eine oder andere personelle Erneuerung in den Dachorganisationen selbst erwünscht wäre.
Heinlein: Sind Sie denn mit dieser Meinung alleine, oder wird das rasch gehen mit der angedachten Fusion von NOK und dem deutschen Sportbund DSB?
Digel: Also ich hoffe, dass wir zu einer sachgemäßen Diskussion finden, das heißt, dass man sich nicht nur mit den öffentlichen Medien auseinander setzt mit seinen Problemen, sondern, dass man zunächst einmal sich in den Gremien des Sportes selbst auseinandersetzt, dass man sich die notwendige Zeit nimmt, dass es nicht zu Schnelllösungen, das heißt, zu Schnellschüssen kommt, die uns nicht weiterbringen, dass man nur noch reagiert auf das, was in den Medien steht, sondern, dass man zunächst einmal die Problemanalyse wagt, das man fragt: Wo haben wir unsere Schwächen? Dass man zum zweiten wagt: Was könnten geeignete Lösungen sein? Und dann aber auch fragt: Mit welchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit welchen Führungspersonen kann man diese Lösungen erreichen?
Heinlein: Zum Schluss müssen wir über eine Thema noch reden, über Doping. Der deutsche NOK-Chefmediziner Kindermann hat erklärt, im internationalen Vergleich seien gerade die deutschen Leichtathleten durch das weltweite Doping chancenlos. Die Formulierung war, man kämpfe mit Müsli gegen Atombomben. Ist das für Sie eine richtige Analyse oder eine schlechte Entschuldigung?
Digel: Das ist eine schlechte Entschuldigung und ich denke wir Deutschen sollten auch vorsichtig sein, wenn wir mit dem Finger auf andere zeigen. Auch wir hatten Leute, die Urinproben manipuliert haben, auch wir hatten Leute, die schon Dopingkontrollen verweigert haben. In der Tat sind diese olympischen Spiele durch das Doping beeinträchtigt gewesen. Aber das war gewollt. Man wollte der Welt zeigen, dass man engagiert gegen Doping kämpft und deshalb haben diejenigen, die dies zu verantworten haben das höchste Lob verdient. Aber in der Leichtathletik und auch in anderen Sportarten müssen die Verantwortlichen sich die Frage stellen: Tun sie genug, um ihre Sportart öffentlich positiver darzustellen, dass heißt, als saubere Sportart darzustellen? Tun sie genug, um das Prinzip des Fair Play, das die Sportart leiten muss, zu schützen? Hier glaube ich, sind wir an einem Punkt angelangt, wo sich diese Frage nun wirklich zur zentralen Frage entwickelt hat. Denn das, was hier in Athen passierte, wurde von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen. Die Zuschauer fragen sich - und nicht nur die Zuschauer - was finden hier für Wettkämpfe statt? Wie viele sind gedopt, wie viele sind noch sauber? Und so wurde die Frage noch nie an Sportart herangetragen.