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Peter Carey: "Das schnellste Rennen ihres Lebens"
Fesselnder Blick auf die "gestohlene Generation"

Der australische Autor Peter Carey blättert in der Geschichte Australiens zurück in die 1950er-Jahre, als Kinder der Aborigines ihren Eltern gestohlen wurden. Ein Autorennen und ein Familiengeheimnis bieten den Hintergrund für diesen Roman, der einem geschichtensatten Sittengemälde ähnelt.

Von Johannes Kaiser | 31.07.2019
Buchcover: Peter Carey: „Das schnellste Rennen ihres Lebens“
Das schnellste Rennen ihres Lebens ist der neue Roman von Peter Carey (Foto: dpa/picture alliance/Hinrich Bäsemann, Buchcover: S. Fischer Verlag)
Vor gut drei Jahren erinnerte sich der inzwischen 76-jährige Peter Carey an ein aufregendes Erlebnis aus seiner Kindheit. Damals führte das berühmteste Autorennen Australiens, das 10.000 Meilen lange Redex Reliability Trial, das rund um den fünften Kontinent führte, auch durch Careys Heimatstadt Bacchus Marsh, eine Kleinstadt vor den Toren Melbournes. Er recherchierte seinen Erinnerungen nach und wurde stutzig:
"Da die Autos bis ans oberste Ende Australiens kamen, hätte man erwarten sollen, dass auch einige indigene Einwohner mit in den Autos gesessen hätten. Das brachte mich dazu, darüber nachzudenken, was diese weißen Leute in ihren Autos da eigentlich machten. Sie waren gewissermaßen wie Tiere, die ihr Territorium markierten. Sie zeichneten eine Karte, wie sich die Weißen Australien vorstellten. Sie hatten tatsächlich keine Ahnung, wo sie sich eigentlich befanden. Das gesamte Land, durch das sie fuhren, war von den Geschichten der Aborigines und ihren Zeremonien durchzogen. Sie war sich nicht bewusst, dass sie durch eine 50.000 Jahre alte Kultur fuhren. Dadrin sah ich ein Buch, denn ich bekam zwei unterschiedliche Landkartensätze."
Heikle Familienangelegenheiten
In Careys Geschichte werden zwei Nachbarn zum Rennteam. Zum einen die Familie Bobs. Sie handelt mit Autos. Da ist der Autohändler Großvater Dan, Sohn Tich und seine Ehefrau Irene sowie zwei Kinder. Zum anderen gibt es Willie Bachhuber, den 28-jährigen Nachbarn, der gerade aus dem Schuldienst geworfen worden wurde, weil er einen Schüler etwas zu hart angefasst hat.
Wir schreiben das Jahr 1954. Tich Bobs ist mit seinen 1.61 Meter nicht gerade von imponierendem Gardemaß, aber ein begnadeter Autoverkäufer, der auch einem Blinden einen Wagen aufzuschwatzen vermag. Er versucht gerade, sich als Autohändler selbstständig zu machen, um sich von seinem herrschsüchtigen Vater zu lösen. Seine Ehefrau Irene fädelt heimlich im Hintergrund einen Deal mit General Motors ein. Das Unternehmen bietet Tich als Werbemaßnahme einen Wagen an, um am Autorennen Redex Reliability Trial teilzunehmen, ein Härtetest für jedes Auto. Tich, ein Spieler, ist Feuer und Flamme.
Eine Feministin vor ihrer Zeit
Er und seine Frau Irene werden sich am Steuer ablösen. Fehlt noch ein Navigator und da bietet sich Nachbar Willie geradezu an, denn der verfügt nicht nur über ein enzyklopädisches Wissen, sondern ist auch ein begnadeter Karten- und Landschaftsleser. Irene und Willie werden zu den beiden Ich-Erzählern. Peter Carey:
"Mein Vater und meine Mutter hatten damals ein Autogeschäft in Bacchus Marsh und ich habe während meiner Kindheit miterlebt, wie meine Mutter täglich mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass sie in Australien in den 50er-Jahren als Frau darum kämpfen musste, dass man ihr zuhörte und sie ernst nahm. Und ich dachte, wenn ich über Irene schreibe, dann schreibe ich zwar nicht über meine Mutter, das hätte ich mir verboten, sie gleicht ihr keineswegs, - aber dieses vorfeministische Bewusstsein, das Irene verkörpert, das hatte auch meine Mutter. Irenes Stimme ist resolut und energiegeladen. Man könnte sie eine Feministin nennen. Auch wenn sie nicht bewusst Feministin ist, so ist sie doch nahe dran und verhält sich so."
In der Tat: Irene kann genauso gut Autos reparieren wie jeder Monteur, weiß sich während des ganzen Rennens selbst zu helfen, sie ist clever und trickreich. Das ist auf dieser abenteuerlichen 10.000 Meilen Tour durch Sandwüsten und Sümpfe, reißende Flüsse und Schotterfelder auch nötig. Als ihr Mann Tich kurzzeitig ausfällt, bewältigt Irene zusammen mit dem Navigator Willie etliche Pannen. Peter Careys Sympathie gilt eindeutig dieser Figur.
Auch Willie ist dem Leser sympathisch, auch wenn man länger braucht, um zu begreifen, was ihn antreibt. Willie ist auf der Flucht vor den Behörden, weil er seinen Unterhaltspflichten nicht nachkommen will. Seine Frau, ein weißes Mittelschichtsmädchen, hat ein schwarzes Baby bekommen. Willie, hellhäutig wie sie, ist schockiert und unterstellt ihr ein Verhältnis mit einem schwarzen amerikanischen Freund. Doch das erweist sich als Trugschluss. Peter Carey:
"Willi hat von seinem Erbe keine Ahnung. Er glaubt, dass sein Vater ein deutscher lutherischer Pastor sei, er also deutscher Abstammung sei. Er hat das Gefühl, nicht dazu zu gehören und sehnt sich mit einer Art von Melancholie nach einem Deutschland, das er nur von Karten her kennt. Wir ahnen, dass diese Gefühle einen anderen Ursprung haben und entdecken dann tatsächlich, dass Willi adoptiert worden ist. Sie wissen sicherlich, dass in Australien viele schändliche Jahre lang Kinder von Aborigines ihren Eltern weggenommen und von weißen Familien adoptiert worden sind. Ich kenne persönlich Leute, die im Alter von 50 oder 60 entdeckt haben, dass sie Aborigines sind. Das gehört mit zur Barbarei gegenüber den Aborigines. Man nennt dies die 'Gestohlene Generation'. Diese Menschen sind immer noch am Leben und versuchen damit klar zu kommen, wer sie sind und woher sie kommen."
Australier sind die Nachfahren von Opfern und Tätern
Willie, der sich für einen Weißen hielt und aufgrund seiner hellen Haut als Aborigine nicht sofort erkennbar war, ist aber nicht der einzige, der dazulernt. Auch Irene, die wie die meisten Weißen damals die Aborigines verachtet, überdenkt ihre Haltung, als sie Willies Hintergrund erfährt. Und genau das wollte Peter Carey mit seinem Buch erreichen:
"Wir sind unbewusst Rassisten. Wir hatten eine Einwanderungspolitik, die weiße australische Politik genannt wurde. Die war genau das. Australien ist außerdem ein Land, das seine Herkunft leugnet, und zwar seine Geschichte als englische Strafkolonie. Wir haben immer geglaubt, dass die Strafgefangenen mit uns nichts zu tun haben. Je näher man hinschaut, desto deutlicher begreift man, dass wir, egal ob nun genetisch oder nicht, psychologisch doch die Nachkommen sind. In ihrem Verhalten kann man Australiern immer noch ihre Herkunft als Strafkolonie anmerken. So sind wir zugleich die Abkömmlinge von Opfern und Tätern."
Das Risiko, als Schriftsteller zu versagen
Für diesen Roman stand eine selbst für Peter Carey ungewöhnlich politische Haltung auf der Agenda. Er hat lange gezögert, das Thema der Stolen Generation aufzugreifen:
"Ich habe gezögert, weil man glaubt, man habe als Weißer kein Recht, über das Leben der Ureinwohner zu schreiben. 1984 war ich zu einer Konferenz eingeladen. Da stand der Aktivist der Aborigines Gary Foley auf der Bühne und sagte: ‚Ich weiß, ihr seid alles nette Leute und wollt uns helfen und über uns schreiben. Tut mir einen Gefallen: Tut das nicht. Es gibt schon genügend Unsinn, mit dem wir uns herumschlagen müssen.‘ Und ich dachte, du hast recht und habe das bei meiner schriftstellerischen Arbeit seitdem berücksichtigt. Aber nun denke ich, ich bin jetzt 74 und könnte sterben, ohne als australischer Schriftsteller jemals über dieses wichtige Thema geschrieben zu haben. Ich habe also das Risiko auf mich genommen, zu versagen. Ich hätte es schon viel früher in meinem Leben machen sollen."
Bei allem Respekt vor dem politisch-moralischem Hintergrund hat Peter Carey doch wieder ein typisches Carey Buch geschrieben: ausgesprochen prächtig ausgemalte Landschaftsschilderungen, überzeugende Figuren, abenteuerliche Ereignisse, dramatische Konflikte. Sein Roman ist ein pures Lesevergnügen, das viel zu früh endet.
Peter Carey: "Das schnellste Rennen ihres Lebens."
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Fischer Verlag Frankfurt a.M., 480 Seiten, 24 Euro.