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Peter Härtling: "Djadi, Flüchtlingsjunge"
Aus Angst und Schwäche wird Stärke

Der Flüchtlingsjunge Djadi kommt in der WG seines Sozialarbeiters unter, wo er von allen liebevoll aufgenommen wird. Viel erzählt er über seine Flucht nicht. An seinen Reaktionen ist ablesbar, wie traumatisiert er ist. Peter Härtling verarbeitet in "Djadi, Flüchtlingsjunge" auch eigene Fluchterfahrungen.

Von Martina Wehlte-Höschele | 21.01.2017
    Der Schriftsteller Peter Härtling im Garten seines Hauses in Walldorf (Hessen) bei Frankfurt.
    Flucht ist für den Schriftsteller Peter Härtling ein Lebensthema. (dpa / Daniel Reinhardt)
    Peter Härtling kann auf eine lange Reihe erfolgreicher Jugend- und Erwachsenenbücher zurückblicken und hat darin immer wieder Flüchtlingsschicksale geschildert, in die seine eigenen schmerzlichen Kindheitserfahrungen eingeflossen sind. Nun ist kurz vor seinem 83. Geburtstag im November 2016 der Jugendroman Djadi, Flüchtlingsjunge erschienen und fügt Peter Härtlings Lebensthema "Flucht" eine aktuelle Facette hinzu.
    "Ja, das ist mein Lebensthema und es begann damit, dass ich selber fliehen musste und diese Erfahrung habe ich nie vergessen. Ich hab öfter davon erzählt, in Romanen, und als jetzt die große Flüchtlingsbewegung kam, die im Übrigen zu erwarten war in dieser kaputten Welt, da war mir klar, dass ich irgendwie reagieren müsste und dass ich genau genommen Kindern erzählen sollte, was Flucht bedeutet. Und so fand ich den Djadi."
    Djadi ist ein etwa elfjähriger Flüchtlingsjunge aus Syrien, genau weiß man das nicht, denn seine Eltern und Geschwister sind auf der Fahrt übers Mittelmeer ertrunken. Der Sozialarbeiter Jan nimmt ihn mit nach Hause, in einer Mischung aus unmittelbarer Zuneigung, Mitleid und Idealismus. Dieses Zuhause ist eine Wohngemeinschaft, die sich aus den Neunzehnhundertsiebzigern erhalten hat und die mit ihren in die Jahre gekommenen Mitgliedern auf erwachsene Leser geradezu etwas amüsant wirkt.
    Die drei kinderlosen Pärchen – Jan und seine Frau Dorothea, das Lehrerehepaar Wladi und Kordula sowie die Steuerberater Detlef und Gisela – diese sechs Personen haben sich vom vormaligen Alternativmilieu in eine gutbürgerliche Lebenssituation katapultiert und in einer großzügigen Wohnetage eingerichtet.
    WG als Urbild der Gesellschaft
    In ihnen mobilisiert Djadis unerwartetes Eintreffen noch einmal den Idealismus und das gesellschaftliche Engagement der Aufbruchszeit – wohlweislich mit dem Bedacht, den sie aus einigen Jahrzehnten Lebenserfahrung seither gewonnen haben. Wie sonst könnten sie gegen behördlichen Argwohn bestehen, als sie den Jungen bei sich aufnehmen. Peter Härtling hat in der Konstellation dieser WG - als Urbild der Gesellschaft, als etwas historisch Gewachsenem - zeigen wollen, wie Menschen unterschiedlich auf das Flüchtlingskind reagieren.
    Djadi hat es gut getroffen, denn er wird als Schützling der Wohngemeinschaft behutsam aufgenommen und bald nach Kräften gefördert. Am nächsten steht ihm der pensionierte Lehrer Wladi, der viel Zeit mit ihm verbringt und nicht nur zum Freund, sondern zu Papa und Mama in einem wird. Peter Härtling hat einen wunderschönen Ausklang des Romans geschaffen, indem er Djadi am Ende - es sind vier Jahre vergangen - zwei schwarze Steine mit "P" und "M" auf Wladis Grab stellen lässt. Ähnlich wie bei dem Jugendroman Krücke sind auch in Djadi, Flüchtlingsjunge eigene Erfahrungen und lebenslange Erinnerungen, sublimiert Autobiografisches, eingeflossen, gerade in die Figur des Wladi:
    "Ich hab mich schon ein bisschen mit Wladi identifiziert und ich habe in meiner Kindheit solche Wladis auch kennengelernt, in Nürtingen. Das sind meine drei Retter, meine Säulenheiligen. Das ist mein Deutschlehrer, mein Pfarrer und ein wunderbarer, großer Künstler, die drei haben mir auf die Sprünge geholfen. Während meine Familie es nicht konnte, die einfach zerrieben war von der Not und von der Hilflosigkeit in einer fremden Umgebung."
    Die Geschichte Djadis ist fiktiv, aber sein Fluchtschicksal hat leider seine tausendfache Entsprechung in der Realität. Sechzig Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht und seit zwei Jahren erfahren wir täglich aus den Medien von ihren langen, lebensgefährlichen Wegen, von skrupellosen Schleppern und Toten, von dramatischen Rettungsaktionen, trostlosen Aufnahmelagern.
    Flüchtlingsschicksale sind erschreckend und traurig, denn sie erzählen vom Verlust der Heimat, von Ungewissheit und Gefahr, Armut, Ausgeliefertsein und Hilfsbedürftigkeit, von Lebensangst und Sprachlosigkeit. All das bleibt bei Peter Härtling im Hintergrund als die Folie, auf der sich Djadis Verhalten als das eines traumatisierten Menschen erklärt.
    Djadi redet wenig über seine Erlebnisse
    Er gibt wenig von seinen Erlebnissen preis und der Leser mag die Schrecken nur aus den gelegentlich schwer nachvollziehbaren panischen Reaktionen erahnen. Dabei schildert der Autor auch diese dramatischen Situationen in seiner charakteristisch klaren Ausdrucksweise, den kurzen, einfach gebauten Sätzen, authentischen Alltagsdialogen, - einem angenehm unprätentiösen Stil.
    So ist Djadi an einer Stelle des Buches unvermittelt weggerannt, will allein sein und durchlebt noch einmal die Situation auf dem Flüchtlingsboot. Als man ihn völlig erschöpft wieder aufgelesen hat, fragt Jan vorsichtig nach dem Grund seines Verschwindens. Djadi stockt und sagt dann rasch:
    "Es ist nichts." Jan drehte sich zu ihm um: "Was bedeutet das?" "Ich bin falsch." - "Und was heißt das?" - "Ich passe nicht." Jan fasste ihn an den Schultern: "Unsinn." Und nach einer Pause fügte er hinzu: "Aber vielleicht stimmt es sogar. Nach allem, was du in deinem Jungenkopf gespeichert hast, ist es denkbar."
    Auf der Welle der Fantasy-Literatur ist Peter Härtling nie mitgeschwommen und es hat auch keiner Fantasieprojektionen seiner Protagonisten auf märchenhafte oder mystische Erscheinungen bedurft, um ersichtlich zu machen, was in ihnen vorgeht. Peter Härtling beobachtet mit Leidenschaft Menschen in ihren Zusammenhängen. Und diese Beobachtungen sind das Rohmaterial, auf das er immer wieder zurückgreifen kann.
    "Wirklichkeit ist unendlich reich, während Fantasy Reichtum vorspielt."
    Woraus gewinnt nun Djadi seine zunehmende Selbstsicherheit, seine Ruhe und letztlich seine Stärke? Am Anfang der Geschichte, als er gerade in der WG angekommen ist, flüchtet er sich blitzschnell unters Sofa, wenn es an der Tür klingelt; auch fremde Umgebungen machen ihm Angst. Aber:
    "Diese Ängste verarbeitet er, indem er sich an die Menschen anlehnt, die er mag. Und daraus gewinnt er Stärke, nicht aus eingebildeten Kräften, die auf ihn einströmen sondern schlicht und ergreifend aus seiner Anwesenheit und aus der Anwesenheit der anderen. Er gewinnt sie, indem er die Menschen in der WG für sich entdeckt, in ihrer Unterschiedlichkeit und er gewinnt diese Stärke auch, indem er sich ausspielt. Das, was er kann, was er weiß und was er will. Er gewinnt seine Stärke auch durch seine Angst und Schwäche."
    Djadi gibt Asylanten ein Gesicht
    Was Peter Härtling damit meint, zeigt eine beeindruckende Szene, als Djadi mit Jan und Dorothea für zwei Wochen auf der Nordseeinsel Juist Urlaub macht. Dieser Djadi, der mit einer Schiffsfahrt durchaus keine Reise in die ersehnten Ferien verbinden kann, sondern die Überfahrt im Schlepperboot, bei der seine Familie ertrank; dieser Djadi, der immer wieder von Angstattacken überfallen wird, besteht hier eine Mutprobe der besonderen Art.
    Wladi und Kordula sind auf Juist nachgereist und man will ihre Ankunft mit einem Essen im Restaurant feiern. "Kaut auf meine Kosten", hat Wladi alle eingeladen, als sich der Nachbartisch vernehmlich über die Asylanten und was sie sich rausnehmen unterhält. Im folgenden Auftritt zeigt sich der Junge für die Breitseite an Pauschalurteilen unangreifbar, indem er nicht etwa anklagt oder provoziert, sondern sich lediglich als Asylant aus Homs vorstellt und so den Asylanten ein Gesicht gibt.
    Er hat dieselbe unsichtbare Schutzhaut, die der einfühlsame Wladi als Flüchtlingskind Ende des Zweiten Weltkriegs hatte. Und er geht seinen Weg, zielstrebig und erfolgreich, schafft sogar den Sprung aufs Gymnasium. Er findet seinen Platz in der Welt und lernt den Schmerz zu verarbeiten, auch wenn die inneren Wunden am Ende nicht ganz verheilt sind.
    Peter Härtling: Djadi, Flüchtlingsjunge.
    Roman für Kinder und Erwachsene, Beltz und Gelberg, Weinheim 2016. 116 Seiten, 12,95€. Ab 10 Jahren.