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Peter Handke "Die Obstdiebin"
Das Erzählen ist die Geschichte

Peter Handkes Buch "Die Obstdiebin" ist eine Geschichte über eine "einfache Fahrt ins Landesinnere", bei der es immer wieder zu skurrilen Begegnungen kommt. Der Erzähler oder schlicht Peter Handke ist stets dabei: Mit seiner Sprachkunst, seinem Sinn fürs Detail und seinen Manierismen.

Von Tobias Lehmkuhl | 10.12.2017
    Buchcover: Peter Handke: "Die Obstdiebin"
    Peter Handkes neues Buch: Die Obstdiebin. Einfache Fahrt ins Landesinnere. (Buchcover: Suhrkampverlag / Foto:picture alliance/dpa/Foto: Patrick Pleul)
    560 Seiten umfasst das neue Buch von Peter Handke, aber es ist kein langes Buch. Die Seiten sind locker gesetzt, jeder Absatz bringt eine Leerzeile mit sich. Das tut dem Auge und dem Lesefluss gut. Es gibt auch keine Kapitel oder Kapitelüberschriften, die den Text unterteilen und den Leser womöglich zu längerem Innehalten einladen würden, einer Unterbrechung der Lektüre gar. Aber auf der Umschlaginnenseite findet sich doch so etwas wie eine Kapitelunterteilung, eine Aufzählung der Episoden, vor allem der Orte dieser Erzählung. Ihre Aneinanderreihung besitzt eine ganz eigene Schönheit.
    "Der Gare Saint-Lazare - Die zwei Clochards am Gleisrand der Picardie - Die chinesischen Flussfahrer - Der Kirchturm von Courdimanche - Der Fasan zwischen den Auenbäumen - Die Katze im Auendschungel - Das Paar des "Café de l’Univers" - Die stummen Pilger - Die Lehrerin an der Dorfschule - Der Herbergsvater - Das Plateau von Vexin - Die Briefträgerin - Der Stadtrandzeichner - Ein Fußballspiel - Die Arbeiterbarackensiedlung - Eine Festrede"
    Die Aufzählung erinnert an mittelalterliche Legenden. Das Mittelalter ist ohnehin sehr gegenwärtig in "Die Obstdiebin", zahlreich die Verweise auf Wolfram von Eschenbach, auf das Motiv der Pilgerreise, auf eine Zeit, in der das Verhältnis des Menschen zur Schöpfung eine andere war, bevor Dichter, Philosophen und Naturwissenschaftler unser Weltbild grundlegend veränderten. Eine Zeit, in der so etwas wie "Individualität" und mithin: Die Form des Romans sich überhaupt erst entwickelte.
    Und so handelt es sich bei Peter Handkes "Die Obstdiebin" auch nicht um einen Roman. Aber um was dann? Um eine Legende? Um eine "Erzählung", wie Handke schon sein ebenso umfangreiches Buch "Die morawische Nacht" von 2008 genannt hatte? Oder doch eher um eine "Meditation"? Das Buch selbst trägt den Untertitel: "Einfache Fahrt ins Landesinnere". Ein Reisebericht also? Der Anfang der "Obstdiebin" entlarvt all diese Überlegungen als ein wenig überambitioniert:
    "Diese Geschichte hat begonnen an einem jener Mitsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird. Zumindest mir ist das seit jeher zugestoßen. Und inzwischen weiß ich, daß diese Tage des ersten und oft einzigen jährlichen Bienenstichs in der Regel zusammenfallen mit dem Sichauftun der weißen Kleeblüten, der erdbodennahen, worin sich die Bienen versteckt tummeln."
    Die Biene, die nicht zugrunde ging
    Eine Geschichte also, nichts weiter wird hier erzählt werden. So scheint es zumindest. Aber wie es an späterer Stelle heißt, wird diese Geschichte dann eben doch nicht einfach erzählt oder "nacherzählt", sie wird "vorerzählt". Die Geschichte existiert also noch nicht vor dem Erzählen, sie entsteht im Erzählen selbst, ja vielleicht ist das Erzählen an sich schon die eigentliche Geschichte. Eine Handlung in Form von "nacherzählbaren" Ereignissen nämlich finden sich in diesem Buch nicht. Aber wie schon zur Zeit Wolfram von Eschenbachs nicht anders möglich, muss eine Erzählung, muss jede Geschichte in der Zeit voranschreiten, gibt es einen Anfang und ein Ende, eine Chronologie des Erzählten.
    Dieser Verlauf nun lässt sich nachzeichnen: Es beginnt mit dem Bienenstich, die Biene, Wappentier der Dichter, löst also die Geschichte aus, die inspiriert sie geradezu. Der Gestochene ist jener Bewohner der Niemandsbucht, den der Leser spätestens seit jenem kontroversen Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht" kennt. Jemand, den man Peter Handke nennen könnte, und der in einem verwunschenen Haus in Chavillle, einem eigentlich wenig verwunschenen Vorort von Paris lebt. Diese Niemandsbucht ist nun auch Ausgangspunkt von "Die Obstdiebin", hier finden die Vorbereitungen zur "Einfachen Fahrt ins Landesinnere" statt.
    "An dem Stich-Tag damals, da die Geschichte von der Obstdiebin Gestalt annahm, ging die Biene, die mich Barfüßigen stach, daran nicht zugrunde. Obwohl es sich um eine erbsenkleine handelte, pelzig, wollig, in den altbekannten Bienenfarben und -streifen, verlor sie im Stechen keinerlei Stachel und entschwirrte nach dem Stich, einem Bienenstich wie nur je einem - jäh wie heftig -, in einem Schwung, so als sei nicht bloß nichts gewesen, sondern sie sei darüber hinaus kraft ihrer Aktion noch zu zusätzlichen Kräften gekommen."
    Der Terror und das Kapitel
    Der Stich ist dem Erzähler Signal aufzubrechen, aufzubrechen in die Erzählung, ins Vorerzählen der Geschichte wie ins wahrhaftig Landesinnere hinein, in die Picardie, wo er ein zweites Anwesen besitzt. Aber ganz so schnell geht es dann eben doch nicht. Schon in Handkes "Versuch über die Jukebox" von 1990 lässt sich bewundern, wie man ein Ziel kunstvoll umkreisen, den Aufbruch und eigentlichen Anfang - so es etwas wie einen eigentlichen Anfang überhaupt gibt - hinauszögern kann, wobei die Verzögerung freilich nicht gewollt ist, kein Manierismus, sondern erzählerische Notwendigkeit.
    Handke befindet sich stets auf der Suche nach dem richtigen Augenblick, dem Momentum, das einer Erzählung, einer Bewegung, Sinn und Kraft verleiht. Anders als der Biene, ist ihm alles Jähe und Heftige fremd. So bewegt er sich in konzentrischen Kreisen um sein Haus in Chaville, macht den Leser mit dem verwitweten Nachbarn bekannt, mit einer schwarzen Supermarktkassiererin und einem Café am Bahnhof. Spätestens da ist einem dann klargeworden, dass es sich bei "Die Obstdiebin" nicht um ein Dokument wirklichkeitsferner Weltflucht handelt, keine Beschwörung der schönen, bienensummenden Natur. Die prosaische Gegenwart ist in dieser lyrischen Prosa stets präsent, nicht zuletzt in ihrer tödlichen Bedrohlichkeit:
    "An jenem Tag fiel die erträumte Stille dann tatsächlich, wenn auch bloß für die eine Sekunde, über mich her als die Druckwelle einer weltweiten Katastrophe. Und für einen Augenblick wurden mir auch die Gründe klar, keine eingebildeten - habhafte, handfeste, unabweisliche: solch Versinken des Umlandes, die Stille jetzt, die, statt auf die Sprünge zu helfen, bedrohte und betrauerte, eine Droh-, zugleich Schreckens- und Sterbensstille: schreckstill wie schreckstarr. Diese Stille, sie drückte aus, was die Geschichte der letzten Monate und Jahre, mörderisch zugeschärft, jetzt, im zweiten Jahrzehnt des meinetwegen dritten Jahrtausends, den Menschen, nicht nur in Frankreich, da freilich geballt, angetan hatte."
    Nun kann man sich fragen, ob diese Stille, die Angst vor dem Terror, Konsequenzen für die Erzählung hat oder haben muss. Weder-noch lautet die Antwort. Die Attentate von Nizza, im Bataclan, das auf Charlie Hebdo, sie werden hier als Marker einer Gegenwart gesetzt, der allerdings etwas Abstraktes anhaftet.
    Konkreter, erfahrbarer wird diese Gegenwart etwa im Bild der Kebabbude. Hier, in diesen, sich überall auf der Welt ähnelndem Ort, kehrt die Obstdiebin, und jetzt machen wir einen großen Sprung, auf ihrem Weg ins Landesinnere ein. Fast unmerklich nämlich ist die Perspektive vom Erzähler auf die Heldin übergesprungen, in einem Zugabteil wurden sozusagen erzählerisch die Waggons gewechselt, und Peter Handke, bzw. sein Wider- oder Doppelgänger haben sich in den Hintergrund verflüchtigt, um der Obstdiebin den Platz zu überlassen.
    Sie wird auch Alexia genannt und ist, wie Handkes zweite Tochter Leocadie zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt. Gerade hat sie eine Zeit am Fluss Jenissei verbracht, und nun befindet sie sich auf der Suche, wie es heißt, nach ihrer Mutter. Dass ihre Mutter verschwunden wäre, kann man allerdings nicht direkt behaupten. Zumindest dem Handke-Leser ist sie noch sehr präsent aus dem umfangreichen Roman - Roman, na ja, - "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos". Hier ist es wiederum diese Mutter, eine "Bankfrau", die sich auf der Suche nach dem oder einem Autor befindet. Mit ihr, der Mutter und Bankfrau, wird ein anderes Thema der Gegenwart auch für die "Obstdiebin" aufgerufen: Die finanzielle Ordnung der Welt. Noch einmal der Erzähler vom Anfang der Reise:
    "Ekel, im Verein mit Müdigkeit, packte mich angesichts all des Eigentums, Eigentum, das war was grundanderes als mein Eigen. Oder so: Mein Eigen hatte nichts zu schaffen mit dem Zeug - so dachte ich da -, das mir gehörte; auf das ich einen Besitzanspruch hatte. Mein Eigen, es stand mir weder zu, noch konnte ich auf es setzen und mich darauf verlassen. Und trotzdem war es, von Fall zu Fall, wenngleich verschieden vom Besitz, zu ersetzen, und ebenso zu erstehen, zu ergehen, zu umzirkeln. In ähnlicher Weise hatte mich ja auch seither abgestoßen jeder meiner Blicke auf das, was gemeinhin "Werk" hieß, wenigstens auf das sogenannt "meine". Allein schon Wörter wie "Arbeitszimmer" oder gar "Werkraum" waren mir zuwider."
    Jenseits der Niemandsbucht
    Man könnte einem Autor, der seit so langer Zeit und mit solcher Beharrlichkeit an einem, wie man als Leser nicht umhin kann es zu nennen, äußerst umfangreichem Werk arbeitet, Koketterie unterstellen. Man muss andererseits den Erzähler der Obstdiebin nicht mit dem Autor Peter Handke gleichsetzen. Man kann aber auch beiden Handkes glauben, dass es ihnen nie um das einmal Geschaffene, sondern stets ums aktuelle, sich immer wieder aktualisierende Schaffen zu tun ist.
    Der Schöpfer Handke steht dabei immer auch in Konkurrenz oder zumindest in einem gewissen Konflikt mit dem Urheber aller Schöpfung. Nicht zuletzt aus dieser Spannung heraus sind gleichwohl schon viele der größten - nun eben doch - "Werke" der Weltliteratur entstanden.
    Doch zurück zum Kleinen oder "Kleinwinzigen", wie eins von Handkes Lieblingswörtern lautet, zu den pelzigen Bienen und den roten, grünen und gelben Früchten, nach denen sich die Hand der Obstdiebin so gerne ausstreckt. Aus der Aufmerksamkeit fürs Detail, fürs leicht zu Übersehende und Gewöhnliche, direkt über unseren Köpfen hängende und vor unseren Füßen liegende, gewinnt Handkes Erzählen seine Kraft. Die Welt in ihren Einzelheiten aus- oder herzuerzählen, darin liegt seine Bestimmung.
    "Ein Ausschreiten war das, ein Ausmessen der Zwischenstrecke mit den Bewegungen von Geometern, verbunden mit einem Aufmerken für womöglich alle auf dem Weg an ihn und um ihn herum auftretenden Einzelheiten. Diese durften nicht übersehen werden. Gerade auf solchen Zwischenstrecken konnten sie Fingerzeige geben, welche halfen, sich auf das, was einen am Zielort erwartete, vorzubereiten - einen öffneten für das zu Geschehende dort."
    Aber was ist nun das Ziel dieses Buches, das zwar keine Handlung, aber eine Richtung hat? Das Ziel ist die Picardie, ein namenloser Ort in der Picardie, der sich jedoch, folgt man der Reise oder Fahrt in Landesinnere mit dem Finger auf der Landkarte, recht genau lokalisieren lässt. Erst geht es mit dem Zug von Paris nach Cergy, von dort aus zu Fuß weiter nach Courdimanche und durch die Wälder des Vexin in Richtung Beauvais, der kleinen aber mit Abstand größten Stadt des Departement de l’Oise in der Region Picardie, kaum eine Autostunde vom Großraum Paris entfernt.
    Die Lichter der Großstadt sind beim Verlassen des Zuges für die Obstdiebin zwar fast noch zu sehen, gleichzeitig aber scheint Paris, das schillernde Metropolenparis, die Hauptstadt der Moderne, nicht Meilen- sondern Lichtjahre weit entfernt.
    Wenn auch ein erster Zwischenstopp auf der Obstdiebin Wanderung jener prosaischen Kebabbude gilt, wenn auch ein Pizzabote seinen schnöden Motorroller stehen lässt, um sich ihr auf ihrer Wanderung durch die Auenwälder hinter Courdimanche anzuschließen, tritt man von der Welt der - in der Gestalt von Handys doch sehr argwöhnisch beäugten Welt der Technik und des 21. Jahrhunderts - in eine Welt der Tiere und Pflanzen, eine Welt des Waldes also und mithin des Märchens. Schon Handkes "Jahr in der Niemandsbucht" trug ja den Untertitel "Märchen aus den neuen Zeiten".
    Im Märchenwald von Courdimanche nun finden die Obstdiebin und ihr dunkelhäutiger, womöglich arabischstämmiger Begleiter nicht nur eine halb verhungerte Katze, auch manch anderes Tier kreuzt ihren Weg.
    "Das eine, vom Weg durchschnitten, noch unabgeerntete Weizenfeld, aus welchem unversehens, zunächst mit Poltern, dann mit Tumult, eine ganze große vielleibige Wildschweinsippe bricht, und über den Weg von einem Weizenfeldteil in den anderen wechselt, augenblicks unter den eine Zeitlang noch nachzitternden Ähren wieder verschwunden, zu hören freilich jetzt dort heraus, an sie beide gerichtet, die auf dem Weg um ein paar Schritte zurückgetreten sind, ein sie bedrohendes Grollen und Knurren wie von einem riesigen Hund, verstummend erst, als dann endlich das Nachzüglerschwein, nicht das größte, aber auch nicht das kleinste von allen, eines im Heranwachsen, den Weg vor ihnen gequert hat, im Wildschweinsgalopp. Die Schildkröte am Wegesrand, tot? nein, sie lebt, tapst voran wie nur eine Schildkröte. Das abendliche Verstummen der Lerchentriller. Das Verklingen oben im Luftraum des Pfeifens der Milane, dafür das Pfeifen des letzten Zuges nach Paris, weit weg und tief unten wie aus einer vom Plateau hier uneinsehbaren Senke."
    Eine ganz eigene Sprachmelodie
    Peter Handkes Schreiben ist nicht nur bestimmt vom intensiven Schauen und Beschauen der Welt, von den Bildern und optischen Eindrücken. In gleichem Maß ist Handke auch immer schon ein Lauschender gewesen, jemand, der stets ganz Ohr ist. Kaum ein anderer Prosaautor hat ein solch feines Gehör. Und dieses ist nicht nur nach Außen gerichtet, auf die Stimmen der Natur und die der Zivilisation, sondern ebenso auf die eigene Schreib-Stimme.
    Handke belauscht immer auch sein eigenes Schreiben, und das heißt: Er stellt sein eigenes Schreiben, seine Sprache, ein ums andere Mal in Frage. Als seine eigene philologische Kontrollinstanz fällt er sich immer wieder ins Wort. Das einfach so Dahingesagte findet man darum in seiner Prosa nicht. Sie ist, und das macht sie so wertvoll, eine Schule des Schreibens, eine Schule, in der Handke Lehrer und Lernender zugleich ist. Wir anderen alle sind freilich nur Lernende, bereitwillig Lernende allerdings, denn wenn es um Sprache geht, hat Handke nichts Besserwisserisches an sich, kennt er nur größten Respekt.
    Handkes Prosa steht entsprechend in gewisser Distanz zur Alltagssprache. Seine Sätze sind lang, stark rhythmisiert, bewegen sich wellenförmig fort. Dialoge gibt es nicht, es gibt nur eine Handvoll Monologe, die allerdings eher Theatermonologen gleichen, ein wenig befremdlichen Vorträgen von der Bühne herab. Sie haben, so scheint es, vor allem kontrastierende Funktion, sie sollen den Fluss der Erzählung unterbrechen, eine gewisse Reibung erzeugen - ebenso wie die das eigene Erzählen hinterfragende Erzählung.
    "Danach wieder eine Strecke, da in der Geschichte der Obstdiebin nichts, wie war doch die Formel, "Erzählenswertes" sich ereignete, oder jedenfalls nichts von dem, was sich ereignete, sich zugleich von selber erzählte. Aber haben sich denn vorher die Ereignisse von selber erzählt? Nein. Und werden die folgenden Ereignisse sich von selber erzählen? Nein und wiederum nein. Die Ereignisse, von denen die Geschichte hier erzählt, werden solche allein durch den Erzähler. Es geht nicht ohne den. Geschichten, die sich von selber erzählen, können mir, dem Leser, gestohlen bleiben."
    Die Einsamkeit in der "Obstdiebin"
    Nun möchte man natürlich gerne wissen, was oder wieviel dieser Leser mit der von ihm erzählend sich erlesenden Geschichte, zu tun hat. Und man kann nicht anders, als ihn mit dem berühmten Autor abzugleichen, dem in Chaville lebenden, in der Picardie mitunter wohnenden Vater zweier Töchter.
    Das Schreiben ist ein erzwungenermaßen einsames Geschäft, und von dieser Einsamkeit ist auch in "Die Obstdiebin" etwas zu spüren. So liest man hier nicht nur von den Zweifeln am eigenen "Werk" und daran, was überhaupt Eigentum ist, was "meins sein" bedeutet, man liest auch von den "Unerreichbaren", von der Unerreichbarkeit der Zeitgenossen und den wenigen Ausnahmen, die es geben mag, die aber nicht unbedingt auch Mitglieder der eigenen Familie sein müssen.
    Die Obstdiebin, diese Alexia macht sich ja auch auf die Suche nach ihrer Mutter, doch wie sich herausstellt, ist diese nicht im eigentlichen Sinn verschwunden, ja die ganze Familie - Vater, Mutter, Obstdiebin und Bruder treffen am Ende und nicht einmal zufällig in der Picardie zusammen - aber ob sie sich deswegen tatsächlich gefunden haben, bleibt fraglich.
    So wenig man sich sicher sein kann, was denn genau "meins" ist und ob es etwas ganz und gar eigenes überhaupt geben kann, so wenig weiß man, weiß der Erzähler-Leser dieser Geschichte, und das ist der traurige Teil, wer die "Seinen" sind. Selbst demjenigen, der stets offenen Auges durch die Welt geht, der allzeit zum Staunen bereit ist, bleibt die letzte Gewissheit immer verwehrt. Erlösung ist nicht in Sicht, ist vielleicht auch gar nicht angestrebt. Zumindest vom Standpunkt desjenigen, der nur Leser, nicht aber Schreiber ist, ist diese abschließende und womöglich endgültige Gewissheit auch gar nicht wünschenswert.
    Peter Handke: "Die Obstdiebin. Einfache Fahrt ins Landesinnere."
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 560 Seiten, 34 Euro