Man wusste schon längst, dass Peter Handke immer ein kleines Notizbuch mit sich herumträgt, in dem er die verschiedensten Eindrücke unmittelbar festhält. Dies bildet den Kern seiner Schreibexistenz, und deshalb ist es von hohem dokumentarischen Wert, wenn jetzt zum ersten Mal eines dieser zahlreichen Notizbücher vollständig veröffentlicht wird, zum Teil auch in Faksimiles. Naturgemäß bilden diese Bändchen keine in sich geschlossene Einheit, Anfang und Ende verdanken sich dem reinen Zufall. Wenn eine seiner Kladden gefüllt ist, schreibt Handke einfach in der nächsten weiter. Der Zeitraum für diese exemplarische Veröffentlichung ist aber natürlich sorgsam ausgewählt. Es geht um die Zeit zwischen dem 24. April und dem 26. August 1978 und betrifft damit die Phase einer grundlegenden Neuorientierung von Handkes Schreiben.
Eine schreibende Existenz
Er befand sich in einer großen Schaffenskrise, nachdem seine Pop- und Provokationsphase sich offenkundig erschöpft hatte. Spuren dieser Notizen lassen sich später in verschiedenen Texten Handkes nachweisen, so natürlich in den literarisch verdichteten „Journalen“, aber auch in größeren Prosawerken, vor allem der „Langsamen Heimkehr“ und in dem viel später erschienenen Buch „Die Wiederholung“. Im Ursprungszustand des Notierens aber, den man hier vorfindet, stehen die verschiedensten Partikel und Augenblickseingaben noch unverbunden nebeneinander. Wenn man einzelne Sätze herauslöst, kann man nachträglich thematische Fäden aufzeigen:
„Karst: wie der Entwurf des Endgesichts der Erde
In der Entfernung glaubt er, die fremde Sprache doch immer als die eigene, sogar den eigenen Dialekt zu hören“
Peter Handke führt tatsächlich eine schreibende Existenz, das Schreiben ist bei ihm ein organischer Vorgang. Vor allem im Freien ist es unabdingbar: auf Wiesen, auf Bänken, im Schatten der Bäume, und Handke notiert dabei genau das, was er im jeweiligen Moment wahrnimmt und empfindet. Er notiert aber auch daheim am Schreibtisch, wenn ihm beim Lesen etwas auffällt, das er für sich gebrauchen und das er in eigenen Texten zitieren und umwandeln kann. Das Notieren ist in erster Linie eine Schule der Wahrnehmung. Als Ausgangspunkt dient meistens etwas Sinnliches. Oft steht nur ein Satz da, manchmal sogar nur ein Halbsatz oder einzelnes Wort.
„Verrücktes Bild der Fernsehantennen vor dem dunklen Gewitterhimmel (sie bilden tatsächlich ein eigenes Bild im Bild)
Sonnenschein auf den Sitzen des leer vorbeifahrenden Zuges“
Vielfältige Annäherungen
Für das Bergauf-Gehen hat Handke einmal ein für ihn typisches Verb gefunden, er sagt dazu: „Es formt“. Die Form ist für diesen Autor das Entscheidende: und zwar die Form, die seine Gedanken und Schreibbewegungen jeweils annehmen. So verstanden, bildet die „Form“ in Handkes Sinn das Gegenteil abstrakter Begriffe. Diese Opposition ist für den hier Schreibenden grundlegend. Er versucht, in allen Sinneseindrücken etwas Gemeinsames zu erkennen, ohne es theoretisch erstarren zu lassen. Handke bemüht sich durch vielfältige Annäherungen darüber klarzuwerden, wonach er beim Schreiben eigentlich sucht:
„selbst im Traum die ganze Nacht hindurch, die FORM zu finden versuchen.
Ruhig zog er Gestalt und Form der Dinge in sich nach“
Selbst im Kleinen und Beiläufigen schwingt bei Handke aber manchmal auch eine Überreizung mit, eine Hypersensibilität, eine fiebernde Erregung. Handke befindet sich in den verschiedensten Aggregatzuständen, immer herrscht auch Spannung. So wird die Emotion des „Zorns“ bei diesem Autor durchaus positiv besetzt. Er ist alles andere als ein zarter Poet.
„Der Erdboden war ihm, wieder einmal, zu friedlich (zu ruhig, zu unbewegt); Erwartung der Explosion.
Manchmal waren die Menschen ganz einfach nichts, unsinnig, ein Zeug vor ihm, mit ihm“
Eine ganz andere Weichenstellung in Handkes Ästhetik
Als Handke Mitte der siebziger Jahre diese Art von Notizbüchern zu schreiben begann, war das das Zeichen einer Krise. In dieser Zeit war bei ihm etwas zu seinem Ende gekommen. Er hatte mit sprachkritischen Collagentexten begonnen, aber dann mit ungemein suggestiven kleinen Alltags- und Verlorenheitserzählungen offenkundig den Nerv der Zeit getroffen. Sie waren in rascher Folge erschienen, von der „Angst des Tormanns beim Elfmeter“ bis zur „Linkshändigen Frau“, und wurden unvorstellbare Bestsellererfolge. Plötzlich aber brach das ab.
Der Entschluss, sich jetzt in Notizbüchern auf das konkret Wahrnehmbare, die kleinsten Dinge, Beobachtungen in der Natur und auf konkrete Zitate aus seinen Lektüren zu begrenzen, die im Übrigen auffallend häufig bei Homer zu finden sind – er bedeutete eine ganz andere Weichenstellung in Handkes Ästhetik. Viele von den Notizen des jetzt edierten Bandes beziehen sich direkt auf die Figur des Geologen Sorger im Roman „Langsame Heimkehr“, mit dem Handke 1979 geradezu eine Kehre seines bisherigen Schreibens vollzog. Es geht dabei ganz konkret um Zeit und Raum und um ihre Auflösung in der Literatur. Der Autor verließ den Pop und suchte das klassisch Epische, das Zeitlose in der unabdingbaren Gegenwart. Man kann in diesem Band tatsächlich bei der Entstehung von Handkes Schreibformen zusehen.
Peter Handke: Die Zeit und die Räume. Notizbuch 24. April -26. August 1978.
Hrsg. von Ulrich von Bülow, Bernhard Fetz und Katharina Pektor.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 308 Seiten, 34 €
Hrsg. von Ulrich von Bülow, Bernhard Fetz und Katharina Pektor.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 308 Seiten, 34 €