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Peter Høeg: "Durch Deine Augen"
Reise ins menschliche Bewusstsein

Der dänische Autor Peter Høeg wurde mit "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" weltberühmt. Jetzt wagt er sich vor in eine der faszinierendsten Sphären des Menschseins: Er erkundet unser Bewusstsein. Doch bei dem Versuch, das Unbeschreibliche in Worte zu fassen, scheitert der Roman.

Von Änne Seidel | 02.05.2019
Peter Høeg und sein neues Buch "Durch Deine Augen". Zu sehen ist ein Portrait des Autors und das Buchcover
Peter Høeg: „Durch Deine Augen“ (Foto: imago stock &people / Cover: Carl Hanser Verlag)
Es sind Fragen, die Schwindel erzeugen, wenn man zu lange über sie nachdenkt: Was passiert, wenn wir träumen? Gibt es so etwas wie "déjà-vus" und wenn ja – wie sind sie zu erklären? Warum treffen wir manchmal Menschen, die wir nie zuvor gesehen haben und sind uns trotzdem sicher, sie bereits zu kennen? Und: Wie wirklich ist eigentlich die Wirklichkeit? Seit Jahrhunderten suchen Wissenschaftler und Philosophen Antworten auf diese Fragen – und doch bleibt das menschliche Bewusstsein bis heute ein Mysterium.
Die Hauptfigur in Peter Høegs neuem Roman aber hat den Schlüssel zu diesem Mysterium gefunden: Die Wissenschaftlerin Lisa hat eine Technik entwickelt, die es ermöglicht, in das Bewusstsein anderer Menschen zu reisen:
"Wir haben die existierenden Scanningmethoden verfeinert, und mit dieser Verfeinerung haben wir ein Verfahren etabliert, das es zwei Menschen ermöglicht, das Bewusstsein des jeweils anderen direkt zu betreten. Das heißt, durch einige der Firewalls des Gemüts hindurchzugehen, die einem tieferen Kontakt im Wege stehen. (…) Noch besitzen nur wir dieses Wissen. Dass wir die Neuropsychologie einen entscheidenden Schritt nach vorn gebracht haben."
Die Wirklichkeit löst sich auf
Lisa arbeitet in einer Klinik, testet unter strenger Geheimhaltung ihr neues Verfahren an Trauma-Patienten. Das Buch aber wird nicht aus ihrer Perspektive erzählt, sondern aus der von Peter, der nicht nur denselben Vornamen trägt wie der Autor, sondern auch denselben Nachnamen. Peter möchte seinem Pflegebruder Simon helfen, der nach einem Selbstmordversuch nicht zurück ins Leben findet. Er hört von der Klinik und bittet Lisa, Simon zu behandeln. So finden Lisa und Peter zueinander, er wird im Laufe des Romans zu ihrem Assistenten, gemeinsam reisen sie ins Bewusstsein ihrer Patienten – und auch in das von Simon:
"Die ersten Schritte machte ich noch in der normalen Wirklichkeit. Kabir und die beiden andern Assistentinnen standen am Rechner, vor mir hatte sich Simon vor der gigantischen Vergrößerung seines eigenen Körpers aufgestellt. Wir drei gingen auf den Lichtkörper zu. In dem Moment, in dem ich das blaue Licht erreichte, löste sich die äußere Wirklichkeit auf. Wände, Boden und Decke, Schalttafel und Assistenten verschwanden. (…) Zuerst war es nicht nötig zu sprechen. Wir fühlten alle, was Simon fühlte. Zum ersten Mal in meinem Leben merkte ich, wie es war, ein anderer zu sein."
Nichts geschieht zufällig
Doch das ist nur der erste Handlungsstrang des Romans, der zweite spielt 30 Jahre zuvor – denn Lisa, Peter und Simon kannten sich schon als Kinder. Und bereits damals, in ihrer fantasievollen Kinderwelt, hatten sie entdeckt, dass man in die Träume anderer Menschen eindringen und so die Wirklichkeit verändern kann. Geschickt verwebt Peter Høeg beide Zeitebenen miteinander; und nach und nach wird klar: Nichts in dieser Geschichte geschieht zufällig. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind aufs engste miteinander verbunden.
"Durch deine Augen" spielt also in jener diffusen Grauzone, wo die Forschung an ihre Grenzen stößt und die Imagination übernimmt. Es überrascht nicht, dass dieses Szenario ausgerechnet dem Kopf von Peter Høeg entsprungen ist. Der Autor hat sowohl ein Faible für Naturwissenschaften, als auch eines für Figuren mit übernatürlichen Fähigkeiten. Dass er beides zu verbinden weiß, hat er mit früheren Büchern bewiesen. Und so ist auch in seinem neuen Roman nicht etwa der thematische Rahmen das Problem, ganz im Gegenteil: "Durch deine Augen" wäre die perfekte Vorlage für einen fesselnden Science-Fiction-Film. Aber es fallen einem eben auf Anhieb einige Filme ein, die ähnliche Stoffe bereits viel packender umgesetzt haben, als Høeg in seinem Roman.
Wenn Mahlzeiten an den Tod erinnern
Anstatt sich auf die faszinierende Thematik der Reisen ins menschliche Bewusstsein zu konzentrieren, verliert sich Høeg zu oft in den Untiefen des Zwischenmenschlichen. Das Verhältnis des Erzählers zu seiner Ex-Frau und den gemeinsamen Kindern oder seine Beziehung zu Lisa, die er schon als Kind geliebt haben will – all das nimmt zu viel Raum ein und kommt oft recht pathetisch daher:
"Es war das erste Mal, dass wir allein etwas zu uns nahmen, nur wir zwei. Die Mahlzeit bestand bloß aus Tee, Toastbrot, Butter, Käse und Orangensaft. Aber sie war auch noch etwas ganz anderes, sie war ein Symbol. (…) Wir waren ein Mann und eine Frau, die zum ersten Mal den Hunger des anderen gesehen haben. Eine Mahlzeit ist nicht nur lebensspendend, sie erinnert auch an den Tod. Daran, dass der Körper ständig abgebaut und wieder aufgebaut wird. Sie erinnert daran, dass wir, wenn die Nahrung ausbleibt, sterben werden."
Spätestens nach der Hälfte des Romans wird dieser ständig vor sich hin philosophierende Erzähler anstrengend, zumal seine Weisheiten immer wieder die Grenze zu Kitsch und Esoterik überschreiten.
Peter Høeg hat sich Großes vorgenommen
Insgesamt beschleicht einen das Gefühl, dass dieses Buch zu viel auf einmal will, dann aber nicht hinterher kommt. Auf nur gut 300 Seiten streift der Autor viele große Fragen der Menschheit: Es geht um Liebe und Tod, um Gewalt und Grausamkeit – aber sowohl die Figuren, als auch ihre Begegnungen miteinander bleiben seltsam leblos. So reisen Peter und Lisa ins Bewusstsein einer jungen Frau, die als Kind von ihrem Großvater vergewaltigt wurde. Sie erleben diese Vergewaltigungen durch die Augen des Opfers, reagieren aber nicht, wie man erwarten würde, geschockt oder empathisch. Stattdessen hat der Roman nach der Schilderung dieser grausamen Szenen nur ein paar fragwürdige Thesen parat:
"Ich habe in eine Finsternis geblickt", sagte ich. "Und etwas von dem, was ich sah, war die Finsternis in mir selber. In jedem Mann steckt ein potenzieller Sexualtäter." Zwischen uns befanden sich unausgesprochen unsere gemeinsamen Jahre, unsere Sexualität, das Liebesleben, die Geburten der Kinder, die tiefe Kenntnis voneinander, die nur Liebespartner haben können. "Und in jeder Frau", sagte sie, gibt es etwas, das sich davon angezogen fühlen könnte, ein potenzielles Opfer zu werden."
Dieser Text von Peter Høeg hat sich Großes vorgenommen: Er entwirft eine Lösung für eines der faszinierendsten Rätsel der Menschheit – und das hat durchaus seinen Reiz. Doch bei dem ambitionierten Versuch, das Unbeschreibliche in Worte zu fassen, da leider scheitert der Roman.
Peter Høeg: "Durch deine Augen"
aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
Carl Hanser Verlag, München 2019, 336 Seiten, 24 Euro.