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Peter Sloterdijk: "Nach Gott"
Vom Nutzen und Nachteil der Religion für das Leben

Peter Sloterdijk zählt zu einer kleinen Schar öffentlicher Intellektueller in Deutschland, die mit ihren Äußerungen polarisieren, Widerspruch auf sich ziehen und Debatten auslösen. Nun hat der Philosoph ein neues Werk veröffentlicht, in dem es um Glaubens- und Unglaubensversuche geht.

Von Martin Bauer | 27.08.2017
    Buchcover: Peter Sloterdijk: Nach Gott (M)
    Sloterdijks Begutachtung der Gegenwart klingt mit einem kulturkonservativen Mollakkord aus. (Montage: Suhrkamp / imago/ Stephan Wallocha)
    Manchmal tritt Peter Sloterdijk, der für "Vertikalspannung" plädiert, das heißt für Rangordnung und Statusbewusstsein, bescheiden auf. Dann stellt er sich als Autor "philosophischer Arbeiten" vor. Allerdings nimmt Sloterdijk ein ganz eigenes, um nicht zu sagen: eigenwilliges Verständnis von Philosophie für sich in Anspruch. Seine Arbeiten beschreibt er als die Überführung der Metaphysik in eine neue Disziplin: sie heißt "Allgemeine Immunologie". Diese Immunologie liefert ein Modell von Wissen, mit dem Sloterdijk die metaphysische Tradition überwinden will.
    Wo Metaphysik war, soll Immunologie werden
    Metaphysik war nach antikem Verständnis ein Fach, das sich an die Naturwissenschaften anschließt, sie in der Allgemeinheit ihrer Erkenntnisse aber überbietet. Auch die Immunologie beansprucht, mehr zu sein als eine empirische Einzelwissenschaft. Was Sloterdijk ansteuert, ist eine Wissenschaft der Bedingungen, die Leben ermöglichen. Sie ermittelt, welche Schutzsysteme nötig sind, soll Leben – in Natur wie Kultur – gedeihen.
    "Die Allgemeine Immunologie geht von dem Axiom aus, dass das Leben die Erfolgsphase eines Immunsystems ist – der Ausdruck Leben bezieht sich hier nicht nur auf biologische Organismen, sondern auch auf die historische Existenz von Kulturen, Völkern, Institutionen."
    Anders als die Bezeichnung vermuten lässt, ist die Immunologie keine reine Natur-, sondern auch eine Geschichts- und Geisteswissenschaft. Ihr Thema ist "das Leben" als solches, jedoch in den besonderen Gestalten, die das Dasein von Immunsystemen hervorbringt und hervorgebracht hat. Insofern kann man dieser Grundlagenwissenschaft nicht vorwerfen, was sich die Metaphysik immer wieder hat nachsagen lassen müssen. An historischem Sinn mangelt es ihr nicht. Trotz ihrer geschichtlichen Ausrichtung beschränkt sich Sloterdijks Immunologie allerdings nicht darauf, Beschreibungen historischer Tatsachen anzufertigen. Vielmehr thematisiert sie übergeschichtliche Sachverhalte höchst allgemeiner Natur: Es geht um die Beantwortung der Fragen, die aufkommen, wenn wir eingesehen haben, dass es kein Leben ohne Schutzvorkehrungen gibt.
    "Immunsysteme im allgemeinen stellen Verkörperungen von Verletzungserwartungen dar. Auf der biologischen Ebene zeigen diese sich in der Fähigkeit zur Ausbildung von Abwehrkörpern, auf der juristischen in Form von Prozeduren zur Kompensation von Unrecht, auf der religiösen in der Gestalt von chaosüberwindenden Ritualen, die den Menschen zeigen, wie man weitermacht, wenn es nach menschlichem Ermessen nicht mehr weitergeht."
    Recht und Religion sind für die immunologischen Sondierungen besonders wichtig. Es sind Weisen zur Sicherstellung "sozialer Immunität". Sie schützen, anders gesagt, kollektives Leben, etwas, das Sloterdijk mit Kunstwörtern wie "Ko-Subjektivität" oder "Ko-Immunität" bezeichnet. Ko-Immunität einzurichten, ist nötig, weil Menschen Lebewesen sind, die gegenseitiger Unterstützung bedürfen. Um ihrer Angewiesenheit auf Hilfe Rechnung zu tragen, ergreifen sie Maßnahmen zur Pflege der Gegenseitigkeiten. Beispielsweise werden Gesetze erlassen, die der Abwehr unsolidarischen Verhaltens dienen. Sie prämieren altruistisches Verhalten und begrenzen die Wirksamkeit egoistischer Einstellungen. Gerade die Sanktionierung von Verhaltensweisen, die Gemeinschaftlichkeit und Gesellschaftlichkeit unterspülen, wird in den meisten Kulturen, wie Sloterdijk hervorhebt, durch symbolische oder rituelle Immunsysteme abgestützt, "die man in Europa konventionell als die ‚Religionen‘ bezeichnet: Sie statten die Menschen aus mit Worten und Gesten, die ihnen über Momente der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit hinweghelfen. Die symbolischen Immunsysteme kompensieren den Tod und stellen die Überlieferung der gemeinsamen Normen in der Generationenfolge sicher."
    In einer gewissen Nähe zur Grundthese der Religionssoziologie Émile Durkheims vertritt Sloterdijk die Ansicht, dass Religionen für sozialen Zusammenhalt sorgen. Zwar beschränkt er, anders als der Gründervater der französischen Soziologie, die Funktion der Religion nicht darauf, soziale Ordnungen zu sakralisieren. Doch gehört auch für ihn die Integration von Gemeinschaften zur Kernkompetenz jeder Religion. Religionen stellen nicht nur die Bedeutungen bereit, die gemeinsames Handeln von Menschen ermöglichen. Sie sorgen auch für den Typ von Sinn, der für Zusammenarbeit gebraucht wird. Andernfalls ließe sich die Kooperation nicht über die Krisen hinweg fortführen, die menschliche Praxis nun einmal notorisch durchkreuzen.
    Religion als rituelles und symbolisches Immunsystem
    Mit Gewinn wird man Sloterdijks jüngste Veröffentlichung, die Nach Gott überschrieben ist, nur unter einer Voraussetzung lesen: Man muss es aufschlussreich finden, über die immunologischen Leistungen von Religion informiert zu werden. Der letzte Horizont, unter dem Religion betrachtet wird, ist und bleibt funktionalistisch. Wer Religiosität in der Moderne unter einem solchen Blickwinkel analysiert, verfremdet sie. Für ihn sind die Einstellungen von Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen ohne Belang. Er argumentiert weder als Mitglied einer Religionsgemeinschaft, noch tritt er als Kritiker von Religion auf, der Anstoß an theologischen Dogmen oder der weltlichen Realität von Frömmigkeit nimmt. Für die Fremdbeobachtung von Religion zählen allein ihre Funktionen. Und die lassen sich zwar untersuchen, aber nicht kritisieren. Dementsprechend kennzeichnet Sloterdijk seine Beobachterposition als die eines "freien Geistes". Zur Religion verhält er sich wie zu jeder anderen Gestalt der kulturellen Überlieferung. Er wertet es als Vorteil,
    "sich von dem antichristlichen Affekt der letzten Jahrhunderte wie von einer nicht länger nötigen Verkrampfung zu emanzipieren. Wer heute kommunionale und kommunitaristische Grunderfahrungen rekonstruieren möchte, braucht Freiheit vom antireligiösen Reflex."
    Durchzuspielen, wie Religion aussieht, nimmt man sie als ein Immunsystem wahr, scheint auf den ersten Blick ausgesprochen innovativ zu sein. Sie lässt sich dann mit anderen Immunsystemen vergleichen, etwa mit dem Recht. Das ist aufschlussreich, weil Unterschiede und Gemeinsamkeiten zutage treten. Solche Vergleiche liefern Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob und wie effizient Religion die ihr zugeschriebenen Funktionen erfüllt. Schließlich lässt sich auch das Versagen von Immunsystemen beforschen. Ist alles Leben ein Ergebnis erfolgreicher Immunabwehr, muss auch mit Immunschwächen, also mit Misserfolgen gerechnet werden. Offensichtlich verlangt die allgemeine Immunologie nach einer Epidemiologie, die sich auf die Fehlfunktionen der Immunabwehr konzentriert. Damit ließen sich, wie Sloterdijk notiert,
    "Grippewellen, Erfolgsmarken, expansive Religionen, Schlager und Diätsysteme unter den gleichen Aspekten abhandeln. Eine populäre Marke lässt sich als eine beliebte Pest beschreiben, die Religion als eine erbliche Epidemie, eine modische Diät als eine freiwillige Grippe." (Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, S. 571)
    Religion auf eine Weise zu beobachten, die Vergleiche mit Grippewellen, Diäten, Schlagern und anderen Produkten der Warenwelt gestattet, ist eine genuin moderne, wenn nicht postmoderne Methode. Selbstverständlich hat sie Vorläufer. Dass Friedrich Nietzsche zu den Philosophen zählt, die Sloterdijks immunologische Programmatik inspiriert haben, ist klar. Schon die Bezugnahme auf Nietzsches Figur des "freien Geistes" belegt dessen Einfluss. Neben Nietzsche berufen sich Sloterdijks Betrachtungen zum Nutzen und Nachteil der Religion für das Leben aber auch auf andere Philosophen und Psychologen. Soweit es um die Ermittlung von Vitalfunktionen religiöser Einstellungen geht, werden David Hume und William James gewürdigt. So ist es bei Lichte besehen doch nicht so originell, nach der Bedeutung religiöser Symbolsysteme für das In-der Welt-Sein menschlicher Individuen und Kollektive zu fragen. In Wahrheit ist das Unterfangen, Religion aus der Aufgabenstellung heraus zu verstehen, ein "Im-voraus-auf-Schaden-gefaßt-Sein"(Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, S. 510) zu erzeugen, mindestens so alt wie das Nachdenken der Aufklärung über Religion. Und wenn Sloterdijk Religion durch ihre Kapazität definiert, Leid, Sterblichkeit und Unordnung abzufangen, damit Weiterleben sichergestellt wird, so greift diese Definition auf ein altes Leitmotiv der Religionsphilosophie zurück. Es stammt aus dem Chor der Stimmen, die seit dem 18. Jahrhundert versucht haben, besser zu verstehen, warum es unter allen Gesellschaften, die bekannt sind, keine ohne Religion gibt.
    Religion als psychopolitische Praktik
    Dass Sloterdijk mit Nach Gott eine völlig neu ansetzende Abhandlung zu Grundfragen der Religionswissenschaft vorlegt, war nicht zu erwarten. Tatsächlich versammelt der Band zwölf in ihrer Themenstellung, Anlage und Argumentation ausgesprochen heterogene Texte. Diese Arbeiten hat der Professor emeritus für Philosophie und Ästhetik an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung zwischen 1993 und 2017 verfasst. Zum Teil werden ganze Kapitel aus früheren Büchern wiederabgedruckt, zum Teil Vorträge, die zu unterschiedlichen Anlässen konzipiert wurden. Immerhin finden sich vier Essays, die das über 350 Seiten starke Buch zum ersten Mal veröffentlicht. Insgesamt bezeugt die Textsammlung, wie anhaltend sich Sloterdijk mit der Religion beschäftigt hat.
    Für diese Nachhaltigkeit seines Interesses gibt es außer der Arbeit an der philosophischen Immunologie noch einen zweiten Grund: Der wird in der Textsammlung greifbar, wenn sich die Konturen von Sloterdijks "Theorie der Psychopolitik" (Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, S. 478) abzeichnen. Sie begleitet die immunologische Forschung als ein wichtiger Seitenstrang. Dabei versteht Sloterdijk unter "Psyche" nicht nur die Seele, sondern auch den Geist. Genau genommen firmiert die Seele, ganz im Sinne der lateinischen anima, als Name eines Prinzips, das nicht alle, jedoch bestimmte Wesen animiert und inspiriert. Indem die Psyche beseelt und begeistert, verwandelt sie diese Wesen in Subjekte. Sloterdijks Theorie der Psychopolitik entfaltet folglich seine Überlegungen zum Thema Subjektivität. Es geht um all die Phänomene, bei denen Subjektivität nicht als irgendeine Gegebenheit erscheint, sondern als das Resultat eines Prozesses der Beseelung und Begeisterung. Insofern bezeichnet der Begriff "Psychopolitik" das Arsenal von Techniken, das zum Einsatz kommen muss, damit es Subjekte auf der Welt gibt.
    Gleich im ersten Beitrag von Nach Gott stellt Sloterdijk eine psychopolitische Hypothese auf: Seine Vermutung lautet, in absehbarer Zukunft könnten sogar Maschinen, natürlich sind Computer gemeint, zu Adressaten von Beseelungsinitiativen werden. Das hätte unter psychopolitischen Vorzeichen zur Folge, dass die Grenze zwischen beseelten Wesen und unbelebten Sachen verschwimmt. Nach Sloterdijk Urteil käme damit eine Art Götterdämmerung in Gang, waren Religionen mit ihren Gotteslehren doch seit jeher für eine möglichst trennscharfe Unterscheidung zwischen Sachen und Seelen zuständig. In der Regel stand herrschaftslogisch außer Frage, dass nicht Sachen die Seelen, sondern umgekehrt die Seelen, die Sachen regieren. Herr der Schöpfung war der Mensch unter der Obhut eines Schöpfergottes, der ihm Geist und Seele eingehaucht hatte.
    Weil Religion "den Menschen selber zum Objekt von Produktionen bzw. von bewussten und intentionalen Modifikationen" macht, hat sie stets Psychopolitik betrieben. Deshalb zählt sie zu den sogenannten "Anthropotechniken". In dem Maße, wie der Mensch "jenes Wesen ist, das keine eigenen Eigenschaften hat, außer denen, die er sich selbst anerschafft," bezeichnet Anthropotechnik "nichts anderes, als dass noch kein homo sapiens vom Himmel gefallen ist, man mithin diese Kreatur nur durch technogene Effekte bekommt, die auf ihre eigene evolutionäre Drift zurückwirken."
    Anthropotechnik der Beseelung
    Anthropotechnisch waren und sind Religionen, weil sie als Regime von Beseelungen operieren. Ohne diese psychopolitischen Operationen gäbe es nach Sloterdijks Überzeugung überhaupt keine Subjektivität. Aus dem langen Prozess der Menschwerdung geht die Seele als ein technogener Effekt hervor. Sie ist ein Artefakt, das – einmal in die Welt gesetzt – mit allen Vorgängen im Kontakt steht, die zur fortlaufenden biologischen und sozialen Evolution gehören. Überspitzt könnte man mit Sloterdijk sagen,
    "die Region Seele oder Geist überhaupt wird nur durch die Invasion von Seelischem in Seelisches oder von Geist in Geist konstitutiert. (…) Nach idealistischer Auffassung heißt ‚denken‘ oder ‚eine geistige Seele sein‘ nichts anderes als sich der Invasion durch ein durch mich wirkendes Prinzip öffnen und hingeben. Idealismus in diesem Sinne ist ein Verfahren der Hingabe an eine Überwältigung durch ein denkendes, beseelendes, belebendes und begeisterndes Prinzip, das in verschiedenen Abschattungen als Geist, Leben, Idee oder Gott angesprochen worden ist."
    Der Vorstellung, wonach Seele aus Seele und Geist aus Geist hervorgeht, begegnet Sloterdijk mit Skepsis. Sie ist ihm zu idealistisch. Als Immunologe und Evolutionsforscher in Sachen Subjektivität bevorzugt er eine andere, das heißt eine naturalistische Beschreibung des Menschen: Nicht Gott, sondern die schöpferische Evolution hat den homo sapiens zu einem mit Geist und Seele begabten Tier gemacht.
    Trotzdem teilt Sloterdijks Anthropologie mit dem beargwöhnten Idealismus eine Voraussetzung: Psyche lässt sich nicht verstehen, ohne Geist und Seele als Medien zu begreifen. Die Sphäre des Psychischen eröffnet eine Welt von Echo- und Resonanzräumen. Als wollte er der Etymologie des Deutschen, die bezeugt, dass "Seele" auf "Saal" verweist, die subjektphilosophische Ehre erweisen, konstatiert Sloterdijk:
    "Was in den bisherigen Traditionen der Menschheit unter dem Begriff ‚Seele‘ in Erscheinung getreten war, zeichnete sich immer durch eine besondere Kraft der inneren Raumerzeugung aus."
    Keine Subjektivität ohne Medialität
    Ist Beseelung innere Raumerzeugung, müssen herkömmliche Vorstellungen von Geist und Seele revidiert werden. Insbesondere ist die Idee autonomer Subjektivität zu korrigieren, das heißt unsere Vorstellung vom mündigen, sich selbst bestimmenden Menschen. Anstatt Seele und Geist als eigenständige Substanzen zu fassen, muss die Lehre vom Menschen Sloterdijk zufolge in eine "Medienpsychologie" umgearbeitet werden. Was er für nötig erachtet, ist eine "mediale oder mediumistische Theorie der Persönlichkeit". Sie muss die Autonomie- und Kreativitätsfiktionen beseitigen, denen Psychologen und Philosophen anhängen, die noch nicht verstanden haben, dass Subjektivität nur ein anderer Name für Medialität ist.
    Man mag über Sloterdijks medienpsychologische Dekonstruktion überkommener Vorstellungen von Geist, Seele und Subjektivität denken, was man will. Selbst wenn wir es mit bloßer Ankündigungsrhetorik zu tun haben, ist deutlich, was er sich mit der Theorie der Psychopolitik erwirtschaftet: erschlossen wird der Religionsanthropologie ein zusätzliches Beobachtungsfeld. Dort lassen sich die "inter- und intrapsychischen Begeisterungs- und Beseelungsverhältnisse" nicht nur vergleichend analysieren, sondern auch in ihren allgemeinen Strukturen erfassen. Ist "Ko-Subjektivität" das Thema der immunologischen Rekonstruktion von Religion, so steht Subjektivität als Medialität im Brennpunkt von Sloterdijks psychopolitischen Sondierungen. Da sich diese Untersuchungen nicht zuletzt mit den Begeisterungs-und Beseelungsverhältnissen der Gegenwart beschäftigen, nutzt Sloterdijk sie für seine Zeitdiagnostik.
    Automatisierung des Seelischen
    Nach Gott trägt schon im Titel einen historischen Index. Er soll eine Epoche spezifizieren. Sloterdijk charakterisiert diese Epoche mit einer berühmten Formel, die er Arnold Gehlen verdankt. Der hatte in seiner philosophischen Anthropologie von "der Seele im technischen Zeitalter" gesprochen. An ihr, an dieser Seele und ihren Ausdrucksformen, fällt dem überwachen Zeitgenossen Sloterdijk "eine anti-mediale Tendenz" auf. Die Seele im technischen Zeitalter scheint "unmedial und unbewohnbar" geworden zu sein, "als habe das Automatische begonnen, dem Psychischen den Rang abzulaufen."
    Die automatisierten Seelen sind keine Echo- und Resonanzräume mehr, sie sind für Beseelungs- und Begeisterungsprozesse unzugänglich. Eine "Innenweltverarmung" ist eingetreten, wie Sloterdijk nüchtern feststellt. Ihr entspricht ein gravierendes Missverständnis. Medien werden – anders als es die sloterdijk`sche Medienpsychologie einschärft – nicht als "personenhafte Größen" verstanden, sondern lediglich als technische Systeme. Und diese technischen Systeme dienen der Verschickung von Botschaften "in endloser Vervielfältigung und an beliebig viele Empfänger", ohne dass diese Empfänger ihrerseits willens wären, sich als "mediale Instanzen" zu begreifen. Nicht Medien wollen sie sein, sondern "sie selbst":
    "Selbstsein versteht sich als der unbegeisterte Konsum der eigenen Erlebnismöglichkeiten – als Endverbrauch an Chancen und Ressourcen durch deren Eigentümer. Allenfalls als Träger von Kreativität nehmen moderne Subjekte noch mediale Eigenschaften für sich in Anspruch, aber auch hier nicht als Medien durchgehender, nicht eigener Inspirationen, sondern als originelle, das heißt mit sich selber beginnende Schöpfer."
    Dementsprechend ist "Coolness" das "Metasymptom der Epoche". Es legt eine abschließende Diagnose nahe: Im Zeitalter der Technik, das heißt in der Epoche nach Gott, verkennen sich die Seelen und Geister geradezu konstitutiv. Sie weigern sich, ihre Medialität anzuerkennen. Stattdessen maßen sie sich eine Eigenschaft an, die vormals dem Absoluten vorbehalten war. Die nachgöttlichen Subjekte halten sich für die Schöpfer ihrer selbst. Sich nicht als ein Medium zu verstehen, das der Resonanzen, Echos und Reflektionen bedarf, hält Sloterdijk jedoch für eine fatale Pathologie. Sie enthüllt, dass ein "vitalistischer Nihilismus" die Gegenwart dominiert. Dieser Nihilismus verwechselt Gesundheit mit "entgeisterter Vitalität", womit es um Heilung schlecht bestellt ist. Denn die bestünde darin, "Menschen an die Beseelungsströme intakter Psychosphären, kultureller Kontinua und großer Überlieferungen anzuschließen."
    Mit diesem kulturkonservativen Mollakkord klingt Sloterdijks Begutachtung der Gegenwart aus. Ob Gott, hätten wir ihn um seinen Kommentar zur Moderne gebeten, ein ähnliches Urteil über seine Kreaturen gefällt hätte, ist nicht zu entscheiden. Wie immer hüllt er sich in Schweigen.
    Peter Sloterdijk: "Nach Gott. Glaubens- und Unglaubensversuche"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, Gebunden, 367 Seiten, 28 Euro