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Peter Trawny: "Heidegger Fragmente. Eine philosophische Biographie"
Der Zauberer aus dem Schwarzwald

Peter Trawny gehört weltweit zu den besten Heidegger-Kennern. "Heidegger Fragmente. Eine philosophische Biographie" ist das kenntnisreichste, inspirierteste, empathischste und vor allem humorvollste Buch, was über den Zauberer aus dem Schwarzwald je zu schreiben gewagt wurde.

Von Thomas Palzer | 01.10.2018
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    Entborgen zeigt sich die Einsiedlei von Martin Heidegger (Buchcover Fischerverlag, Hintergrund: dpa / Rolf Haid)
    Was ist Philosophie? Eine feinsinnige, letztlich aber unpersönliche logische Knobelei, eine akademische Disziplin - oder ist Philosophie etwas, das den Menschen angeht, etwas, wie Nietzsche sagt, "ganz und gar nichts Unpersönliches."
    Philosophie ist immer der Philosoph selbst. In einer Zeit, die ihre Maßstäbe freilich den Naturwissenschaften entlehnt, gilt eine solche Auffassung als suspekt, bestenfalls als "subjektiv". Wenn es um das Thema Liebe geht, werden darum Neurowissenschaftler befragt statt "Anna Karenina". Und wenn an die Universitäten Philosophie gelehrt wird, wird darunter Philosophiegeschichte verstanden, oder eine Dogmatik, die die Deutungshoheit über die möglichen Narrative beansprucht.
    Der Mitherausgeber der Heidegger Gesamtausgabe und zumal der ominösen Schwarzen Hefte, Peter Trawny, hält die geistige Faulheit der Heidegger-Dogmatik für unübersehbar. Entweder wird Heidegger angehimmelt, oder verdammt. Nur folgerichtig, dass der Autor, der schon zahlreiche Publikationen zum Thema Heidegger vorgelegt hat, es anders macht, nun mit einem Essay, der in gewisser Weise eine "summa" zum Thema zieht - nicht historisch oder auf einschlägige Weise orthodox - positiv oder negativ -, sondern persönlich.
    Dem Jargon des Zauberers würdig
    "Heidegger Fragmente. Eine philosophische Biographie" lautet der Titel, der die Vorgehensweise des Verfassers gleich mitskizziert: nämlich, dass in dem Essay Leben und Werk aufeinander bezogen bleiben. Wenn die Einheit von Arbeit und Leben im Hinblick auf die Philosophie im Allgemeinen und Heidegger im Besonderen proklamiert wird, heißt das im Umkehrschluss jedoch gerade nicht, dass dieses Leben frei gewesen wäre von Widersprüchen, Ungereimtheiten, Halbwahrheiten und losen Enden.
    Dem trägt Rechnung, dass Trawny in gut 100 Fragmenten - meist nicht länger als zwei oder drei Seiten - all dem nachgeht, was für ihn trotz oder gerade wegen seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Werk des Philosophen und dessen Leben eine offene Frage geblieben ist, fragwürdig, im Jargon des Zauberers aus dem Schwarzwald gesprochen: der Frage würdig.
    Trawny tut dies häufig in mehreren, perspektivisch veränderten Anläufen - und er tut dies kenntnisreich, anschaulich, klug, aus der unmittelbaren Gegenwart heraus, ohne jede Frömmigkeit, dafür gepaart mit einer Eigenschaft, die in der landläufigen Heidegger-Rezeption schmerzlich fehlt: mit Humor. Dabei liefert der Autor im Vorwort zu seinem Essay einen Satz, den ich für zentral halte - und zwar im Hinblick auf das allermeiste, was zu Heidegger bislang überhaupt gesagt worden ist. Dieser eine Satz lautet:
    "Heidegger hat zu seinen stets mit der Hand geschriebenen Texten kein wissenschaftliches, sondern ein künstlerisches Verhältnis."
    Diese Philosophie ist Gedankendichtung
    Heidegger ist auf der Suche nach einer, wie er als Privatdozent schreibt, Philosophie des lebendigen Lebens, und eine solche kann nicht systematisch angelegt sein, kann nicht mit einem Instrumentarium arbeiten, das wie Biologie oder Soziologie fest-stellt und objektiviert, also buchstäblich von nirgendwo spricht, wobei der Bedeutsamkeitscharakter annulliert wird. Heideggers Philosophie ist gleichsam eine individuelle Gebärde, ist Selbstbekenntnis ihres Urhebers.
    Heidegger selbst war zur Systematik nicht nur wenig begabt, er hatte vor allem an seiner solchen gar kein Interesse. Mit anderen Worten: Heideggers Philosophie ist Gedankendichtung. Wer das freilich in einer Zeit sagt, die wissenschaftliches Denken für das Denken schlechthin hält, für absolut alles zuständig, macht sich verdächtig; als Nebelwerfer, Gegenaufklärer, Neo-Romantiker oder Esoteriker, wobei zu bedenken bleibt, dass die Esoterik zunächst nichts anderes gewesen ist als die Reaktion auf den Absolutismus wissenschaftlicher Weltanschauung, ganz ähnlich, wie die Spiritualität auf die Dogmen der Scholastik geantwortet hat.
    Folgerichtig hält der Autor der Heidegger Fragmente diesen für einen esoterischen Philosophen, zumindest seit der Schrift Vom Wesen der Wahrheit aus dem Jahr 1931, die allerdings erst 1943 erschien. Trawny versteht Esoterik ganz wörtlich: als das, was dem inneren Bereich zugehörig ist, was dem kleinen Zirkel und den Eingeweihten vorbehalten bleibt.
    Der Kult um das Manuskript
    In dieser Einschätzung wird er bestätigt von den geheimnisumwitterten Beiträgen zur Philosophie: Vom Ereignis, welches Werk zwischen 1936 und 38 verfasst wurde und lange Zeit unter Eingeweihten kursierte, bevor es 1989 endlich postum veröffentlicht wurde, und das zu den unzugänglichsten des ehemaligen Mesnerbubs aus Meßkirch gehört. Dem kalligraphisch makellos verfassten Manuskript, das im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt, ist dabei eine besondere Ausstattung zuteil geworden. Mit dem Zusatz Weihnachten 1957 ist es der Geliebten Dory Vietta gewidmet und auf zwei extra dafür hergestellte Schachteln aus in Leinen eingeschlagener Presspappe verteilt, die eine dunkelblau, die andere grau marmoriert. Trawny bemerkt:
    "Indem man sie öffnet, wird das Verborgene sichtbar. Auf der einen Ansammlung von Manuskriptblättern erscheint der Titel Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936/37, auf der anderen: Zuspiel. Die metaphysischen Grundstellungen der abendländischen Metaphysik / alle geschichtlichen Vorlesungen. Mit anderen Worten: Der Behälter gleicht einem Schrein, der eine Schrift verbirgt und enthüllt."
    An diesem Kult um das Manuskript zeigt sich, dass für Heidegger die Handschrift eine Geste war, von der die eigene Philosophie oder Gedankendichtung gewissermaßen signiert wurde. Er folgte darin übrigens Sören Kierkegaard, der gleichfalls ein hochdiffiziles ästhetisches Spiel mit seinen Manuskripten oder "papirer" betrieb und dessen klandestiner Einfluss auf Heidegger kaum zu überschätzen ist.
    Jedenfalls muss das Verhältnis zwischen Autor und Text, Heidegger und Werk, folgerichtig ontologisch verstanden werden - eben, wie Trawny es tut, künstlerisch. Während ein Text sich auf den Verstand bezieht, bezieht sich die Handschrift auf die Welt, der die Biographie, die Geschichte ihres Besitzers eingeschrieben ist. Anders gesagt: Die Hand ist die materielle Basis des Gedankens, und für Trawny ist die Tatsache, dass Heidegger in seine Handschrift verliebt gewesen ist, Gegenstand der Interpretation – zu Recht. In einem Fragment, das "Die Hand" überschrieben ist, paraphrasiert der Autor Heidegger:
    "Das Wort als der Wesensbereich der Hand" sei "der Wesensgrund des Menschen". Wenn sich in der Handschrift das Wort zeigt, dann erscheint in ihr zugleich der Mensch.; nicht im Allgemeinen der Mensch, sondern der, der in der Handschrift den Grund seines Wesens erblickt ... Das hat Folgen für die ‚Schreibmaschine‘ und so immerhin für Heideggers Bruder Fritz, der mit ihr sämtliche Manuskripte des berühmten Bruders abtippte."
    Heideggers Schwärmerei für Hitlers Hände ist bekannt
    Dessen Philosophie mit dem Attribut essentiell esoterisch zu bestimmen - das hat Peter Trawny schon 2010 in seiner Publikation Adyton. Heideggers Esoterische Philosophie. In dem nun publizierten Essay kommt noch etwas hinzu: Der Autor zieht eine Verbindung zwischen Heideggers Begriff der Wahrheit und seiner Beziehung zu Frauen. Seit einigen Jahren ist bekannt, dass Heidegger notorisch untreu war und lebenslang außereheliche Affären pflegte.
    Noch als er 81-jährig einen Schlaganfall erleidet, befindet er sich auf dem Weg zu einem Rendezvous. Trawny bringt nun Heideggers Wahrheitsbegriff aletheia, was im Altgriechischen die Dialektik zwischen Unverborgenheit und Verbergung meint, in Verbindung mit einer Bemerkung Heideggers in einem seiner esoterischen Manuskripte, wo es um die Beziehung zwischen Unverborgenheit und Wahrheit geht und wo es heißt:
    "Ein völliges Aufdecken käme einer Entmannung gleich."
    Mit dieser gewissermaßen freudianischen Bemerkung reiht sich Heidegger in eine Geschichte ein, der Michel Foucault in seinem mehrbändigen Werk "Sexualität und Wahrheit" nachgegangen ist, nämlich, dass seit dem 17. Jahrhundert den Geständnissen des Fleisches in Europa eine authentische Beziehung zur Wahrheit zuerkannt wird. Trawnys Engführung zufolge können wir sagen, dass Heidegger mit seinem Begriff der aletheia-Wahrheit eine europäische Marotte in die Antike zurückverlegt hat. Mit Nietzsche gesprochen, wäre die Wahrheit also doch - ein Weib. Darauf, und auf vieles andere, macht Trawny in seinem unbedingt lesenswerten Buch über Heideggers Leben und Werk elegant und mit Witz aufmerksam.
    Peter Trawny: "Heidegger Fragmente. Eine philosophische Biographie"
    S. Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main, 320 Seiten, 25 Euro