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Petritsch: Kosovo hat die typischen Probleme einer Nachkriegsregion

Balkan-Experte und österreichische UN-Botschafter in Genf, Wolfgang Petritsch, will nicht ausschließen, dass die Kfor-Truppen im Kosovo nur wenig effektiv bei der Bekämpfung der Kriminalität sind. Letztlich werde es im Kosovo einen Rechtsstaat geben, allerdings sei dafür eine florierende Wirtschaft nötig. Petritsch bemängelte, dass bei der Europäischen Union der "politische Wille zur Integration dieser Region nicht sehr ausgeprägt" sei.

Moderation: Dirk Müller | 29.03.2007
    Dirk Müller: Das Kosovo soll unabhängig werden. Das fordert UN-Vermittler Martti Ahtisaari jetzt vom Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen. Serben und Kosovaren haben sich auch nach vielen gescheiterten Gesprächsrunden und immer wieder neuen Anläufen nicht einigen können. Der künftige Status der umstrittenen Provinz läuft somit wohl tatsächlich in Richtung Souveränität, auch wenn beispielsweise Russland noch nicht so richtig einverstanden damit ist. Für Aufsehen sorgt jedoch in diesen Tagen ein anderer Aspekt, nämlich der Vorwurf an die NATO-Truppen Kfor wie auch an die Adresse der Europäischen Union, insgeheim die organisierte Kriminalität im Kosovo zu dulden, zu tolerieren, Mafia-Strukturen, ein Zustand von Recht- und Straflosigkeit. Dies das Ergebnis jedenfalls einer vertraulichen Studie des Berliner Instituts für europäische Politik.

    Am Telefon ist nun Balkan-Experte Wolfgang Petritsch, Österreichs UN-Botschafter in Genf. Guten Morgen!

    Wolfgang Petritsch: Guten Morgen Herr Müller.

    Müller: Herr Petritsch, wäre das politisch naiv zu glauben, dass es anders sein könnte?

    Petritsch: In gewisser Weise bin ich der Meinung, dass aufgrund des seit vielen Jahren labilen Zustandes und ungelösten Statusproblems natürlich die Probleme, die typisch sind für diese Region, eine Nachkriegsregion mit großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen, auch die Probleme der Kriminalität, der organisierten Kriminalität und so weiter sehr groß sind.

    Müller: Sehr groß heißt, die NATO hat de Facto keine Möglichkeit, effizient gegen Kriminalität vorzugehen?

    Petritsch: Die NATO ist natürlich in erster Linie für die Stabilisierung dort und nicht zur Bekämpfung der Kriminalität, wie das ein intaktes Gerichtssystem natürlich machen müsste. Ich glaube ohne Lösung des Statusproblems - die Lösung steht ja jetzt hoffentlich an - wird man und konnte man eben in der Vergangenheit nur sehr, sehr beschränkt die Dinge regulieren und auf normales europäisches Niveau bringen. Sie müssen auch verstehen und bedenken, dass Kosovo traditionell unterentwickelt gewesen ist, auch zu Zeiten des großen Jugoslawien, und dass dann der verlängerte und sehr, sehr lange Kriegszustand, Konfliktzustand zwischen Belgrad und der Provinz auch dazu geführt hat, dass es Parallelstrukturen gegeben hat. Sie erinnern sich vielleicht, dass die Kosovo-Albaner unter Rugova Strukturen aufgebaut haben, die sie völlig losgelöst haben von den staatlichen Strukturen Jugoslawiens. Und viele andere wichtige Probleme wie eine riesige Arbeitslosigkeit tragen natürlich zur Kriminalität, zu einer erhöhten Kriminalität und zu einem Mangel an Rechtsstaatlichkeit bei.

    Müller: Ist das aber, Herr Petritsch, zufrieden stellend? Wäre das für uns nicht als Beobachter ein wenig ernüchternd zu sagen, es gibt staatliche Stabilität mit Kriminalität?

    Petritsch: Sicher ist das nicht das Endprodukt, kann nicht die Lösung sein, sondern ich glaube im Gegenteil mit dem Beginn jetzt hoffentlich sehr bald wie gesagt von regulierten Zuständen, die dann auch international sanktioniert sind, muss mit dem wirklichen Aufbau von modernen staatlichen Institutionen begonnen werden. Das glaube ich ist und wird die Hauptaufgabe sein und dazu wird eben auch gehören, die kriminellen Strukturen nach Möglichkeit zu zerschlagen und den Kosovo überzuführen in einen normalen Staat. Das wird eine sehr, sehr lange Arbeit sein, eine riesengroße Herausforderung, die dann die Europäische Union großteils wird übernehmen müssen.

    Müller: Herr Petritsch, Sie haben viel Erfahrung mit Blick auf das gesamte Balkan-Gebiet, auf die gesamte Balkan-Region. Ist das dort überall so gewesen?

    Petritsch: Man darf die Kosovo-Situation nicht isoliert sehen. Es ist klar, dass es Probleme auch in anderen ex-jugoslawischen Staaten gibt. Sie müssen bedenken, dass diese Staaten mindestens einen zweifachen Transformationsprozess hinter sich haben beziehungsweise noch mitten darin stecken. Das ist einmal von einem kommunistischen System hin zu Demokratie und Marktwirtschaft und andererseits von Krieg zum Frieden, von einem sehr, sehr langen, sehr intensiven Konflikt, der ja in Wirklichkeit ein Bürgerkrieg gewesen ist, wo man jetzt auf der Suche nach neuen Strukturen, neuen Vorbildern, staatlichen Vorbildern und so weiter ist, und wo zudem jetzt auch noch das Problem kommt, dass die Europäische Union zwar im technischen Bereich, im Verwaltungsbereich sehr viel tut, auch sehr viel Geld aufwendet, aber der politische Wille zur Integration dieser Region nicht sehr ausgeprägt ist in Brüssel. Das trägt dazu bei, dass die Menschen dort keine wirkliche Perspektive sehen, und dann flüchten eben gerade junge Menschen in jene Bereiche, wo sie Geld verdienen können, wo es eben darum geht, dann auch das Überleben zu sichern. Es sind nicht alle jungen Menschen dort Kriminelle, aber natürlich ist die Verführung, ist die Tendenz dort wahrscheinlich größer als in sagen wir geordneten Verhältnissen, wie sie doch zum Großteil bei uns in Westeuropa herrschen.

    Müller: Herr Petritsch, ich möchte gerne noch mal an meine erste Frage anknüpfen. Wir reden ja nicht über Demokratisierung im Irak. Wir reden ja auch nicht über Drogenbekämpfung in Afghanistan. Wir reden über Europa, über das Kosovo. Noch einmal meine erste Frage anders gestellt. Ist es naiv zu glauben, dass wir, die internationale Staatengemeinschaft, die Europäische Union im Kosovo jetzt ganz konkret einen Rechtsstaat herstellen könnten?

    Petritsch: Nein. Ich glaube die Hoffnung ist ganz berechtigt und sehr konkret und das wird es letzten Endes auch geben. Wir dürfen aber nicht glauben, dass das von heute auf morgen geht. Rechtsstaat und Demokratie benötigen eine Unterlage sozusagen und die ist eine florierende Wirtschaft. Diese Wirtschaft, die Investitionen, der Aufbau - ich sage gar nicht Wiederaufbau einer Wirtschaft, weil es dort sehr wenig gegeben hat - muss erst tatsächlich in Angriff genommen werden. Eine ganz wesentliche Voraussetzung dafür ist eben die Regelung des Status, damit die Menschen wissen, in welchem Staat sie leben und sich dann wirklich auf die Fragen des täglichen Lebens konzentrieren können. Ich war gerade in der Vorwoche im Kosovo und da merkt man, es gibt trotz dramatisch hoher Arbeitslosigkeit nur eine Frage: werden wir unabhängig oder nicht. Das beschäftigt die Menschen und absorbiert derartig viel Energie auch und überlässt dann natürlich in einer gewissen Weise auch das Feld kriminellen Elementen, weil der politische Diskurs absolut und ausschließlich auf die Frage der Unabhängigkeit fokussiert ist.

    Müller: Haben Sie, Herr Petritsch, Anwälte, Staatsanwälte, Richter kennen gelernt, die von der Mafia unter Druck gesetzt werden?

    Petritsch: Sicherlich gibt es das. Sie müssen bedenken, dass die kosovarische Gesellschaft eine sehr konservative, Klan-organisierte Gesellschaft ist, wo man sich erst daran wird gewöhnen müssen, dass es Rechtsstaatlichkeit gibt, dass die Justizia sozusagen blind ist und sich nicht orientiert an Verwandtschafts- und Familienverhältnissen. Das ist auch Teil der Modernisierung der Gesellschaft, die aber wiederum nicht funktionieren kann, wenn der Motor Wirtschaft nicht funktioniert.

    Müller: Wolfgang Petritsch war das, Österreichs UN-Botschafter in Genf. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Petritsch: Ich danke Ihnen.