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Frédéric Valin: „Pflegeprotokolle“
Care und Corona

Seit Pandemiebeginn wird eine ohnehin schwierige Arbeit zur maximalen Herausforderung: Die Pflege. Der Berliner Autor und Pfleger Frédéric Valin hat 21 Kolleginnen und Kollegen erzählen lassen über Verantwortung, Sinnsuche und ein kaputtgespartes Care-System.

Von Jan Drees | 01.12.2021
Frédéric Valin und sein Buch „Pflegeprotokolle“
Frédéric Valin und sein Buch „Pflegeprotokolle“ (Foto: Alexander Janetzko, Buchcover: Verbrecher Verlag)
Es ist ein Thema, das uns früher oder später alle angeht: die Pflege. Mit den kürzlich erschienenen „Pflegeprotokollen“ des Berliner Schriftstellers Frédéric Válin bekommen die kaum sichtbaren Arbeiterinnen und Arbeiter verschiedener Care-Berufe eine Stimme. Válin ist der passende Vermittler. Zunächst hat er Literatur und Romanistik studiert, später Soziale Arbeit, außerdem zahlreiche Bücher veröffentlicht, die oft einen sozial-engagierten Charakter haben. Bereits sein Debüt „Randgruppenmitglied“ aus dem Jahr 2010 sammelt Geschichten über Kranke, Psychotiker, Gescheiterte, Ausgeschlossene.Seit über acht Jahren arbeitet er neben seiner Tätigkeit als Autor und Journalist auch als Betreuer in einer Einrichtung für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. Seine „Pflegeprotokolle“ erscheinen im Berliner Verbrecher Verlag, wo bereits im Februar des vergangenen Jahres mit „Equal Care“ ein Buch über Fürsorge und Gesellschaft erschienen ist.
„Pflegeprotokolle“ ist seit März des vergangenen Jahres entstanden, als der erste Lockdown auch Frédéric Valin in die Isolation zwang. „Ich wusste, dass viele Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bereichen jetzt auch zu Hause sitzen mit ihren Eindrücken, ihren Frustrationen und Herausforderungen“, sagt er im Dlf-Gespräch, „und dann habe ich angefangen, erst mal ohne Hintergedanken, mit diesen Menschen zu telefonieren; mit Bekannten, dann auch mit Unbekannten. So entstand im Laufe der Zeit die Idee, daraus was zu machen, da mein Eindruck zu Beginn der Pandemie gewesen ist, dass es sehr viele neue Expertinnen, Meinungen gab, insbesondere aus der Forschung und aus der Medizin, aber bei der Pflege herrschte eine Lücke, die schwieg.“

Sehr bedrückend zu hören

Diese Lücke schließt sich langsam. Valins 21 anonymisierten Protokolle beginnen mit „Maxi“, Anfang 30, die in der Geriatriestation einer westdeutschen Großstadt arbeitet. Sie berichtet aus ihrem Beruf: „Die Verhältnisse waren katastrophal rückständig. Da hat man alles selbst machen müssen, es gab keine Sekretärin, die einem Sachen abnimmt, auch keine Blutentnahme-Damen oder Leute, die Medikamente richten. Da musste man wirklich alles machen.“ Inzwischen arbeitet sie als Leasing-Fachkraft und lässt sich, besser bezahlt, über eine Pflege-Agentur vermitteln. Neben Maxi kommen Beschäftigte aus den unterschiedlichsten Care-Bereichen zu Wort.
„Ich habe versucht, möglichst umfassend zu fragen, insbesondere auch Bereiche, von denen ich weiß, dass sie nicht besonders oft befragt werden, wie Einzelfallhilfen, stationäre Jugendhilfe, von denen ich wusste, dass sie stark belastet sind, während dieser Pandemie und davor schon stark belastet waren“, sagt Valin. „Man muss sich das einmal vorstellen: Man betreut neun Kinder im Einzeldienst, und plötzlich ist Homeschooling. Was bedeutet das? Das bedeutet, das Internet ist nicht ausreichend, es gibt nicht genug Endgeräte, man muss neun Kinder beschulen, zusätzlich zu dem eignen. – Was macht das mit der Beziehung zu den Kindern, wenn man plötzlich die Rolle wechselt und nicht nur betreut, sondern Lehrende ist. Das war sehr, sehr bedrückend zu hören. Und es war mir in der Intensität auch nicht bewusst.“

Der moralische Zwiespalt

Frédéric Valins „Pflegeprotokolle“ changieren zwischen Journalismus, Oral-History, soziologischer Beobachtung, können aber ebenso gut ins literarische Feld eingeordnet werden. Die Texte sind keine Eins-zu-Eins-Abschriften, sondern vorsichtig aus Transkripten gebaute und von den Pflegerinnen und Pflegern abschließend freigegebene Stücke. „Ich würde sagen, dass in dem Buch überproportional viele Menschen versammelt sind, die ich als engagiert Pflegende bezeichnen würde“, sagt Valin, „das sind häufig Leute, die in einen moralischen Zwiespalt geraten sind und die die Herausforderungen besonders wahrgenommen haben.“
Schwierig war für ihn, migrantische Pflegende zu finden. Es gab sprachliche Hürden, außerdem das generelle Problem der Quasi-Unsichtbarkeit jener, die in Privathaushalten arbeiten und „drittens hat sich herausgestellt, dass es – völlig zu Recht – ein Misstrauen gegenüber Leuten wie mir gibt im Sinne von: Okay, der macht jetzt ein Buch, und damit verdient er dann Geld und so weiter. Leute, die sowieso schon regelmäßig innerhalb dieses Systems übers Ohr gehauen werden, trauen nicht unbedingt Leuten, die innerhalb dieses Systems, arbeiten oder dazu arbeiten, weil sie schon sehr viele schlechte Erfahrungen gemacht haben mit der ganzen Konstruktion.“
Wichtig war die garantierte Anonymisierung, „weil zu Recht viele der Protagonist_innen Sorgen haben, dass Arbeitgeber Konsequenzen ziehen, dass sie Schwierigkeiten dort bekommen, wo sie arbeiten. Das ist bei anderen Pflegenden, die sich öffentlich äußern, häufig passiert. Der bekannteste Fall ist wahrscheinlich der Berliner Intensivpfleger Ricardo Lange, der nicht mehr auf seiner Station eingesetzt werden sollte, nachdem er seine Eindrücke öffentlich gemacht hat.“

Verschwende Deine Jugend

„Pflegeprotokolle“ ist kann ästhetisch in die mehr als hundertjährige Geschichte der neueren Protokollliteratur eingeordnet werden, die beginnt mit jener in den 1920er Jahren dominanten Strömung der Neuen Sachlichkeit, wo Journalismus und Literatur bereits näher rückten, weiter zum New Journalism, hierzulande in den 1970er Jahren prominent vertreten durch Jörg Fauser; und dann gibt es die in den 2000er Jahren erfolgreichen Oral History-Erzählungen wie Jürgen Teipels „Verschwende Deine Jugend“. Über allem stehen Walter Kempowski mit seinem „Echolot“-Projekt oder auch Alexander Kluges Montage-Veröffentlichungen.
Valin hat sich im Vorfeld seiner „Pflegeprotokolle“ drei Bücher angeschaut: Die „Bottroper Protokolle“ von Erika Runge, die eine herausragende Stellung in der der Protokollliteratur haben, weil hier die Bewegungen, Meinungen, Gedanken im Zuge eines Streiks Ende der 1960er Jahre überaus plastisch dargestellt werden. Wichtig für die „Pflegeprotokolle“ waren auch Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ und Pierre Bourdieus soziologische Sammlung „Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft“.

Das Buch als erster Impuls

In Valins Buch kommen unter anderem zu Wort die Einzelfallhelferin Irma, die mit Jugendlichen arbeitet und sagt, das sei „ein richtig, richtig geiler Job für Sozialpädagogen, weil du alles hast, was du brauchst“ – oder der examinierte Krankenpfleger Maximilian, der sehr reflektiert zu Protokoll gibt: „Worum geht es in der Pflege? Es geht darum, dass wir die Schwachen und die Schwächeren nicht aus den Augen verlieren.“ Dem entgegengesetzt klagt Andrea, Ende 50, ebenfalls aus der Krankenpflege kommend, über die schwierigen Bedingungen bereits in der DDR: „Ich bin schon länger wieder zu Hause, ich geh nicht arbeiten, keine zehn Pferde kriegen mich wieder in die Pflege.“
Andere erinnern, wie noch in den 1990er Jahren Menschen an Heizungen gekettet, in kleine Räume gesperrt oder medikamentös ruhiggestellt wurden; eine perfide Verdopplung der Unsichtbarmachung unerwünschter Personen, die seit jeher institutionalisiert ausgeschlossen und weggesperrt wurden. Auf diese Weise kommen einem die „Pflegeprotokolle“ sehr nah in ihrer ungeschönt dokumentarischen Erzählweise, sie zwingen, den Blick dorthin zu richten, wo er sich eigentlich abwenden will.
Im Dlf-Gespräch abschließend befragt, wie die Authentizität der Protokolle trotz ihrer Anonymisierung belegt werden kann, antwortet Frédéric Valin auf denkwürdige Weise: „Die Überprüfbarkeit in diesem Sinne kann man, glaube ich, herstellen, wenn man sich Geschichten von anderen Pflegenden hört. Das ist sowieso mein Wunsch, dass dieses Buch ein Anfang ist und insgesamt die Menschen aus der Pflege mehr ins Sprechen, mehr in den Diskurs kommen. Es ist nicht so, dass ich ein investigatives Buch geschrieben habe, das möglichst krass Missstände aufzudecken will, sondern mir ging es eigentlich eher darum, eine Stimmung zu haben. Wen interessiert was? Warum machen die Menschen das? Warum arbeiten Sie da? Was sind Ihre Herausforderungen? Und was würden Sie sich für Ihre Zukunft wünschen? Ich glaube, anhand dieser Fragen kann man auch mit anderen Pflegenden ins Gespräch kommen.“
Frédéric Valin: „Pflegeprotokolle“
Verbrecher Verlag, Berlin. 240 Seiten, 18 Euro.