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Pflegereform
"Gröhe ist relativ unehrlich"

Die Beiträge für die Pflegeversicherung werden weiter steigen, wenn die Pflegesituation so bleibt wie sie aktuell ist, sagte Elisabeth Scharfenberg, Bundestagsabgeordnete und Grünen-Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik im DLF. Der Pflegevorsorgefonds von Gesundheitsminister Herrmann Gröhe (CDU) werde das nicht abfedern können, sagte sie weiter.

Elisabeth Scharfenberg im Gespräch mit Thielko Grieß | 12.08.2015
    Die Grünen-Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik im Bundestag, Elisabeth Scharfenberg
    Die Grünen-Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik im Bundestag, Elisabeth Scharfenberg (Grüne/Bundestagsfraktion )
    Thielko Grieß: Der Vater der deutschen Pflegeversicherung, Norbert Blüm, hat unlängst seinen 80. Geburtstag gefeiert, bei rüstiger Gesundheit an Leib und Seele, wie es aus Bonn, seinem Wohnort hieß. Blüm ist damit nicht unbedingt Zielgruppe der Reform, die sein Machwerk, seine Pflegeversicherung grundlegend weiter verändern soll. Die aktuell Regierenden in Berlin verändern die Pflegeversicherung einmal mehr. Sie soll künftig mehr Menschen erfassen, sie soll gerechter sein, aber sie wird auch teurer.
    Am Telefon ist jetzt Elisabeth Scharfenberg, die Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik der Grünen im Deutschen Bundestag. Frau Scharfenberg, schönen guten Tag.
    Elisabeth Scharfenberg: Guten Tag.
    Grieß: Ich habe mir die Sätze noch einmal angeschaut, die künftig gelten sollen für die neuen Pflegegrade, zum Beispiel Nummer zwei und Nummer drei. Da gibt es künftig weniger Geld als für die vergleichbaren Stufen, die bislang gelten. Wie kommt man auf die Idee zu behaupten, dass Pflegebedürftige künftig nicht schlechter gestellt werden?
    Scharfenberg: Ich denke, damit sind gemeint die Menschen, die jetzt schon eingestuft wurden und Leistungen erhalten. Wenn man das anpassen würde auf das neue System, würden sie vermutlich weniger Geld bekommen. Darum geht es, denke ich, bei diesen Aussagen.
    Wenn ein Systemwechsel stattfindet und neu einjustiert wird, was mit wie viel Leistung hinterlegt sein wird, dann werden irgendwann Menschen eingestuft werden, die im Verhältnis zu den jetzt eingestuften nach dem alten System wahrscheinlich weniger bekommen, aber im neuen System natürlich einfach bedient werden. Es dreht sich da um die jetzigen im System Leistungserhaltenden.
    Grieß: Künftige Pflegebedürftige erhalten im Einzelfall - na ja, Pflegestufengrade zwei und drei werden nicht nur Einzelfälle betreffen - unter Umständen doch weniger Geld.
    Der Kuchen wird neu aufgeteilt
    Scharfenberg: Ja natürlich! Das ist ganz klar! Bei einem Systemwechsel, wenn neu einjustiert wird, kann das durchaus passieren. Das ist klar.
    Grieß: Und das ist gut so?
    Scharfenberg: Na ja. Der Kuchen wird neu aufgeteilt. Wir haben 500.000 Menschen, die demenzkrank sind, die jetzt quasi mit einbezogen werden. Das erweitert den Kreis enorm. Das bedeutet, auch unterm Strich wird es enorm viel höhere Ausgaben geben, und da müssen wir uns ehrlich machen. Entweder der Kuchen bleibt in dieser Größe und wird neu verteilt unter mehr Hungrige; dann werden die Stücke kleiner werden. Oder der Kuchen wird größer gemacht, damit jeder im Grunde genommen das bekommt, was er jetzt auch bekommen würde. Das bedeutet mehr Geld ins System und da sind wir schon an dem Punkt, wo die Koalition und ja auch Herr Gröhe relativ unehrlich sind, denn es wird am Ende des Tages nicht genug Geld eingestellt, um all das zu bedienen.
    Grieß: Aber Fakt ist auch, es wird erst einmal mehr Geld eingestellt. Es geht um etliche Milliarden jedes Jahr, die über höhere Beiträge von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und ihren Arbeitgebern zusammenkommen. Das reicht Ihnen nicht?
    Gute Pflege kostet Geld
    Scharfenberg: Nein, das reicht mir nicht. Das ist eine einfache Rechenaufgabe. Wenn man all die Verbesserungen, die angedacht sind, wirklich auf Dauer finanzieren möchte, wird das natürlich nicht reichen. Wir haben ja noch viele offene Baustellen, die auch bleiben. Das PSG II löst ja unterm Strich überhaupt nicht beispielsweise ...
    Grieß: PSG?
    Scharfenberg: Pflegestärkungsgesetz II, das was jetzt im Grunde genommen verhandelt wird. - Das löst ja die Probleme überhaupt nicht. Beispielsweise Thema Personalmangel, wie gehe ich damit um, einen Beruf attraktiv zu machen. Uns steht noch eine Ausbildungsreform für die Pflege ins Haus. Wie kann man Personalbemessung wirklich berechnen und ordentlich bearbeiten? Das sind alles offene Baustellen. Gute Pflege kostet Geld und wenn da natürlich auch mehr Personal notwendig ist, um nicht nur Defizite zu verwalten oder zu betreuen, sondern im Grunde genommen auch Teilhabe zu ermöglichen, dann ist das ein ganz anderes Bild auf die Pflege. Es braucht mehr Personal und da wird sich im Moment nicht gekümmert, und mehr Personal wird mehr Geld kosten.
    Grieß: Das was Sie sagen, mehr Personal, auch besser bezahltes Personal, besser ausgebildetes Personal, vermutlich wird jeder Angehörige, der selber pflegebedürftige Angehörige in der Familie hat, Ihnen zustimmen und das unterschreiben. Aber die Frage muss gestellt werden: Wer soll das bezahlen?
    Scharfenberg: Ja ich denke, das ist eine Sache der Gesellschaft auch. Ich glaube, wir müssen da Ross und Reiter nennen und müssen auch ganz klar sagen, die Beiträge werden steigen. Anders wird das nicht zu stemmen sein. Es ist auch die Frage der Systematik, wie man so eine Sozialversicherungssparte finanziert. Wir sagen ganz klar, es müssen alle in ein System einzahlen, Pflegebürgerversicherung. Das heißt, wir brauchen nicht mehr diese unsägliche Trennung zwischen sozialer Pflegeversicherung - das sind die Krankenkassenversicherten, die gesetzlich Versicherten - und privater Pflegeversicherung. Das sind die, die privat krankenversichert sind. Das muss in ein System überführt werden. Das heißt, mehr Beitragszahler und ein größerer Topf, aus dem dann im Grunde genommen die Leistungen finanziert werden. Das wäre ein Schritt in die absolut richtige Richtung.
    Beiträge werden beim Status quo steigen
    Grieß: Sie widersprechen dem Minister Gröhe dahingehend, dass der ja erwartet, dass bis 2022 keine Beiträge erhöht werden. Sie glauben, so lange reicht es nicht?
    Scharfenberg: Nein! Es wird natürlich nicht so lange reichen. Ich glaube, da wird einfach eine Hypothek auf die Zukunft in den Raum gestellt. Wer will ihm denn das Gegenteil beweisen jetzt erst mal? Ich meine, wir haben das mit unserer Pflegebürgerversicherung, wir haben ein Gutachten in Auftrag gegeben und haben das mal rechnen lassen und haben da einfach erfahren, dass das ein zukunftstragendes System sein könnte. Wenn es so bleibt wie es ist, werden die Beiträge steigen und da wird auch dieser Pflegevorsorgefonds das unterm Strich nicht abfedern können. Das ist ja die Idee der Regierung, dass dieser Pflegevorsorgefonds, wo ganz viel Geld geparkt wird, was dann, wenn die Babyboomer in die Pflegejahre kommen, quasi entspart wird.
    Aber alle Expertinnen und Experten haben gesagt, das ist eine Symbolpolitik. Da wird im Grunde genommen was zum Sehen gemacht. Unterm Strich wird das spürbar keine Abfederung bringen. Dafür ist der Fonds dann wieder zu klein.
    Grieß: Der Pflegevorsorgefonds - das möchte ich nur kurz erläuternd hinzufügen - ist Teil der ersten Stufe der Pflegereform gewesen. Da wird sozusagen Geld angespart, um, wie Sie sagen, ganz besonders geburtenstarken Jahrgänge, wenn die dann pflegebedürftig werden sollten, auch versorgen zu können.
    Also es bleibt dabei, Frau Scharfenberg, dass Familien, die heute ja schon sehr, sehr viel zum Teil zu schultern haben, an persönlicher Arbeit oder auch an finanziellen Zuschüssen, am ehesten noch den Weg in die Schwarzarbeit wählen, um zum Beispiel eine Pflegekraft aus dem Ausland hier schwarz zu beschäftigen, damit es überhaupt tragbar bleibt.
    Scharfenberg: Das ist ein Weg, der gewählt wird bei Familien. Aber auch das muss man sich leisten können. Ich denke, der meistgewählte Weg ist wirklich dann eine stationäre Pflegeeinrichtung, wo dann wirklich quasi diese Finanzlücke, die eventuell besteht, weil man es allein nicht finanzieren kann, durch die Sozialhilfe geschlossen wird. Das ist im Grunde genommen für jede Familie der sichere Weg und funktioniert auch. Aber es ist nicht das, was wir als Bürgerinnen und Bürger uns wünschen. Wenn ich herumfrage, wie stellst Du Dir Dein Alter vor, wie möchtest Du gepflegt werden, was ist Deine Idee davon, dann kriege ich zuhauf die Antwort: Ich möchte zuhause alt werden, zuhause versorgt werden, gepflegt sein, am liebsten zuhause sterben. Da, denke ich, müssen wir Rechnung tragen. Da müssen wir schauen, wie kriegen wir das in dieser Gesellschaft hin, das auch zu ermöglichen. Da braucht es andere Strukturen, da braucht es auch eine Einbeziehung der Kommunen, denn das ist ja der Ort, wo die Menschen leben.
    Ich beispielsweise lebe in einer relativ strukturschwachen Region. Da stehen die Kommunen eh schon mit dem Rücken an der Wand. Wenn die sich noch um das Thema Pflege kümmern sollen, dann steigen die aus. Das ist unsere Aufgabe im Bund, auch da zu sehen, wie können wir Pflege vor Ort in der eigenen Häuslichkeit wirklich gut organisieren, dass es funktioniert und dass nicht auf Schwarzarbeit zurückgegriffen werden muss.
    Grieß: Elisabeth Scharfenberg war das, die alten- und pflegepolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk. Frau Scharfenberg, danke für das Gespräch.
    Scharfenberg: Herzlichen Dank!
    Grieß: Einen schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.