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Pharmaindustrie
Überflüssige Neueinführungen von Medikamenten

Es gibt für fast jede Krankheit bereits eine ganze Palette von Medikamenten. Dennoch werden immer wieder neue Arzneien eingeführt, deren Zusatznutzen mitunter fraglich ist. Eine aktuelle Studie des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zeigt, dass viele tatsächlich überflüssig sind.

Von Thomas Liesen | 03.02.2015
    Für die Pharmahersteller ist die Sache klar: Das Neue ist das Beste und sie bewerben es entsprechend. Doch seit 2011 werden nun genau solche Botschaften per Gesetz überprüft. Und zwar vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz Iqwig. Seitdem hat das Iqwig, auch oft Pharma-TÜV genannt, bereits rund 100 Präparate auf ihren Zusatznutzen bewertet. Und jetzt eine Zwischenbilanz präsentiert. Das Ergebnis: 60 Prozent der geprüften Mittel fallen durch. Es gibt bei ihnen keinen Nachweis dafür, dass sie etablierten Präparaten überlegen sind. Und von jenen 40 Prozent, die überhaupt einen Zusatznutzen aufweisen, ist er wiederum nur bei einem Teil wirklich erheblich.
    "Das unterstreicht eindrucksvoll das, was bei uns immer der Leitspruch ist: Neu bedeutet fast nie besser bei der Arzneimitteltherapie, sondern ein neues Arzneimittel muss seinen Stellenwert erst einige Jahre auf dem Markt beweisen und bei vielen stellt sich dann heraus, dass es keinesfalls besser ist, sondern eigentlich überflüssig." Erklärt Professor Wolf-Dieter Ludwig, Onkologe und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.
    Wirtschaftlicher Zweck bei Neueinführungen
    Doch selbst wenn Präparate kaum halten, was sie versprechen: Jede Neueinführung folgt auch einer rein wirtschaftlichen Logik, sagt Dr. Thomas Kaiser vom Iqwig: "So, wie man ja auch sagen kann: Wenn es schon zehn Autos gibt, kann ich auch ein elftes Auto in den Markt bringen, wenn sich das zu dem Preis, wie die anderen zehn Autos verkauft, dann kann ich mir ja einen Marktanteil sichern."
    Einen besonders großen Markt versprechen Volkskrankheiten, wie zum Beispiel Diabetes. Mittel zur Blutzuckerstabilisierung sind denn auch beliebte Neueinführungen der Hersteller, Beispiel: der Wirkstoff Linagliptin von Boehringer. Laut Hersteller ein Mittel, um besonders effektiv den Blutzuckerspiegel zu senken. Und zwar besser als andere Mittel. Das Iqwig hat unlängst diese Behauptung geprüft und festgestellt: Boehringer hat Linagliptin tatsächlich in keiner Studie direkt und ordnungsgemäß im Vergleich zu etablierten Mitteln getestet. Als grundsätzlich wirksam erwies es sich allerdings schon.
    "Da entstehen dann Diskussionen und dann sagt der Hersteller: Das zeigt doch, dass unser Arzneimittel Linagliptin den Blutzucker senkt. Und dann sagen wir: Das stellen wir auch nicht infrage, dass es den Blutzucker senkt, aber es zeigt eben nicht, dass es besser ist, als sich um die Insulintherapie zu kümmern. Das würde in so einem Fall nämlich der Arzt oder die Ärztin machen", sagt Thomas Kaiser.
    Vergleichstests fehlen
    Das Iqwig hat vielen weiteren, neuen Präparaten in den letzten Wochen jeden Zusatznutzen abgesprochen. Darunter ein Mittel gegen Alkoholabhängigkeit, eines gegen Leukämie und eines gegen Prostatakrebs. Meist fehlen die entscheidenden Vergleichstests mit etablierten Mitteln. Die Konsequenzen für Hersteller: Sie dürfen für die neuen Mittel keine höheren Preise verlangen. Aber sie dürfen sie weiter innerhalb der Ärzteschaft bewerben.
    "Wenn wir uns die Zahlen der neu zugelassenen Arzneimittel für 2014 und wir uns gleichzeitig anschauen die Ankündigung des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller, dass damit ein enormer medizinischer Fortschritt verbunden ist, dann können sie sich vorstellen, welche Marketingwelle auf uns zurollt und wie wichtig es ist, unabhängige Informationen tatsächlich auch wahrzunehmen." Sagt Wolf-Dieter Ludwig von Arzneimittelkommission. Sein Appell: Statt auf Pharmareferenten sollten Ärzte lieber auf industrie-unabhängige Arzneimittelinformationen hören. Diese sind in einschlägigen Fachblättern zu finden und mittlerweile auch auf zahlreichen Websites gut und verständlich aufbereitet, zum Beispiel beim Iqwig oder bei der Arzneimittelkommission.