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Philippe Jaccottet
Vom schlichten Alltag und hoher Poesie

Dass sich ein ausgeprägtes Gefühl für Rhythmus, Tonfolge und Komposition nicht nur in Lyrik, sondern auch in Prosa ausdrücken kann, zeigen auf meisterhafte Weise die Aufzeichnungen "Sonnenflecken, Schattenflecken" von Philippe Jaccottet. Sie suchen einerseits das Schlichte, Gegenständliche und Alltägliche - verehren aber andererseits die Höhe.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 29.06.2015
    Die Appalachen - ein Mittelgebirge in den USA
    Der Band "Sonnenflecken, Schattenflecken" verdeutlicht beispielhaft, wie die Bilder entstehen, die Philippe Jaccottet als Dichter malt: Er vertieft sich in die Natur, erforscht das Geschehen, oft mit der Zärtlichkeit eines Liebenden. (picture alliance / dpa / Jim Lo Scalzo)
    "Tage mit heftigem Schirokko. Als würde man in ständigem Donnergrollen leben ... Es ist nichts weiter als Wind, doch was für eine Macht über unseren Körper. Wind Gottes ... Gegen drei Uhr früh erwacht, gehe ich ans Fenster und entdecke staunend Orion über den Bergen im Osten: ganz im Westen der Mond, versteckt in den schwarzen Blättern der Akazie ..."
    Diese Aufzeichnungen in dem Band "Sonnenflecken, Schattenflecken" verdeutlichen beispielhaft, wie die Bilder entstehen, die Philippe Jaccottet als Dichter malt: Er vertieft sich in die Natur, erforscht das Geschehen, oft mit der Zärtlichkeit eines Liebenden. Er ist von der Natur getrennt und verschmilzt doch auch mit ihr, kraft seiner Einfühlungen, Berührungen und seiner poetisch-beschreibenden Sprache.
    Es sind die Formen und die Farben, die Naturereignisse, das Gestalthafte und der Gestaltwandel, denen sich der 1925 in der Schweiz geborene und seit 1953 in Südfrankreich lebende Schriftsteller sinnlich und seinen Assoziationen folgend zuwendet.
    Das Alltägliche des Lebens und das Licht, der Wind, die Wolken, die Tiere und die Blumen, die Flüsse, die Wälder, die Felsen und die Berge umspielt Jaccottet in allen seinen Werken mit seinen Worten, formt sie zu einem Bild, einer Chiffre, einem Symbol - und möchte sie doch auch in ihrer Gegenständlichkeit belassen.
    "Gesang des Pirols von seltsamer Ruhe, wie ein Gesang der Loslösung; während ich Unkraut rupfe ... Ein Auflodern wie vor der Nacht die Sonne: Bevor der Schnee kommt, lodert die Erde, zeigt ihren Reichtum. Auch die Herbstblumen: ihre Pracht und der Tod.
    Schleiereule, tot auf meinem Fenstersims gefunden, an einem Oktobermorgen."
    Von der Schönheit der Natur
    Jaccottets Werke - auf Deutsch liegen unter anderem vor: "Landschaften mit abwesenden Figuren", "Antworten am Wegrand", "Der Unwissende" und "Notizen aus der Tiefe" - handeln von fließenden Übergängen zwischen Leben und Tod, von den Abgründen des Menschen, von der Gefährdung, worauf das Wort "Schattenflecken" im Titel hinweist, und von der Schönheit der Natur, dem Sonnenhaften. An keiner Stelle glättet dieser Dichter das Wahrgenommene, lässt das Diverse und Heterogene so stehen, wie es in sein Blickfeld gerät und zur sprachlichen Form drängt. Die von ihm gewählten Formen sind Fragmente, Skizzen, Notate, Impressionen, Prosagedichte, Metamorphosen und metaphorische, poetische Überhöhungen, carnets, Tagebücher, die aber nie beim nur Persönlichen haltmachen, es eher passager erwähnen.
    Zuweilen wird Jaccottet von der Vorstellung beherrscht, als grüßten ihn die Blumen, als tanzten sie, gleich Ballettfiguren, als gäbe es tatsächlich eine "Anmut" der Blumen, während es doch immer unsere Vorstellung, unsere Einbildung und unsere Worte sind, die diese Eigenschaft den Blumen zusprechen. In dem Band "Der Unwissende. Gedichte und Prosa" hatte er gefragt:
    "Und wenn die Blumen ein 'Inneres' hätten, durch das jenes, was uns das Innerste ist, sie treffen würde, mit ihnen verschmelzen?"
    In all seinen Büchern, die oft vom Göttlichen handeln, das aber nichts Übernatürliches sei, sondern ganz nah am Menschen lokalisiert werden müsse und dem Ersehnten und Geträumten verwandt sei, in all diesen "Landschaftsaufnahmen" hat der Erzähler, Lyriker und Übersetzer Jaccottet einer Schönheit, unabhängig von der Zeit, mannigfachen Ausdruck verliehen. Die Vergänglichkeit der Schönheit aber, den Schrecken des Krieges, des menschlichen Leidens und des Todes, das Grauen, den Hass, die Gewalt und Riten der Gewalt spart er nicht aus. So zeigt er sich zum Beispiel in dem Bericht einer Reise nach Israel (abgedruckt in dem Band "Notizen aus der Tiefe") zutiefst erschrocken über das Anhalten der in christlichen Riten verborgenen Gewalt, wie sie in den heutigen Handlungen "gleich einem Knoten der Finsternis erstarrt und geronnen" seien.
    Nie bläht Jaccottet sich als Wissender auf
    Die wahrgenommene Realität wird von ihm immer auch mit der in der Kunst und Literatur dargestellten Wirklichkeit, zum Beispiel mit den Passionen Johann Sebastian Bachs oder Dostojewskis, Hölderlins, Mandelstams und Paul Celans Dichtung in Verbindung gebracht. So versucht er das Nichtverstandene zu erhellen. Immer ist er im inneren Gespräch mit Dichtern, denen er sich aufs Engste verbunden fühlt.
    "Bei Borges berührt mich, durch seine ungeheure Geistesschärfe hindurch, eine Art von tiefer Höflichkeit und lächelnder Melancholie, die Eleganz der Seele eines Grandseigneurs ohne Eitelkeit ..."
    Das Persönliche ist bei Jaccottet diskret, geprägt von Wertschätzung dem Anderen gegenüber, aber die Enttäuschung nicht verbergend, wenn dessen Dichtung nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Einmal droht ihn die Abstraktion, "das Fehlen der Farben dieser Welt und der Menschen in ihrer Eigenartigkeit" bei der "sehr schönen alten Dame" Nathalie Sarraute zu ermüden; die Gedichte von Michel Leiris liest er "ohne großes Vergnügen"; er ist betrübt, dass ihm René Chars Dichtung fremd bleibt, auch nach einer sehr freundschaftlichen Begegnung, ganz ohne die befürchtete Arroganz.
    Es ist das Imaginäre und es ist das in der Kindheit einsetzende Faszinationsverhältnis zur Sprache, die Jaccottet den Weg zum Erkennen bahnen. Nie bläht er sich als Wissender auf; im Gegenteil: Alle seine bewertenden Äußerungen wirken zurückgenommen und verhalten. Das heißt aber nicht, dass er nicht voller Neugierde auf Wissenswertes sei. So notiert er einmal:
    "Wie kommt es, dass die Wunder in Wissenschaft und Technik - insbesondere die Erforschung des interplanetaren Raums - weder für Dichter noch für sonst irgendwen Anreiz zu sein scheinen?"
    Vielleicht könnte man, wenn es nicht so hochtrabend klänge, Jaccottets Dichtung als interplanetarisch kennzeichnen.
    Die Aufzeichnungen sind geprägt von einer Spannung
    Oft spricht er voller Skrupel von seinen "mageren Notizen" zu Problemen, denen er, "mangels Wissen, Intelligenz, geistiger Tiefe", nicht gewachsen sei. Er empfinde sich als lau und gebe sich mit "leichten Berührungen" zufrieden.
    Einmal notiert er, sein einziges Geschäft sei es, sich immer wieder neu zu erinnern - und zu vergessen, inständig und offen gegenüber dem Wunder zu bleiben, aufs neue zu entdecken und sich zu verlieren. So verliert er sich im Hin und Her der Bewegungen, im Flüchtigen der Blicke, im Nachsinnen des Wahrgenommenen und in der Antizipation des Zukünftigen. Der Dichter müsse sich dem "Schicklichen der Welt" mit seiner poetischen Sprache zuwenden und versuchen, eine "Mitte" zu orten, ohne sie starr zu fixieren. Zwischen dem Offenen des Bildes und einer Ortsbestimmung müsse er seine Wahrheit und seine Sprache finden, jenseits der "intellektuellen Schemata und Masken", der "gebieterischen Vereinfachungen des Intellekts" und des "falschen Glanzes der Okkultismen".
    Die Aufzeichnungen "Sonnenflecken, Schattenflecken" (im Original 2013 in Paris erschienen) sind geprägt von einer Spannung: einerseits das Schlichte, Gegenständliche und Alltägliche suchend, andererseits die Höhe (vor allem in Gestalt der Poesie) verehrend. Die "höchste Poesie" zeichnet sich für ihn in sparsamen Bildern, Vergleichen und Metaphern aus. Wenn er von den "höchsten Gipfeln" spricht, die die Poesie jemals erreichen könne, meint er die Nähe zur "Schau des göttlichen Wesens" und zur Ausschaltung des Diskursiven; zum Beispiel in einem Haiku von Bashō:
    "Der zurückgerufene Fischhändler
    ist unsichtbar:
    Hagel."
    Übersetzer mit Paul Celan- und Petrarca-Preis ausgezeichnet
    Jaccottet zeigt sich vertraut mit Märchen, Träumen, Fantasien und Poesien und den Wundern in der Natur und allen Äußerungsformen des Lebens. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, der Dichter sei - ohne jeden Zweifel und ohne Einbrüche - distanzlos verliebt in das Wort. Beispielhaft dafür steht diese Eintragung:
    "Ekel vor dem Wort."
    An einer Stelle schreibt er über die Qual, die er beim Wiederlesen seiner Gedichte empfand; über das Unbehagen darüber,
    "...dass ich mich wieder habe verleiten lassen, ködern lassen durch die Worte, durch den Rhythmus der Verse."
    Und er fragt sich:
    "Hätte man es auf weniger 'lyrische', auch weniger 'rhetorische' Art sagen müssen ... man müsste jemand anders sein, sich ändern, aber man ändert sich nicht aufgrund eines simplen inneren Befehls ... Man müsste immer strenger auf die 'Wahrheit' des Ausdrucks achten."
    An diesen Stellen verschmelzen Schreiben, Poesie, Poetologie und die Form des Lebens, die Lebensweisheit. Die zu Recht mit dem Paul Celan- und dem Petrarca-Preis ausgezeichneten Übersetzer Elisabeth Edl und Wolfgang Matz sprechen in ihrem kundigen, von einer tiefen Vertrautheit mit Jaccottets Werk geprägten Nachwort von seiner "gelebten Erfahrung" im Zusammenspiel mit poetischen Fragmenten.
    Philippe Jaccottet: Sonnenflecken, Schattenflecken. Gerettete Aufzeichnungen 1952 - 2005. Deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Edition Akzente, Carl Hanser Verlag München 2015, 252 S., 22,90 Euro.