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Philosoph Wingert über Moral und Mitgefühl
"Empathie ist wählerisch"

Eine Eigenschaft von Empathie richte sich auf Menschen oder Lebewesen mit Namen und Gesicht. Empathie sei aber auch selektiv, sagte der Philosoph Lutz Wingert im Dlf. Das dürfe man in der Flüchtlingsdebatte nicht vergessen. Zwischen Asyl, Asyl-Schutz und Zuwanderung würde nicht strikt genug getrennt.

Lutz Wingert im Gespräch mit Michael Köhler |
    Ausschnitt einer Seite aus "Die Zeit" mit der Überschrift "Oder soll man es lassen"
    Ausschnitt einer Seite aus "Die Zeit" mit der Überschrift "Oder soll man es lassen" (Die Zeit / Foto Deutschlandradio)
    Angefeuert durch die Flüchtlingsdebatte und die Befreiung einer Jugend-Fußballmannschaft aus einer Höhle in Thailand hat sich die Frage nach der Reichweite unseres Mitgefühls gestellt. Für wen gilt sie? Wer wird davon erfasst?
    Um dies zu beantworten, müsse man wissen, was mit Empathie gemeint sei, sagt der Philosoph Lutz Wingert. Zur Empathie gehöre das Wohlwollen. Man versetze sich in die Lage eines anderen, sehe die Dinge mit den Augen des anderen. Aber man tue es nicht, um des eigenen Vorteils willen, so Wingert im Dlf. Deshalb sei auch Mitleid eine Form der Empathie.
    "Die Euphorie der Willkommenskultur hat sich gelegt"
    Mit Blick auf die Flüchtlingskrise sei die Bereitschaft zum Perspektivwechsel nicht geringer geworden. Nach wie vor kämen nicht wenige Leute nach Deutschland. Sozialleistungen von kostenloser Krankenversicherung bis hin zur Grundsicherung sowie Integrationsangebote blieben auf sehr hohen Niveau. Die Medien zeichneten freundliche Porträts von integrationsbereiten Migranten. Auch die dramatischen Bilder von Menschen in Seenot würden nicht weniger gezeigt.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel geht auf einem Balkon des Bundeskanzleramts vor Horst Seehofer, Bundesminister für Inneres, Heimat und Bau, Vorsitzender der Christlich Sozialen Union (CSU). 
    Bundeskanzlerin Merkel trifft ihren Innenminister Seehofer im Kanzleramt ( Paul Zinken/dpa)
    Als weiteres Beispiel nannte Wingert den Konflikt zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer in der Union. Die Kanzlerin wolle nicht von ihrer Migrationspolitik lassen, um den Schengen-Raum zu bewahren. Innenminister Seehofer dagegen wolle eine Korrektur der deutschen Grenzpolitik. "Wenn ich es richtig sehe, ist aber nicht Merkel, sondern Seehofer unbeliebt", sagte Lutz Wingert im Dlf.
    Der Professor für Philosophie an der ETH Zürich sieht hierin Indizien dafür, dass das Mitgefühl für bestimmte Menschen in Not nicht geschrumpft sei. Allerdings glaubt Wingert: "Die Euphorie der Willkommenskultur hat sich gelegt."
    "Empathie ist auch sehr oft wählerisch"
    Empathie habe zwei Merkmale, so Wingert, die man bei den aktuellen politischen Debatten nicht vergessen dürfe. Eine Eigenschaft richte sich immer auf Menschen oder Lebewesen mit Namen und Gesicht. Wer auf YouTube einen Film hochlade, mit Bildern von einer Eisbärin und ihrem Jungen, die ausgehungert und hilflos auf einer Eisscholle dahin treiben, werden sehr rasch Geld für eine Hilfsaktion zusammenbekommen. Eine Statistik über den geschrumpften Lebensraum von Eisbären aufgrund des Klimawandels zu zeigen, hätte dagegen wenig Wirkung.
    "Empathie ist auch sehr oft wählerisch - selektiv", sagte Wingert und fügte an: "In Deutschland gab und gibt es keine Empathie, zum Beispiel für Migranten wie die Russlanddeutschen." Auch habe es keine Empathie und Sympathie für die Menschen in der Westukraine gegeben, als die gegen ihre autoritäre Regierung aufgestanden seien.
    Trennung zwischen Asylrecht und Einwanderungsrecht erforderlich
    Mit Blick auf die anhaltende Debatte um die Flüchtlingspolitik in Deutschland kritisierte Wingert, es werde nicht genug getrennt zwischen Asyl, Asyl-Schutz und Zuwanderung. Das sei ein großes Problem, an dem die Regierung Merkel und die Berliner Blockparteien versagen würden. "Wir haben nach wie vor das Asylrecht, als im Grunde ein Einwanderungsrecht und das wird auf Dauer der Tod des Asylrechts sein", prognostizierte Wingert im Dlf. Man müsse strikt trennen zwischen Asyl- und Einwanderungsrecht. Das sei die Vorraussetzung, um zwischen Armutsflüchtlingen und Bürgerkriegsflüchtlingen, zwischen Asyl und Einwanderung zu unterscheiden.