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Philosophie
Das Wechselspiel von Theorie und Autobiografie

Die drei Philosophen Dieter Thomä, Ulrich Schmid und Vincent Kaufmann untersuchen den Zusammenhang von Lebenslauf und Gedankengang anhand von 25 großen Denkern. Darunter sich ganz unterschiedliche Köpfe: Philosophen-Schriftsteller wie Paul Valéry, Jean-Paul Sartre oder Roland Barthes. Theoretiker wie Walter Benjamin, Hannah Arend, Michel Foucault oder Jacques Derrida.

Von Walter van Rossum | 18.10.2015
    Ein Mitarbeiter einer Verglasungsfirma entfernt am Dienstag (12.07.2005) am Denkmal des ehemaligen Arbeitszimmers von Theodor W. Adorno im Frankfurter Stadtteil Bockenheim die Dichtungen der Glasscheiben, die um das Denkmal gebaut wurden. Das Kunstwerk, das bereits dreimal durch Vandalismuss zerstört wurde, soll am Abend mit einer Wiederherstellungs-Feier unter dem Titel "A night with Adorno" erneut zur Schau gestellt werden.
    Wie ein roter Faden zieht sich die Warnung vor der biografischen Illusion durch Adornos Werk. (picture alliance / dpa / Frank May)
    Philosophen haben weitgehend das eigene Leben aus ihren Theorien vertrieben. Falls sie je von einem ICH schrieben, dann meinten sie das ICH im Allgemeinen, das Begriffs-ICH. Das galt lange Zeit als eiserne Regel für Wissenschaft im Allgemeinen und Theorie im Besonderen, auch philosophische Theorie: Der Urheber dieser Theorien spricht nicht von sich selbst. Doch seit etwa hundert Jahren haben nicht wenige Philosophen die Regel gebrochen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts befand der einflussreiche deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey:
    "In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit."
    Seitdem häufen sich die Denker, denen es bei ihren Überlegungen ausdrücklich um das eigene Leben geht - seine Möglichkeit und Unmöglichkeit. Oder sagen wir besser: Der Einfall des Lebens kam ihnen in die Quere und brachte ihren professionellen Habitus ins Wanken:
    "Beim versuchten Aufstieg zum reinen Geist werden sie das Leben einfach nicht los und stolpern darüber, dass sie Menschen aus Fleisch und Blut sind. Das Zutrauen zum begrifflichen Zugriff auf die Welt schwindet - und das Misstrauen wächst, dass man an sich vorbeiredet, wenn man große Worte macht, die angeblich die Welt bedeuten, und eine Sprache spricht, die nicht die eigene ist. Doch vielleicht gibt es diese Sprache, die dem Eigenen gerecht werden würde, gar nicht. Wohin verschlägt es die Theoretiker dann mit ihrem Leben und ihrem Sprechen?"
    Das zu klären, nehmen die drei Philosophen Dieter Thomä, Ulrich Schmid und Vincent Kaufmann 25 Denker ins Visier. An Ihrem Beispiel untersuchen sie den Zusammenhang von Lebenslauf und Gedankengang. Es sind ganz unterschiedliche Köpfe. Philosophen-Schriftsteller wie Paul Valéry, Jean-Paul Sartre, Maurice Blanchot oder Roland Barthes. Theoretiker wie Walter Benjamin, Hannah Arend, Michel Foucault oder Jacques Derrida. Heute allesamt Klassiker, in ihren Anfänge waren es eher krasse Außenseiter, Einzelgänger.
    "Uns interessiert die Frage, wie sich Theorie und Autobiographie wechselseitig erhellen: Wie spiegeln sich allgemeine theoretische Einsichten in Autobiographien - und umgekehrt? Und warum bringen die Theoretiker überhaupt sich selbst ins Spiel und brechen das Schweigen über das eigene Leben?"
    Wittgensteins polemisches Verhältnis zur Autobiografie
    Nehmen wir den österreichischen Mathematiker und Philosophen Ludwig Wittgenstein. Geboren 1889, machte Wittgenstein früh die Erfahrung, dass die Gestalt des Theoretikers nicht mehr wie eine Art Anzug bereit liegt, den man morgens überzieht, bevor man sich an den Schreibtisch setzt. Er muss sie sich erkämpfen - ständig und unter Schmerzen. Bei ihm stehen Theorie und Leben in einer Art polemischen Verhältnis zueinander - wie die Autoren schreiben.
    "Der Mensch muss sich für die Theorie bereit machen, indem er sich von sich frei macht. Es geht um eine Übung, bei der eines der drei Worte, aus dem die Autobiographie besteht, gewissermaßen durchgestrichen wird. Keinen "bios" soll es geben, nur ein Ich, das ungestört schreibt (oder erkennt), dem das eigene Leben entfallen ist oder das sich dessen entledigt hat. Ein Theoretiker, der in dieser Weise den Kampf gegen sich selbst führt, hat ein polemisches Verhältnis zur Autobiographie."
    Das Ergebnis dieser Art Theoriearbeit des jungen Wittgenstein ist der berühmte "Tractatus logico-philosophicus" - gewissermaßen der Versuch, die Philosophie in eisige Logik zu verwandeln, die die Unreinheit des Lebens sterilisiert. Dieser Traktat entsteht im Wesentlichen während des Ersten Weltkriegs, in dem Wittgenstein als Freiwilliger aufseiten Österreichs kämpfte. Während des Kriegs führt Wittgenstein auch ein Tagebuch - besser gesagt: zwei Tagebücher gleichzeitig. Als gäbe es zwei Versionen seines Lebens. Auf der linken Seite eines Heftes notierte er Persönliches in einer Geheimschrift, auf der rechten Seite standen die Notizen für seine philosophische Arbeit. Als ob die eine Seite von der anderen nichts wissen dürfte. Und so hat er seine Situation auch verschiedentlich umschrieben - als Person, in dem zwei Seiten im ständigen Widerstreit lagen. Liest man die beiden Seiten dieser Tagebücher parallel, dann ahnt man, welche dramatische Kämpfe Wittgenstein mit sich durchlitten hat. Manche Stelle ist schlicht kurios. Etwa wenn er am 2. September 1914 links verschlüsselt notiert:
    "Gestern zum ersten Mal seit 3 Wochen onaniert."
    Und am gleichen Tag auf der rechten - der theoretischen - Seite in Reinschrift:
    "Die Logik muss für sich selbst sorgen."
    Später wird Wittgenstein dieses Theoriemodell verwerfen. Er verabschiedet sich von einem kristallinen Denken, dessen vermeintliche Präzision, die wirren Zu- und Umstände des Realen verpasst. Das heißt, er gibt den Gegensatz von Theorie und Autobiographie preis, den Kampf zwischen Reinheit und Schmutz, Ordnung und Chaos. Auf dem Sterbebett wird er seinem Arzt zuflüstern: "Tell them I've had a wonderful life." Berichte ihnen, ich hatte ein wundervolles Leben.
    Denken im Kollektiv
    Der Beitrag über Wittgenstein ist nicht signiert. Dem Vorwort entnehmen wir, dass in diesem Falle Dieter Thomä der gewissermaßen geschäftsführende Autor war. Wenn Philosophen im Kollektiv denken, dann verdient das an sich schon Aufmerksamkeit. Vor allem aber dankt der Leser dafür. So lesen sich nämlich die 25 Texte dieses Buches wie aus einem Guss und nicht wie einer dieser Sammelbände, deren Einheit auch ein Buchbinder kaum herstellen konnte. Außerdem glaubt man, die Energie - oder besser: Synergie - dreier unterschiedlicher Köpfe zu spüren, die verhindert, dass sich hier monomanische Expertise austobt und sich im Verlauf der Lektüre so etwas wie ein Zusammenhang herstellt. Und fast ein wenig neidisch hat man den Verdacht, dass die Diskussionen zwischen diesen drei klug Gelehrten so aufregend wie vergnüglich waren. Alle drei sind Professoren an der Universität von St. Gallen in der Schweiz, Dieter Thomä unterrichtet Philosophie, Vincent Kaufmann französische Sprache und Literatur, Ulrich Schmid ist Slavist.
    Es geht um 25 durchaus unterschiedliche Denker, die das Denken des 20. Jahrhunderts erheblich mitgeprägt haben. So unterschiedlich sie sein mögen, was sie eint, ist eine Art Verlustanzeige des Lebens - wie sie Theodor W. Adorno einmal formuliert hat:
    "Im Grunde geht es dabei darum, dass der Begriff des Lebens selber als einer aus sich selbst entfaltenden und sinnvollen Einheit gar keine Realität mehr hat, so wenig wie der des Individuums, und dass die ideologische Funktion der Biographien darin besteht, dass an irgendwelchen Modellen den Menschen demonstriert wird, dass es noch so etwas wie Leben gebe."
    Wie ein roter Faden zieht sich die Warnung vor der biografischen Illusion durch Adornos Werk. Statt gewaltsam einen Lebenszusammenhang herzustellen, kreist er um eine Art Lebenskunst des Nicht-Identischen: wache und subversive Lebensimprovisation.
    Das Selbst als Held einer jeden Autobiografie
    Warum ist von Adorno in diesem Band die Rede? Er sprach von sich selbst, er schrieb mit seiner Stimme und er dachte über das Selbst nach, erklären Thomä, Kaufmann und Schmid. Adorno hat seine eigenen Lebenserfahrungen in etlichen seiner Texte thematisiert - wenn auch nur am Rande und andeutungsweise. Adorno schrieb im eigenen Namen, denn den vermeintlich neutralen Systemtheoretiker kann es nicht geben. Seine Texte waren vom unverwechselbaren Adorno-Sound signiert. Und schließlich kreisten seine Reflexionen intensiv um den Helden einer jeden Autobiografie: das Selbst. Das allerdings denkt Adorno nicht als eine Art Heimatfigur, sondern als zerreißende Paradoxie. Er schreibt:
    "Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart."
    In seiner zusammen mit Max Horkheimer verfassten "Dialektik der Aufklärung" erzählt Adorno die Geschichte des Prototypen des "bürgerlichen Individuums: Odysseus. Odysseus ist dieser sagenhafte Sieger, der gegen sich selbst, der gegen alle äußeren Verlockungen seine Irrfahrten besteht, Sieger eigentlich, doch unterwegs hat er sich verloren. Das Selbst, das sich begründet, indem es sich bezwingt, versäumt das Leben, das es rettet:
    "Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Selbst, in dessen Dienst sie geschieht."
    Kein wahres Leben im Falschen
    So sieht er aus der moderne Bildungsroman, dessen perfide Dialektik wir alle im Herzen und auf den Schlachtfeldern unserer Zivilisation austragen. Wenn ich mich zum Arzt mache, dann eigene ich mir ein vorläufiges Wissen an, die Sitten der Zunft und die Erwartungen der Gesellschaft. Meine Selbsterschaffung erschöpft sich in der Performance von Rollen, im Synthetisieren von Systembausteinen. Mein Genie beweist sich durch tätige Selbstvergessenheit. Die Moderne verstrickt das Individuum in terroristische Paradoxien. Es ist aufgefordert, seine eigene Grundlosigkeit in der Erschaffung eines Fremden zu beheben. Am Ende ist es stets bloß Urheber seiner eigenen Zerrissenheit. Und so begründet Adorno sein Misstrauen in die gelingende Autobiografie. Es gibt kein wahres Leben im Falschen. Auch so ein Einfall des Lebens.
    Adornos Werk ist ein schönes Beispiel dafür, dass die philosophische Entdeckung der Autobiografie im 20. Jahrhundert nicht gerade als ein Königsweg gefeiert wird. Die Moderne hat den Bildungsroman zu einer Art Zentralbekenntnis gemacht. Überall ruft und zischelt es: Vollendet euch! Sei du selbst! Usw. usf. Aber fast alle bedeutenden Denker unserer Tage scheinen darin übereinzukommen, dass das nicht funktioniert - schlimmer noch: dass diese Sorte Heilsversprechen eher die Gewaltzusammenhänge hervorbringt.
    Was heißt das aber für die Bauweise von Theorien, wenn weder die unpersönliche Anschauung gelingt noch das Lebenserbauliche?
    Das Verschwinden des Autors
    Ein Großteil der hier verhandelten Theoretiker hat das Problem zu lösen versucht, indem sie einen radikalen Strich gezogen haben, einen Strich, den man die große philosophische Versuchung des 20. Jahrhunderts nennen könnte: die Verkündung des Tods des Subjekts, das Verschwinden des Autors. Die französische Postmoderne zelebrierte die Illusion des Menschen fast wie eine Heilsbotschaft. Mit diesen Motiven hatten Paul Valéry und Maurice Blanchot schon seit geraumer Zeit gespielt. Akademisch salonfähig wurde der Tod des Menschen dann erst von dem bedeutenden Ethnologen Claude Lévi-Strauss gemacht.
    In seinen anthropologischen Schriften spricht Lévi-Strauss vom Menschen als dem "unerträglich verwöhnten Kind", das allzu lange die philosophische Szene beherrscht und jede ernsthafte Arbeit dadurch behindert habe, dass es ausschließliche Aufmerksamkeit beanspruchte. Und der Strukturalismus eines Lévi-Strauss will aufräumen mit diesem Menschen, indem er sein Leben auf die Gesamtheit seiner physikochemikalischen Bedingungen zurückführt. Mit anderen Worten: Der Strukturalismus hält die menschliche Realität für ein Produkt entrückter Strukturen, die im Hintergrund ablaufen. Die Autoren von "Der Einfall des Lebens" fragen sich hingegen, auf welchen persönlichen Erfahrungen eine solche Theorie beruhen mag - und verweisen auf zweierlei prägende Abwesenheiten im Leben des großen Ethnologen. Lévi-Strauss hatte ganz zu Beginn seiner Karriere die bittere Erfahrung gemacht, dass es die Wildnis, die er als Ethnologe suchte, gar nicht mehr gab. Später wird ihm seine eigene Realität entzogen: als er als Jude aus Frankreich vertrieben wurde.
    "Wie wird man Strukturalist? Indem man etwas - oder viel - verliert: eine Heimat, eine Wirklichkeit, auf die man sich beziehen kann, eine Welt. [...] Sehr wahrscheinlich ist dazu eine Tendenz zur Melancholie notwendig, die übrigens nicht nur im Fall des Strukturalismus festzustellen ist, sondern offensichtlich auch bei anderen in diesem Band besprochenen "Theoretikern": zweifellos bei Benjamin und Debord, aber vielleicht auch bei Barthes, Blanchot, Bachtin und Leiris. Theorie entsteht mit dem Verlust der Welt, mit einer endlosen Trauerbeziehung zur Welt. [...] Die Welt, die die Existenz des Ethnografen rechtfertigt, ist verschwunden, gehört zu einer doppelten - historischen und persönlichen - Vergangenheit. Die Wirklichkeit ist mühsam, ermüdend und in allen Hinsichten ein Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit, zum Wissen, zur Autorität und zum Ruhm."
    Es geht bei solchen Beobachtungen nicht darum, ganze Theorie-Gebäude auf biografische Episoden zurückzuführen, um sie damit zum Einsturz zu bringen. Es geht darum, wie die Denker selbst den Zusammenhang von Theorie und Leben thematisieren. Natürlich wissen Thomä, Kaufmann und Schmid, dass der Strukturalismus sich nicht aus der Lebensgeschichte eines seiner bedeutendsten Vertreter ableiten lässt. Der Strukturalismus war auch mehr als bloß eine theoretische Schule unter anderen, er verkörperte die intellektuelle Leidenschaft seiner Epoche, stark verkürzt gesagt: Der Strukturalismus bot sich als eine Art Weltanschauung dar. Da läge natürlich die Versuchung nahe, darüber nachzudenken, worin die kollektive intellektuelle Faszination für diese Theorie bestanden haben mag. Das hieße aber auch zu fragen, ob sich die autobiografischen Erfahrungen eines Claude Lévi-Strauss auch als epochale Erfahrungen verallgemeinern ließen. Man musste schließlich weder die Erfahrung von "traurigen Tropen" gemacht, noch musste man ethnische Vertreibung erlebt haben, um sich für den Strukturalismus zu begeistern, um sich selbst strukturalistisch zu verstehen. Doch das wäre ein ganz anderes Buch geworden. Die drei St. Gallener Professoren halten sich zurück, wenn es darum geht, ihre konkreten Beobachtungen theoretisch zu verallgemeinern. Kurzum, sie widerstehen der System-Versuchung.
    "Viele der Autoren, die in diesem Band versammelt sind, sind von äußerer und innerer Not gebeutelt worden. Und doch sind viele von ihnen imstande, ihre Not produktiv zu wenden und den Trauerrand vergessen zu machen, den die Liaison von Theorie und Autobiographie einrahmt. Sie folgen dabei wiederum Nietzsche, dem, als er das Ideal des Systems kritisierte, keine traurige, sondern eine "fröhliche Wissenschaft" vorschwebte. [...] Die Frage, wie man lebt und (über sich) spricht, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Lebensformen und Sprachspielen, Lebenshaltungen und Sprecherpositionen setzt schöpferische Energie frei. Wenn die Theorie sich auf die Autobiographie bezieht, reduziert sie sich nicht aufs Persönliche, sondern wird lebensnah und bricht mit ihrer falschen Selbstgenügsamkeit. Und umgekehrt: Wenn sich die Autobiographie von der Theorie instruieren lässt, wird sie nicht kopflastig, sondern bricht mit bornierter Selbstbespiegelung. Allen in diesem Buch versammelten Theoretikern ist gemeinsam, dass sie sich immer wieder gezwungen oder ermutigt sehen, der Kontingenz des Lebens die Stringenz des Gedankens entgegenzuhalten - und umgekehrt."
    Thomä, Schmid und Kaufmann laden die Meisterwerke ihrer Denker mit existenzieller Spannung auf. Es ist bewundernswert, wie sie es schaffen, in kurzen funkelnden Skizzen Leben und Theoriearbeit immer neu kurzzuschließen. Natürlich wissen sie, dass hinter jedem der hier beschriebenen Philosophen ein komplexes Werk und ein ganzes Leben stehen. Stoff noch und noch für sperrige und kontroverse Abhandlungen. Doch gerade in der Kunst der essayistischen Miniatur besteht der Reiz des Buches.
    Ein philosophischer Familienroman
    Es gehört schon einiger schriftstellerischer Mut dazu, die so umfangreichen wie komplexen Werke eines Sartre oder Derrida in autobiografischer Perspektive zu skizzieren. Manchmal findet das St. Gallener Autorenkollektiv hinreißende Anekdoten oder anekdotische Zugänge, in denen sich Theoriearbeit und Lebensweg wunderbar verschlingen. Bei Michel Foucault zum Beispiel entwickeln sie ihren Faden aus einem einzigen kurzen Text, nämlich der autobiografischen Notiz Foucaults, die sich allerdings nur in der ersten Ausgabe seines ersten Hauptwerks "Folie et déraison" ("Wahnsinn und Vernunft") von 1961 findet. Und die paar Zeilen taugen tatsächlich als Scheinwerfer im Labyrinth.
    Das Buch wird geradezu zu einer der spannendsten Abhandlungen über das Geistesleben des 20. Jahrhunderts, wenn man es nicht als Sammlung von einzelnen Essays zu einem Thema liest, sondern als eine Art philosophischen Familienroman - in dem selbstverständlich jede Menge Zerwürfnisse stattfinden, aber auch verblüffende Berührungen. Und je weiter man liest, umso mehr hat man den Eindruck, dass Buch handle auch immer ein bisschen von einem selbst.
    Dieter Thomä, Ulrich Schmid, Vincent Kaufmann: "Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie"
    Hanser. Edition Akzente. München 2015. 417 Seiten. 24, 90 Euro