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"Ein Gedenkbuch gegen die Wolke des Vergessens"

Gerd Irrlitz und Ernst Müller stellen in einer zweibändigen Werkausgabe ausgewählte Veröffentlichungen vom einstigen DDR-Philosophen Wolfgang Heise zusammen. "Schriften 1975-1987" und "Aus seinem Leben und Denken" sollen vor allem sein enzyklopädisches Wissen und seine poetologische Dialektik betonen.

Von Ralph Gerstenberg | 24.07.2014
    Ein altes Buch
    Eine zweibändige Werkausgabe soll dem Vergessen des DDR-Intellektuellen und Philosophen Wolfgang Heise entgegenwirken (dpa / Jens Kalaene)
    "Die Wirklichkeit des Möglichen" - unter diesem Titel erschien 1990 Wolfgang Heises Buch über "Dichtung und Ästhetik in Deutschland von 1750 bis 1850". Rosemarie Heise, die Witwe des 1987 verstorbenen Philosophen und Literaturwissenschaftlers, hatte den Rat ihres Mannes, mit dessen ungeordnetem Nachlass ein Feuer im Garten zu entfachen, nicht befolgt und das Buch 1990 veröffentlicht - in einer Zeit also, als sich die politischen Verhältnisse und damit das Spektrum des Möglichen auf ungeahnte Weise veränderten. Danach wurde es still um Wolfgang Heise, dessen Stimme unter DDR-Intellektuellen so viel Gewicht hatte. Seine marxistischen Neuinterpretationen der deutschen Klassik, seine Auseinandersetzung mit der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit waren im vereinten Deutschland wenig gefragt. Zu komplex, zu diskursiv, zu wenig zeitgemäß erschienen seine Schriften. Eine Auswahl davon sowie Aufsätze über Leben und Wirken Wolfgang Heises finden sich nun in einer zweibändigen, von Gerd Irrlitz und Ernst Müller herausgegebenen Ausgabe, die einen Zugang zum Gedankenkosmos des engagierten DDR-Intellektuellen bieten soll. Gerd Irrlitz, emeritierter Philosophieprofessor und ehemaliger Kollege Wolfgang Heises, spricht - nicht ohne Emphase - von einem Gedenkbuch.
    "Ein Gedenkbuch allerdings ohne jede Sentimentalität, ein Gedenkbuch gegen die Wolke des Vergessens, die auf dem Marsch der Völker, der Menschen hinter ihnen herzieht, die die Gegenwart immer als ganz Helles haben wollen, so hell, dass es schmerzt beinahe und gleißt. Und die Wolke des Vergessens geht hinter der Menschheit her."
    Entwicklung Wolfgang Heises
    Derjenige, der davor bewahrt werden soll, in der Wolke des Vergessens zu verschwinden, Wolfgang Heise also, wurde 1925 in Berlin geboren. Die Nazis sperrten den Sohn eines kommunistischen Studienrates und einer jüdischen Keramikerin 1943 in ein Zwangsarbeitslager. Nach dem Krieg nahm er an der Berliner Universität ein Studium der Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik auf und promovierte 1954 mit einer Arbeit über den Frühaufklärer Johann Christian Edelmann. Als Dozent für Philosophiegeschichte habilitierte Heise 1962 mit einer Arbeit über "Entwicklungstendenzen der modernen bürgerlichen Philosophie in Deutschland", die 1964 unter dem Titel "Aufbruch in die Illusion" als Buch erschien. Darin rechnete er aus marxistischer Sicht mit westlichen Denkweisen ab, denen er eine Hinwendung zur Religion sowie "eine aktive Negierung des Wesens der Philosophie als wissenschaftliche Erkenntnis" vorwarf. Im selben Jahr setzte er sich für Robert Havemann ein, der in seiner Streitschrift "Dialektik ohne Dogma" den freien, demokratischen Gedankenaustausch in der Öffentlichkeit forderte, und wurde als Prorektor der Philosophischen Fakultät der Humboldt Universität nach nur wenigen Amtswochen abgesetzt. Nach dem 11. Plenum des ZK der SED mit seinen rigiden Beschlüssen gegen kritische Künstler und Intellektuelle geriet auch Wolfgang Heise ins Räderwerk ideologischer Auseinandersetzungen. In seinem biografischen Eingangsaufsatz im zweiten Band dieser Ausgabe schreibt Herausgeber Gerd Irrlitz:
    "Heise haben die erlebten Angriffe politischer Gewalt der Nazizeit wohl weniger persönlich verletzen können als die Erfahrungen mit den Kolleginnen und Kollegen seines Instituts. Schlagworte flammten auf als die Geleitzeichen alles zerbrechender Willenlosigkeit der einzelnen Mitglieder, und auch Wolfgang Heise erfasste der Gedanke, was von einer zerstörten Welt der sozialistischen Emanzipationsbewegung übrig bleiben werde. Heise erfuhr die Zumutungen inquisitorischer Macht, und deren Schlimmstes, dass sie sich in den von unten her entgegenkommenden Schwingungen kollektiver Schamlosigkeit aufluden. In Walter Benjamins Essay vom destruktiven Charakter steht: 'Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen, nur eine Tätigkeit: räumen.'."
    Übergang zur Ästhethik
    1972 räumte Wolfgang Heise seinen Lehrstuhl für Philosophiegeschichte und wechselte als ordentlicher Professor in die Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften, wo er zu höchster Form auflief, mit Goethe und Hölderlin, Herder und Heine eine poetologische Logik entwickelte und aus den Texten der Klassiker Aussagen über die Gegenwart herausarbeitete. Die Ästhetik bot Heise einen geschützten Raum, in dem er Utopien entwickeln und Gegenentwürfe zum Bestehenden diskutieren konnte. So schrieb Heiner Müller in seiner Trauerrede über den Freund:
    "Nach dem Auszug aus der Philosophie, die ein Gefängnis geworden war, nicht nur für ihn, geriet er in die Gefangenschaft Goethes: Zwischen der Forderung des Tages und dem Entwurf einer geistigen Landschaft, die über den eigenen Zeitraum hinausgreift. Die Schwierigkeit, in einer Struktur, die eher von dem schwäbischen Preußen Hegel als vom Juden Marx aus Trier geprägt war, ein Gefangener Goethes zu sein, ohne Weimar und das Korrektiv des Egoismus, bestimmte seine weitere Biografie."
    "In die Gefangenschaft Goethes. Ja. Weshalb? Als Schutz? Als Tarnmantel? Oder wie? Ich glaube nicht. Er hatte Goethes pantheistische Auffassung, dass es zwischen der ideellen These, die eine Gesellschaft von sich aufstellt, und der Realität, eine grundsätzliche Differenz gibt. Die Lehre kann nicht gleichsam sich dadurch legitimieren, dass sie die Wirklichkeit für das Richtige der Lehre erklärt."
    Verbindung von Lehre und Forschung
    Zu Wolfgang Heises Schülern zählten Wolfgang Thierse, Heiner Müller, Volker Braun, Rudolf Bahro und Wolf Biermann, der den einflussreichen Philosophieprofessor später als seinen "DDR-Voltaire" bezeichnete. Auch der Mitherausgeber dieser Ausgabe, Ernst Müller, besuchte Vorlesungen bei Heise, die einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterließen.
    "Ich habe Vorlesungen gehört zu Kant und der 'Kritik der Urteilskraft', und das war höchst beeindruckend für mich, weil ich solche Vorlesungen vorher und hinterher nie wieder gehört habe, so eine Intensität der Auseinandersetzung mit dem Material, wirklich ein Ringen mit dem Gegenstand in der Vorlesung, sodass wirklich das Ideal von Lehre und Forschung plastisch wurde, wenn man ihn gehört hat. Was jetzt dieses Buch betrifft, ist für mich die Frage gewesen, wie man eigentlich damit heute umgeht."
    Abgesehen von einem älteren Aufsatz über "Hegel und das Komische" sowie einigen Briefen beschränkt sich die Auswahl auf Auszüge aus drei zwischen 1975 und 1987 entstandenen Arbeiten Wolfgang Heises: "Die Wirklichkeit des Möglichen", in der sich auch die von Ernst Müller erwähnte Auseinandersetzung mit Kants "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" befindet, die gemeinsam mit Jürgen Kuczynski unter dem Titel "Bild und Begriff" publizierten "Studien über die Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft", sowie das 1988 posthum erschienene Buch "Hölderlin. Schönheit und Geschichte". In Letzterem konfrontiert Heise den subjektiven Anspruch des Dichters, also Hölderlins, mit Hegels These vom Ende der Kunst.
    "Der Anspruch der Poesie, den Hölderlin erhebt und dem er sich stellt, musste Hegels philosophische Orientierung infrage stellen. Sie wird konfrontiert mit dem diesen Anspruch begründenden philosophischen Konzept Hölderlins. Es schreibt der Poesie das zu, was Hegel der Kunst generell – in Bezug auf die nachklassische, vor allem die moderne Zeit – bestreiten sollte. Das betrifft sowohl den Erkenntniswert von Poesie wie ihre eigentümliche Führungsfunktion im epochalen Umwälzungsprozess."
    Heises Hinterlassenschaft
    Wenn man Wolfgang Heise heute liest, ist man noch immer beeindruckt von dem enzyklopädischen Wissen des zu früh verstorbenen Philosophen, von seinem Kunstverständnis und dem tiefen Glauben an die Schönheit als ästhetisches Äquivalent zu Vernunft und Humanität. So argumentierte er mit Hölderlin gegen jedwede eindimensionale, kleinbürgerliche Denkungsart, das Dumpfe, das Hässliche, und beschwor einen weiten, "allgemeinen Geist", der Selbstbezogenheiten und Egoismen überwinden und frei in seinen Entscheidungen sein sollte. In der Philosophie und in der Kunst sah er eine zweite Realität, die Alternativen aufzeigen kann. Auch wenn es nicht ganz leicht ist, den DDR-Bezug aus Wolfgang Heises Texten gewissermaßen herauszufiltern, gibt es in einer nicht unbedingt schöner gewordenen Welt doch genügend gute Gründe, oft gelesene Klassiker durch den Fokus seiner poetologischen Dialektik neu lesen zu lernen.
    Wolfgang Heise, Gerd Irrlitz (Hg.), Ernst Müller (Hg.)
    Heise, Wolfgang. "Schriften in zwei Bänden"
    Schriften 1975-1987. Aus seinem Leben und Denken
    Stroemfeld Verlag, 48 Euro