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Philosophie
Evolutionstheorie wird relativiert

Berühmt geworden ist der amerikanische Philosoph Thomas Nagel 1973 mit einem Buch, dessen Titel danach fragt, wie es ist, eine Fledermaus zu sein: "What is it like to be a bat?" Inzwischen ist Nagel, der bei John Rawls promoviert hat, 75 und auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes, das von Vertretern der analytischen Philosophie beherrscht wird, ein Dissident.

Von Thomas Palzer | 26.03.2014
    Um denken zu können, bedarf es nach allem, was wir wissen, mindestens eines funktionstüchtigen Gehirns, also einer organisierten Ansammlung von Blut und Nervengewebe, aber die Gedanken selbst bestehen nicht aus Blut und Nervengewebe noch aus sonst irgendeiner Materie. Geist ist Wille und Vorstellung, Materie wiegt und ist träge. Der Geist des Buchstabens findet sich nicht in der Druckerschwärze. Wo ist der Übergang zwischen beiden Phänomenen?
    Geist als Nebenprodukt physikalisch-chemischer Prozesse
    Wie Geist und Kosmos miteinander zusammenhängen - dieser Frage gilt das Interesse des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel. Ist der Geist ein Nebenprodukt physikalisch-chemischer Prozesse, wie es Materialismus und Evolutionsbiologie behaupten, oder ist der Geist für den Kosmos zentral? Der Theismus hat ja in den physikalischen Gesetzmäßigkeiten genau umgekehrt eine Folge des Geistes gesehen, aber auf eine Erneuerung der Gottesidee will Nagel absolut nicht hinaus. Vielmehr sind seine Vorläufer im Deutschen Idealismus zu suchen und in Philosophen wie Alfred North Whitehead, der im Universum eine Ansammlung von mit Geist beseelten Perspektiven ausmachen zu können glaubte. Nagel schreibt:
    "Die Intelligibilität der Welt ist kein Zufall. Der Geist steht nach dieser Auffassung in einem doppelten Zusammenhang mit der Naturordnung. Die Beschaffenheit der Natur lässt bewusste Wesen entstehen; und die Beschaffenheit der Natur ist für derartige Wesen verstehbar. Deshalb sollten solche Wesen letztlich auch für sich selbst verstehbar sein."
    Mit anderen Worten: Im Bewusstsein lebendiger Wesen kommt die Natur allmählich zu sich selbst. Sie schlägt in ihnen die Augen auf.
    Spannungsverhältnis zwischen Geist und Materie
    Nun vollzieht sich im Spannungsverhältnis zwischen Geist und Materie das, was wir eine Biographie nennen - auf der einen Seite die objektiven Prinzipien der Naturwissenschaft, auf der anderen die subjektive Erlebnisperspektive eines mit Bewusstsein begabten Lebewesens. Wir können uns fliegende Pferde, Engel oder blühende Gärten auf dem Mond vorstellen, also Dinge, die es im physikalisch-chemischen Universum nicht gibt - jedenfalls, soweit es uns bisher bekannt ist. Wir können die Welt, in der wir leben, sogar verstehen - obwohl Protonen und Elektronen über keine Eigenschaften verfügen, die so etwas wie Verstehen nahelegen. Es scheint die Verbindung zwischen Subjektivität und Objektivität keineswegs trivial zu sein. Mit anderen Worten: Der Philosoph Thomas Nagel bezweifelt, worauf der physikalistische Reduktionismus insistiert - nämlich sämtliche Phänomene des Geistes unter eine Konzeption der Welt subsumieren zu können, noch dazu unter eine, die den Geschmack von Zucker oder das Gefühl von Schmerz oder den Sinn für Gerechtigkeit unberücksichtigt lässt.
    "Wenn die Evolutionsbiologie eine physikalische Theorie ist - als die sie generell aufgefasst wird -, dann kann sie das Auftreten des Bewusstseins und anderer Phänomene, die nicht physikalisch reduzierbar sind, nicht erklären. Wenn also der Geist kein Produkt der biologischen Evolution ist – wenn Organismen mit geistigem Leben keine wundersamen Anomalien, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Natur sind -, dann kann die Biologe keine rein physikalische Wissenschaft sein. Damit eröffnet sich die Möglichkeit einer alles durchdringenden Konzeption der Naturordnung, die sich vom Materialismus stark unterscheidet – eine, die den Geist zum zentralen Faktum macht, anstatt zu einer Nebenwirkung der physikalischen Gesetzmäßigkeit!
    Nagel relativiert die geltende Evolutionstheorie
    Bereits für Aristoteles galt die Einsicht, dass Leben nicht auf etwas reduziert werden kann, das weniger als lebendig ist. Der Epigenetik ist klar, dass in den Genen kein fertiges Entwicklungsprogramm steckt, sondern dass sich ihr Potenzial erst im Zuge der Entwicklung realisiert – was vollkommen der Epigenesis, der Auffassung des substanziellen Werdens im klassischen, aristotelischen Sinn entspricht. Das Lebensmolekül DNA benötigt die lebendige Zelle als Umfeld, um Wirksamkeit zu entfalten.
    Wenn Nagel die geltende Evolutionstheorie relativiert, bedeutet das freilich nicht, dass er Theologen oder Vertreter der Intelligent-Design-Theorie munitionieren will. Er will vielmehr auf die möglichen Lücken der Evolutionstheorie hinweisen. Wer die Vernunft kritisiert, ist ja deswegen nicht automatisch gegen die Vernunft.
    "Wir sind das Produkt einer langen Geschichte des Universums seit dem Big Bang und stammen von Bakterien ab, die sich über Milliarden Jahre durch Mutation und Selektion gebildet und verändert haben. Das ist ein Teil des äußeren Verständnisses von uns als Menschen. Die Frage ist nur, wie sich das vereinbaren lässt mit anderen Dingen, die wir über uns wissen."
    Grundzug der Naturordnung, dass sich Leben bildet
    Nagel fragt danach, was der Grund dafür ist, dass die Evolution Bewusstsein entwickelt hat, oder, anders gesagt: Die Evolution kann nicht selbst mit evolutionistischen Argumenten begründet werden. Eine sich selbst reproduzierende Zelle, die von der DNA reguliert wird, ist so erstaunlich funktional komplex und informationshaltig, dass sie schwerlich allein durch chemische Evolution aus einer toten Umwelt hervorgegangen sein kann. Vielmehr könnte es nach Nagel ein Grundzug der Naturordnung sein, dass sich Leben bildet, was von den nichtteleologischen Gesetzen der Physik und Chemie aber nicht erklärt werden kann. So ist die Vernunft nicht einfach nur eine Erweiterung oder Komplikation unseres Bewusstseins. Sie besitzt vielmehr allgemeine Gültigkeit, statt bloß lokal begrenzte Nützlichkeit, d. h. sie ist transzendent und teleologisch.
    "Das ist es also, was eine Theorie von allem erklären können muss: Nicht nur die Entstehung von sich vermehrenden Organismen aus einem leblosen Universum und deren Entwicklung durch die Evolution zu immer größerer funktionaler Komplexität; nicht nur das Bewusstsein bei einigen dieser Organismen und dessen bedeutende Rolle in ihrem Leben; sondern auch die Entwicklung von Bewusstsein zu einem Instrument der Transzendenz, das objektive Wirklichkeit und objektive Werte erfassen kann."
    Versöhnung des Mentalen mit dem Materiellen
    Nun hat der französische Philosoph Quentin Meillassoux auf ein interessantes Paradox in der geistigen Geschichte der Neuzeit aufmerksam gemacht. Während die kopernikanische Wende in den Naturwissenschaften eine Welt konstatiert, die auch ohne uns als Zuschauer existiert, postuliert Kant mit seiner kopernikanischen Wende in der Philosophie die Rückkehr zu einer ptolemäischen Welt, zu einer Welt der Zuschauer. Auf der einen Seite haben wir also die Welt als Konstruktion unseres Gehirns, so wie das letztlich auch die Neurowissenschaften sehen, und auf der anderen die Welt der physikalisch-chemischen Gesetze, die auf die Existenz eines Bewusstseins oder Zuschauers nicht angewiesen wird.
    Thomas Nagel bemüht sich nun um eine Versöhnung dieser beiden Perspektiven, um eine Versöhnung des Mentalen mit dem Materiellen. In seinem lesenswerten Buch Geist und Kosmos gibt er allerdings offen zu, für dieses Konzept keine konkrete Lösung anbieten zu können. Die Kluft zwischen Subjektivität und Objektivität ist radikaler als man denkt. Folglich begnügt Nagel sich zunächst einmal damit, detailliert und elegant den Naturwissenschaften die Grenzen aufzuzeigen. Denn weil die Wissenschaften für das, was sie nicht untersuchen, blind sind, liegt darin in seinen Augen eine vornehme Aufgabe der Philosophie.
    "Es ist nicht bloß die Subjektivität des Denkens, die ein Problem darstellt, sondern auch die Fähigkeit unseres Denkens, die Subjektivität zu übersteigen und zu entdecken, was objektiv der Fall ist."
    Nagels Buch ist kein Rezeptbuch, sondern eine Art zeitgenössischer discours de la méthode. Es fragt, wie unser Universum beschaffen sein muss, um Wesen wie uns hervorzubringen, die genau dieses Universum nach Metern und nach Werten bemessen Werte, die nicht ausschließlich nach Kriterien der Fitness zu solchen geworden sind.
    Thomas Nagel: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Berlin 2013: Suhrkamp, 187 Seiten, geb., € 24,95