Dienstag, 30. April 2024

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Philosophische Gedichte

Mit dem Namen Tommaso Campanellas, der im Jahre 1568 im östlichen Kalabrien geboren wurde und im Jahre 1639 in Paris verstarb, verbinden sich zwei Assoziationen. Erstens gilt als sein Hauptwerk >>Der Sonnenstaat<<, eine Utopie. Dann wird er als einer der Vorläufer René Descartes angesehen. Diese beiden Assoziationen enthalten mehr Falsches als Richtiges und verdecken Leben und Werk einer Person, deren Schicksal es auch war, in der philosophischen Geschichtsschreibung unterschätzt zu werden. Das könnte heute gleichgültig sein, wenn Campanella nicht ein Autor wäre, der mehr zu sagen wußte, als die bekannten Klischees vermuten lassen. Kurt Flasch, Spezialist für die Philosophie des Mittelalters, hat jetzt die philosophischen Gedichte Campanellas kommentiert, die sein Sohn Thomas Flasch neu übersetzt hat. Dabei ist das leidenschaftlichste Buch Kurt Flaschs entstanden. Orientiert an den bislang vernachlässigten umfangreichen Quellen schildert er das Leben eines Mannes, der 27 Jahre Kerkerhaft mitsamt Folter denkend und dichtend überstanden hat und im Laufe seines Lebens zum Gesprächspartner des Papstes, zum Berater Richelieus und zum Sterndeuter Ludwig IV. wurde. Und nicht zu vergessen: Zeitweilig war er zusammen mit Giordano Bruno inhaftiert und er disputierte mit Galilei. Im Prolog der Gedichte heißt es:

Stephan Wehowsky | 01.01.1980
    "Von Intellekt und Weisheit geboren, ich, der forschend Gutes, Wahres und Schönes liebt, die sich bekämpft, die Irre ruf ´ ich, rufe die Welt zu der Milch der Mutter" Und der Prolog endet mit den Worten: "Gehen Worten Dinge voran, zerschmelze eure stolze, leidvolle Ignosranz in dem Feuer, das ich entriß der Sonne."

    Die Worte gehen den Dingen voran: Diese Ansicht allein schon machte Campanella der Ketzerei verdächtig. Denn damit bezog er sich auf eine Philosophie, die das weltliche Wissen von der philosophischen Theologie abtrennte und damit die Grundlagen für die moderne Naturwissenschaft legte. Die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus lies Campanella über die metaphysichen Denker spotten, deren hochtrabende Spekulationen von einem einfachen Seemann widerlegt worden waren.

    Aber zurück zu den Gedichten: Was veranlaßt einen Philosophen, schon gar einen, der unter unsäglichen Bedingungen im Gefängnis einsitzt, Gedichte zu schreiben? "Ein Philosoph", so Kurt Flasch, "schreibt Gedichte vor allem in einer Lebenssituation, in der ihm die nicht-metrische Form - Gedichte sind metrische Sprache - zu chaotisch war. Chaos hatte er in sich und um sich genug. Er brauchte einen rhythmischen Wohllaut, er brauchte etwas, woran er sich selbst in den Situationen der Trotur halten konnte. Er spricht selbst von einer Magie, von einer magischen Kraft, die dem Gedicht innewohne und die der Prosa fehle. ... Zweifellos sind die ersten und wichtigsten Gedichte - das sagt er auch selbst - geschrieben, um sich selbst ... Halt in der Bedrängnis der Tortur und der Verhöre zu verschaffen. Er brauchte in dieser Dunkelheit und der Qual der Einsamkeit die poetische Form als Struktur, als rationalen Gehalt, den er selber machen konnte, wo er auf niemanden sonst angewiesen war, noch nicht einmal auf Papier. Er hat sich einige Jahre in dieser Form bewegt, bis er schließlich die Möglichkeit bekam, das, was er vorher wie in einer geballten Faust hatte, auf die offene Hand zu legen und der europäischen Öffentlichkeit als wissenschaftliche Prosa vortragen konnte... Die Gedichte geben sich nicht den Anschein objektiver Wissenschaft, sondern sie sind der Ursprungsort objektiver Wissenschaft und subjektiver Reflexion."

    Objektive Wissenschaft und subjektive Reflexion. Das ist treffend charakterisiert, denn Campanella hat alle Wesen gewissermaßen von innen betrachtet. Er unterstellte ihnen, seien sie Dinge, Pflanzen, Tiere oder Menschen, daß sie eine eine Lebensmacht, seine innere Durchsetzungkraft hättten. Denn in seinen Augen verfügte alles, was ist, über eine Wahrnehmung eigener Interessen, eigener Ziele und eine Aufmerksamkeit für das, was dazu paßt. Jedes Lebewesen weiß nach Campanella also, was es braucht und was es abstoßen muß. Jedes Lebewesen will sich realisieren, es ißt, es trinkt, es nimmt - allgemein gesprochen - Nährstoffe auf, und es will sich fortsetzen, sich also vermehren. Um sich zu erhalten, vermeidet es auch unnötige Gefahr. Es kommen also drei Elemente zusammen: Macht und Selbstbehauptung, Einsicht und Gefühl für das, was zu ihm paßt und drittens eine Zielgerichtetheit auf das, was seine Fortsetzung ermöglicht. es wäre interessant, diese Gesichtspunkte heute unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten zu diskutieren. Aber auch Campanellas als "poetischer Dialog” gefaßte gesellschaftliche Utopie der Sonnenstadt, nicht des "Sonnenstaates”, wie immer wieder falsch gesagt wird, würde ein neues Lesen lohnen. Denn sie ist die direkte Fortsetzung seiner Lehre von den drei Wesenheiten, nach denen jeder Organismus seiner Lebensdynamik folgt. "Es ist ein neues Modell des Zusammenlebens unter der Sonne der einen Vernunft, an der alle Menschen teilhaben - nicht nur die Christen -, insofern die Religionsunterschiede relativiert werden", erklärt Kurt Flasch. "Dieses Zusammenleben soll höchst rational sein, es soll also möglichst wenig dem Zufall überlassen werden. Er dachte sich an der Spitze des Staates einen Metaphysiker, übrigens keinen Theologen, also einen, der diese philosophische Sonne der Einheit Macht, Einsicht und Liebe vor seinem geistigen Auge hätte. Das Wort Utopie hat man eher so daran gehängt, weil man sehr stark die Nähe zu Thomas Morus und dessen Utopia hervorgehoben hat."

    Im Grunde wäre es witzig, wenn es nicht so traurig wäre. Da wird ein Denker als Utopist abgetan, weil man sein poetisches Werk falsch einordnet. Und auf der anderen Seite wird er als bloßer Vorläufer Descartes angesehen, weil er sich über die Natur des menschlichen Denkens Rechenschaft abgelegt hat. Campanella ist weder das eine noch das andere. Dieser Einsicht gilt die ganze Leidenschaft Kurt Flaschs. Und bitterböse vermutet er in seinem breiten Kommentar, daß es die Schreiber der Philosophiegeschichte vorzögen, auf der Seite der Gewinner zu stehen und nicht auf der der Verlierer. Denn Campanella war ein Verlierer, weil es ihm nicht gelang, aus der Einsamkeit seines Kerkers heraus, zum Mainstreamphilosophen Europas zu werden. Die philosophischen Gedichte Campanellas aber galten gerade in Frankreich als Höhepunkt der damaligen italienischen Lyrik, und Herder pries im Jahre 1802 die intellektuelle Kraft dieser "erhabenen philosophischen Canzonen”.

    Doch nur wenige andere Philosophen, so Kurt Flasch, erkannten den Rang des dichtenden Denkers: "Schopenhauer zum Beispiel entdeckte in dem, was Campannella als die Strebenskraft in allem nannte, die Vorentdeckung des Begriffs des Unbewußten, er hat hervorgehoben, daß Campanella die Tiere in einem wesentlich menschennäheren Licht bezeichnet als die gesamte europäische Tradition. Er war also an der Ähnlichkeit von Mensch und Tier bei gleichzeitiger wesentlicher Unterscheidung viel mehr interessiert als die früheren, die gesagt haben, die Tiere können nicht denken. Für Descartes sind die Tiere reine Maschinen. Campanella aber hat die Tiere als denkende und fühlende Wesen beschrieben, er hat sogar den Pflanzen eine Seele zuerkannt. Und das hat Schopenhauer, und das hat Leibniz sehr wohl eigeleuchtet. Das heißt also, unsere auf die geschichtliche Stellung des Descartes zielende Konstruktion der älteren Denkentwicklung wurde von Leibniz anders gesehen. Campanella - wichtiger als Descartes."