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Pierre Loti: „Ramuntcho“
Ein wiederentdeckter Klassiker der französischen Literatur

Ein Held, der an der Konvention scheitert: Pierre Lotis schwärmerischer Roman „Ramuntcho“ zeigt einen jungen Mann im Kampf für ein besseres Leben. Seine Geschichte ist bis heute ein Klassiker im Baskenland.

Von Dirk Fuhrig | 16.11.2021
Portrait Zeichnung des Schriftstellers und Buchcover zu "Ramuntcho"
Pierre Lotis "Ramuntcho": Ein junger Mann, der an der Konvention scheitert (bilgerverlag)
Pierre Loti tat eine Zeit lang Dienst auf einem Schiff, das die Mündung des Bidassoa bewachen sollte, des Grenzflusses zwischen Spanien und Frankreich. Später kaufte er sich dort ein Haus, beobachtete Land und Leute und schrieb diesen Roman mit seinem energetischen Helden:
"Ramuntcho stieg schnell bergan, flink, verwegen und jung, ein Junge noch, imstande, sich unterwegs wie alle Bergbauernkinder mit einem Kiesel zu vergnügen, mit einem Schilfrohrhalm oder einem Ast, den sie im Gehen schnitzen."

Umschwärmter Pelota-Spieler

Ramuntcho ist einer der besten Pelota-Spieler der Region – ein traditionelles Ballspiel, das bis heute nördlich und südlich der Pyrenäen populär ist. Der gutaussehende Bursche ist beliebt bei den Frauen, schlägt sich mit Schmuggeleien durch. Er liebt die Einsamkeit, Gracieuse, seine Angebetete und seine Mutter:
"Und Ramuntcho fühlte, wie tief in ihm die uralte Sehnsucht seiner baskischen Vorfahren nach der heimischen Feuerstelle erwachte … er hatte es immer eiliger, zu dem einfachen Heim zu gelangen, in dem seine Mutter ihn erwartete."
Des Helden einziger Makel ist seine Herkunft. Seine Mutter war einer Liebe in "die Stadt" gefolgt, hatte sich aber von dem wohlhabenden Mann getrennt, weil sie ihr Dasein nicht als Mätresse fristen wollte. Nun lebt sie wieder auf dem Land, wo die alteingesessenen Dorfbewohner Ramuntcho als "Bastard" betrachten. Und so wird ihm verwehrt, seine Jugendliebe zu heiraten. Doch scheint das konventionelle Leben mit Ehe, Kirche und Kindern für Ramuntcho eher keine erfüllende Option zu sein.

Abenteuerlust gegen braves Bürgerleben

"Ach! Könnte man doch einfach anderswo hingehen! ... Zumindest eine Zeit lang der Knechtung in diesem Land entkommen, das er doch so liebt! Der Knechtung durch dieses immer gleiche, ausweglose Dasein vor dem Tod entkommen. Etwas anderes versuchen, hier herauskommen, reisen, kennenlernen!"
Pierre Loti skizziert einen hochtalentierten jungen Mann, der hin- und hergerissen ist zwischen Abenteuerlust und der Liebe zu seiner baskischen Heimat.
Man mag darin einen Charakterzug des Schriftstellers Pierre Loti erkennen. Der schneidige, als eitel geltende Offizier fuhr viele Jahre zur See und bereiste die ganze Welt. Seine Romane wurden gerade von jungen Frauen verschlungen - Sittenwächter warnten vor den Büchern wegen ihrer erotischen Passagen.

Schwärmerischer Stil, körperliche Kraft

Holger Fock und Sabine Müller haben den sich vor prallen Beschreibungen mitunter fast überschlagenden, schwärmerischen Stil Lotis herausragend übersetzt.
"Die Säfte, die im Frühjahr so schnell emporstiegen, ermatten schon, die Pflanzenwelt hat sich ganz entfaltet, die Blumen stehen in voller Blüte. Und die immer stechendere Sonne überhitzt die Köpfe unter den Baskenmützen, Begeisterung und Leidenschaften steigern sich ins Überschwängliche, und überall in den baskischen Dörfern gärt es, brodelt ein aufgeregtes Treiben und kocht über vor Vergnügen. Während in Spanien die großen, blutigen Stierkämpfe beginnen, beginnt hier die Zeit der vielen Feste, der vielen Pelota-Partien, der vielen Fandango-Tanzabende, der vielen schmachtenden Romanzen in der wollüstigen Wärme der Nächte!" 
Ebenso farbig wie die Landschaften zeichnet Loti die Menschen: kraftvolle, plastische Beschreibungen der vor allem männlichen Körper. "Athletisch" und "muskulös" sind wiederkehrende Vokabeln bei der Charakterisierung Ramuntchos und seiner Freunde, ständig ist von sonnengebräunten Armen die Rede oder von Schweiß, der über die Brust rinnt.

Die Autorität der Kirche bekommt Risse

Zwar siegt – zumindest vordergründig – am Ende die Konvention über die ungestüme Liebe. Ein Versuch, die Angebetete aus dem Kloster zu befreien, misslingt. Die Autorität der Kirche, auf dem Land noch blind akzeptiert, bekommt jedoch Risse:
"Unter dem großen Nachthimmel beginnt der fromme kleine Baske, an seinem Glauben zu zweifeln. Seine Seele ist nicht schlicht genug, um blind den Dogmen und religiösen Vorschriften zu folgen, und da in seinem seltsam gerüsteten, jungen Verstand, dem niemand die Richtung vorgibt, alles aus den Fugen gerät, weiß er nicht mehr, ob es klug ist, sich noch vertrauensvoll den ehrwürdigen geweihten Formeln zu unterwerfen, hinter denen vielleicht alles verborgen bleibt, was wir an unergründlichen Wahrheiten erahnen können." 
Man mag die emphatische Aufwallung, die den Roman durchzieht, stellenweise als naiv und allzu romantisierend empfinden. Aber den stürmenden und drängenden Helden Ramuntcho, der an den einengenden Traditionen leidet und anfängt, eigenständig zu denken, muss man einfach lieben. Pierre Lotis Roman, geschrieben am Ende des 19. Jahrhunderts, ist eine wunderbare Wiederentdeckung.
Pierre Loti: "Ramuntcho"
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
bilgerverlag, Zürich. 258 Seiten, 26 Euro.