
25 Jahre ist sie damals alt. Sie ist an diesem Morgen auf dem Weg zum Aufnahmetest an der Uni Freiburg, wo sie ein zweites Studium absolvieren will – die Approbation als Tierärztin hat sie bereits in der Tasche. Kurz bevor die Prüfung beginnt, wird sie ohnmächtig. Herbeigerufene Rettungssanitäter und der Notarzt erkennen schnell: Die junge Frau schwebt in Lebensgefahr. Felicitas Rohrer erzählt:
Ihr Herz schlägt nicht mehr: 20 Minuten lang ist Felicitas Rohrer klinisch tot. Die Ärzte schneiden ihr in einer Notoperation den Brustkorb auf und sehen, dass ihre Lunge voll ist mit verklumptem Blut. Ein Blutgerinnsel war zunächst in der Beinvene entstanden, hatte sich gelöst und dann die Gefäße der Lunge verstopft.
Die Yasminelle ist eine Pille der vierten Generation, also ein neueres Präparat. Sie enthält Drospirenon, ein Gestagen, das leicht entwässernd wirkt. Felicitas Rohrer ist überzeugt, dass es dieser Stoff war, der ihr Blut hat gerinnen lassen. Sie spricht von einem Herstellungsfehler und fehlender Aufklärung über das erhöhte Thromboserisiko. Bayer habe ihr Leben riskiert. Deshalb hat sie den Pharmariesen verklagt, auf rund 200.000 Euro Schmerzensgeld und Schadensersatz.
Bayer weist die Vorwürfe zurück; die Yasminelle sei für die entstandenen Gesundheitsschäden nicht ursächlich; die damals erteilten Arzneimittelinformationen seien nicht zu beanstanden.
Dass die Klage vom Landgericht Waldshut-Tiengen in Baden-Württemberg angenommen wurde, war schon eine kleine Sensation, denn es ist das erste Mal, dass sich ein deutsches Gericht mit dem Risiko einer Verhütungspille beschäftigt. Einen einzigen Verhandlungstag hat es bisher gegeben, das war vor drei Jahren. Seitdem gingen Anwaltsbriefe hin und her, Fristen wurden verlängert, Gutachten in Auftrag gegeben.

Auch in anderen Ländern machen Frauen den Bayer-Konzern für Gesundheitsschäden durch die Einnahme von Verhütungspillen ähnlich der Yasminelle verantwortlich. In den USA hat das Pharma-Unternehmen mit mehr als 10.000 Frauen Vergleiche geschlossen und bereits mehr als zwei Milliarden US-Dollar gezahlt – allerdings ohne Anerkennung einer Haftung, nachzulesen im Bayer-Geschäftsbericht 2015.
Auch in Frankreich legten Frauen juristische Mittel ein. Die Justiz stellte die Ermittlungen im vergangenen Jahr allerdings ein: Es gebe keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen den gesundheitlichen Problemen der Klägerinnen und der Einnahme der Verhütungsmittel, hieß es.
Bei Bayer stellte sich zu diesem Thema niemand einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Wiederholte Anfragen wurden abgelehnt, Fragen nur schriftlich beantwortet:
Von kombinierten hormonalen Kontrazeptiva ist die Rede, weil die meisten Pillen heutzutage zwei Hormone enthalten: ein Östrogen und ein Gestagen. Frauen, die die Pille nehmen, haben grundsätzlich ein höheres Thromboserisiko. Das ist seit Langem bekannt und steht in jedem Beipackzettel. Bei den Pillen der dritten und vierten Generation allerdings ist das Risiko höher als bei älteren Präparaten.
Diese Zahlen haben auch das BfArM, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte alarmiert. Es ist die Behörde, die in Deutschland über die Zulassung von Medikamenten wacht. Maik Pommer ist ihr Pressesprecher:
Zwar sind Pillen wie die Yasminelle nach wie vor am Markt zugelassen – weil das Verhältnis von Nutzen und Risiko statistisch immer noch positiv sei, sagt Maik Pommer. Die Hersteller mussten allerdings die Formulierungen in den Beipackzetteln anpassen. Und: 2014 hat das BfArM einen sogenannten Rote-Hand-Brief verschickt. Das ist ein Instrument der Behörde, um Ärzte über neu erkannte Risiken oder Nebenwirkungen von Medikamenten zu informieren.
Es ist selten, dass das Institut den Ärzten so genau vorschreibt, wie sie ihre Patientinnen zu beraten haben:
"Das ist natürlich so, wenn da ein Rote-Hand-Brief kommt vom BfArM – über dem BfArM ist nur noch der blaue Himmel! Das hat schon fast Rechtscharakter. Man muss sich schon daranhalten", sagt Doris Scharrel. Sie ist zweite Vorsitzende beim Berufsverband der Frauenärzte. "Wir vom Berufsverband haben uns auch engagiert, dass das in den Praxen auch bekannt ist, die Patientenkarte mitzugeben und nach der Checkliste vorzugehen. Inwieweit es umgesetzt wird, können wir natürlich nicht beeinflussen. Aber man kann die Empfehlung geben."
Für die Verhütungsberatung und die Untersuchung einer Kassenpatientin könne sie rund 17 Euro abrechnen, sagt Doris Scharrel, die als Gynäkologin in der Nähe von Kiel praktiziert.
Das sei keine angemessene Honorierung, zumal für Gespräch und Untersuchung nur elf Minuten veranschlagt würden: "Und das reicht nie aus. Schon allein die Checkliste durchzugehen, die Anamnese zu erfragen, zur Familie, zum Lebensstil, Rauchen, ob Operationen geplant sind", so Scharrel. "Das geht da alles hinein, in die ganze Anamnese. Und dann machen Sie eine ärztliche Bewertung: Was kann ich der aufschreiben?"
In der Praxis bekam sie dann bereits eine Gratispackung der Yasminelle, in einer attraktiven Schachtel, die Felicitas Rohrer aufgehoben hat: "Das ist so eine kleine silberne Box, mit einer Blume drauf und wenn man die aufmacht, ist da ein Schminkspiegel drin."
In der Metall-Dose liegen der Blisterstreifen mit den Tabletten, der Beipackzettel und noch eine weitere Broschüre, in der allerlei positive Wirkungen des Präparats aufgezählt werden:

Der Markt für hormonelle Verhütungsmittel ist umkämpft, mit den älteren Pillen lässt sich nicht mehr so viel Geld verdienen, weil es längst preisgünstige Generika, also Nachahmerprodukte gibt. Auch deshalb entwickelte die Pharmaindustrie neue Pillen, mit Gestagenen, die leicht antiandrogen wirken – also bei Pickeln oder fettigen Haaren helfen.
Für den Bayer-Konzern sind die Verhütungspillen ein wichtiges Geschäftsfeld. Allein mit den Präparaten Yaz, Yasmin und Yasminelle hat das Unternehmen im vergangenen Jahr einen Umsatz von 648 Millionen Euro gemacht. Zwar werden diese Pillen inzwischen seltener verordnet und die Umsätze sind rückläufig. Doch gehören sie noch immer zu den umsatzstärksten Arzneimitteln des Leverkusener Pharmakonzerns. Obwohl längst nicht mehr vom Figur-Bonus oder dem Smile-Effekt die Rede ist.
Und Pillen-Schachteln mit Schminkspiegel gibt es auch nicht mehr, wie Bayer auf Nachfrage erklärt:
Im Film sagt das Mädchen: "Ich habe auch eine wichtige Entscheidung getroffen. – Und die wäre? – Wir haben ja mal über die Pille gesprochen und ich kam jetzt zu dem Schluss, sie zu nehmen."
Das Mädchen informiert sich gemeinsam mit einer Freundin, wie die Pille funktioniert, wer sie verschreibt, worauf man achten muss. Tante Bea, eine Apothekerin, gibt Auskunft:
Eine Wunderpille, die verhütet und schön macht: Auch wenn dieser schon einige Jahre alte Film von Jenapharm selbst nicht mehr verbreitet wird und Pharmakonzerne diese Nebeneffekte heute auch nicht mehr so herausstellen: Die Wirkung dieses Narrativs ist ungebrochen. Gynäkologen, die die werbenden Argumente der Pharmaindustrie unkritisch weitergeben, gibt es zuhauf. Und auch die Patientinnen selbst sind geprägt davon. Gabrielle Stöcker arbeitet bei der Beratungsstelle Pro Familia in Köln:

Zu möglichen Nebenwirkungen, die zuletzt Schlagzeilen gemacht haben, gehören auch seelische Verstimmungen bis hin zu Depressionen. Auch Hormonspiralen, wie etwa die Mirena von Bayer, stehen im Verdacht, Depressionen auszulösen oder zu verstärken.
Eine dänische Studie von 2016 hat allerdings gezeigt, dass Frauen, die hormonell verhüten, öfter Antidepressiva brauchen. "Die Antibabypille ist unzumutbar", meint Sabine Kray. Die Journalistin hat im vergangenen Jahr ein viel beachtetes Buch geschrieben mit dem Titel "Freiheit von der Pille":
"Darin habe ich mich sehr stark mit den Nebenwirkungen auseinandergesetzt, was die Gabe von Sexualhormonen auf die Psyche von Frauen haben kann", sagt Kray. "Weil Sexualhormone eben nicht nur in den Reproduktionsorganen wirken, sondern eben Rezeptoren überall im Körper haben und einen starken Einfluss auf unsere Selbstwahrnehmung, auf unser Wohlbefinden, auf unsere Virilität und auch unser sexuelles Begehren."
Wenn junge Mädchen anfangen, die Pille zu nehmen, sei das oft der Beginn einer jahre- und jahrzehntelangen Pillengeschichte. Diese Frauen wüssten dann später oft gar nicht mehr, wie sie sich ohne Fremd-Hormone fühlen würden:
Die Pille ist nach wie vor das Verhütungsmittel Nummer eins in Deutschland. Sie gilt bei richtiger Anwendung nicht nur als besonders sicher. Sie steht auch seit ihrer Einführung in den 60er-Jahren symbolhaft für die Emanzipation der Frau, für eine unbeschwerte Sexualität, dafür, dass Frauen selbst entscheiden können, ob, wann und wie viele Kinder sie bekommen.
Sabine Kray empfiehlt jungen Frauen, sich im Zweifel nicht nur in der Arztpraxis zu informieren, sondern auch eine Verhütungsberatung in Anspruch zu nehmen, wie sie beispielsweise Pro Familia anbietet.
Beraterinnen wie Gabrielle Stöcker haben eine ganze Stunde Zeit für ein solches Gespräch – das ist weit mehr als ein Frauenarzt einräumen kann:
Natürliche Familienplanung bedeutet, die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage im Zyklus zu identifizieren. Eine Methode, die sich aber zum Beispiel für sehr junge Mädchen nicht unbedingt eignet:
Eine Schwangerschaft verhindern: Das wollte damals auch Felicitas Rohrer, als sie frisch verliebt war und sich die Pille Yasminelle verschreiben ließ. Heute wünscht sie sich Kinder und wird vielleicht niemals welche bekommen können – wegen der blutverdünnenden Medikamente, die sie seit ihrer Lungenembolie jeden Tag einnehmen muss.
Ihr Leben hat sich durch die Erkrankung stark verändert. Als Tierärztin kann sie nicht arbeiten, weil sie nicht schwer heben und auch nicht lange stehen darf. Ihren Lebensunterhalt verdient sie jetzt als freie Journalistin. Sie weiß, dass ihr Prozess gegen den Bayer-Konzern noch Jahre dauern kann. Doch sie will ihn unbedingt bis zum Ende durchkämpfen: