Samstag, 20. April 2024

Archiv

"Pique Dame" in Stuttgart
Seelendrama im sozialen Brennpunkt

Spielsucht, Geld und Liebe: Tschaikowskys Oper "Pique Dame" ist ein großes, pathetisches Seelendrama. Doch sie enthält auch zeitgenössische Konflikte, wie eine neue Inszenierung der Stuttgarter Staatsoper zeigt. Sie präsentiert eine soialkritisch-moderne Lesart des romantischen Werks.

Von Elisabeth Richter | 12.06.2017
    Die Schauspieler Erin Caves (l) und Rebecca von Lipinski spielen bei einer Probe für die Oper "Pique Dame" von Tschaikowsky in der Oper in Stuttgart (Baden-Württemberg) die Rollen von "German" und "Lisa". Premiere des von der Oper Stuttgart neu inszenierten Stücks war am 09. Juni 2017. Foto: Christoph Schmidt/dpa
    "Pique Dame" von Tschaikowsky an der Oper Stuttgart (dpa/Christoph Schmidt)
    Der Putz bröckelt von der mit Stuck-Reliefs verzierten grünen Fassade. Die alte Gräfin wirft sich einmal des Nachts einen pelzbesetzten, violetten Samtmantel über. Das sind die einzigen Relikte aus dem mondänen St. Petersburg vergangener Zeiten in der Stuttgarter Neu-Produktion von Peter Tschaikowskys "Pique Dame". Anna Viehbrock hat zwei riesige Holzwände gebaut, die bei der sich ziemlich fleißig drehenden Bühne verschiedene Hausfassaden zeigen. Treppenaufgänge, schmale und breite Balkone bieten weitere Spielflächen auf verschiedenen Ebenen.
    Hinterhöfe voller Drogenkriminalität und Prostitution
    Das Regie-Team Jossi Wieler und Sergio Morabito verortet Tschaikowskys romantisches Seelendrama in einem heruntergekommenen St. Petersburg von heute oder in einem anderen Irgendwo eines sozialen Brennpunkts. Auf Hinterhöfen, Plätzen, Straßen sind Prostitution, Spielsucht oder Drogenkriminalität zuhause.


    Die eigentlich adlige Lisa ist hier ein Straßenmädchen, das ihren wohlhabenden Freier Fürst Jelitzki heiratet, in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Dafür hat sie dem in sie unsterblich verliebten Soldaten German den Laufpass gegeben, wird aber immer wieder von ihren wahren Gefühlen zu German heimgesucht.
    Der Spielsucht verfallen: Tschaikowskys German als Punk
    German kommt in Stuttgart als Punk daher, seine gewalttätigen Kumpel schlagen ihm schon mal das Gesicht blutig. Auf seinem schwarzen T-Shirt prangt der Kopf der "Pique Dame", der alten Gräfin. Sie weiß das Geheimnis von drei Karten, mit denen sich jedes Spiel gewinnen lässt. Erst damit setzt Germans Wahn ein. Glaubt er zuerst noch, Lisa mit mehr Geld zu gewinnen, so verrät er zusehends seine Liebe und verfällt der Spielsucht. Im finalen Spiel setzt er wider besseres Wissen auf die falsche Pique Dame statt auf das gewinnbringende As. Nur der Selbstmord scheint ihm die Lösung.

    Jossi Wieler und Sergio Morabito treiben Tschaikowskys obsessiv-fatalistischem Drama der Leidenschaften von 1890 durch ihren sozialkritischen Ansatz jegliche Magie aus und nähern sich damit mehr Puschkins analytisch-sachlicher Erzählung von 1834 an. Da Tschaikowsky die Handlung aber auch noch vom 19. ins 18. Jahrhundert verpflanzt hat - es erklingen musikalisch deutlich hörbare Referenzen etwa an Mozart -, wird Wielers und Morabitos Transformation ins Heute für manche Szenen fast zwangsläufig zu Karikatur und Groteske. Bei der mondänen Masken-Ballszene schnipselt und bastelt die Petersburger Punk- und Prostituierten-Gesellschaft beispielsweise ihre Masken aus Papiertüten, während Fürst Jeletzki seine Liebe zu Lisa besingt. Beim Schäferspiel kriecht das Straßenvölkchen dann tatsächlich leise blökend als Schafe herum.
    Unglaubliche Verve, aber es fehlen die feinen Töne
    Musikalisch lebte diese Produktion von unglaublicher Verve, das war einerseits erfrischend, andererseits aber auch problematisch. Sylvain Cambreling setzte am Pult des Staatsorchesters Stuttgart auf einen sehr lauten, manchmal sogar forcierten Ton. Auch wenn es die feinen, geheimnisvollen Orchester-Farben gab, sie waren zu rar. Fast alle Sänger hatten Mühe, sich gegen das oft zu mächtige Orchester zu behaupten. So klangen etwa Tenor Erin Caves als German und auch Rebecca von Lipinski als Lisa zu angestrengt. Dass sie wenig charismatisch waren, mag ihren Rollendebüts und dem Premieren-Fieber geschuldet sein. Darstellerisch sowie sängerisch eindrücklich agierte Helene Schneiderman als Pique Dame, stimmlich am überzeugendsten bleibt der Bariton Vladislav Sulimsky als Graf Tomski in Erinnerung.

    Die Produktion hinterlässt zwiespältige Eindrücke. Sicher: zu viel triefendes Tschaikowsky-Pathos erscheint heute nicht zeitgemäß. Doch manche Konflikte und Motivationen der Figuren blieben rätselhaft, etwa, warum sich Lisa plötzlich das Leben nimmt. Zu viel Bühnenaktionismus sorgte auch nicht unbedingt für mehr Verständnis. Zumindest bieten der sozialkritische und besonders der karikaturistische Ansatz Stoff zum Nachdenken.