Donnerstag, 25. April 2024

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Piraten haben "kein Delegiertensystem wie in den etablierten Parteien"

Nicht zu welchen Entscheidungen sie gelangen, sondern wie - darin unterscheiden sich die Piraten von den etablierten Parteien, sagt Christoph Bieber. Die Möglichkeit der Teilhabe der Basis an der Programmentwicklung mache den Reiz der neuen Partei aus und erkläre ihren Erfolg.

Christoph Heinemann sprach mit Christoph Bieber | 04.04.2012
    Christoph Heinemann: Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Dem neuen "Stern"-"RTL"-Wahltrend zufolge liegen die Piraten bundesweit gegenwärtig bei zwölf Prozent. Eine von der "Bild"-Zeitung veröffentlichte Studie sieht die Partei bei acht Prozent. Davon können andere nur träumen. Unheimlich ist dieser Erfolg nicht nur der politischen Konkurrenz; die politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, Marina Weisband, sagte der "Berliner Zeitung", "wir haben das Geld einer 0,2-Prozent-Partei, Programm und Struktur einer Zweiprozentpartei, aber an uns werden die Erwartungen einer Zwölfprozentpartei gestellt". – Am Telefon ist der Politikwissenschaftler Christoph Bieber von der Universität Duisburg. Guten Tag.

    Christoph Bieber: Schönen guten Tag.

    Heinemann: Professor Bieber, wieso erzielt eine inhaltliche Zweiprozentpartei zwölf Prozent in den Umfragen?

    Bieber: Ich denke, da kommen einige Punkte zusammen. Auf der einen Seite sind die Piraten doch deutlich in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt, nach ihrem für die meisten ja nun wirklich überraschenden Einzug in das Abgeordnetenhaus in Berlin. Das Internet als mögliche neue Triebkraft für gesellschaftliche Prozesse ist auch schon seit einigen Jahren in der Diskussion. Und dann gibt es immer mal wieder Versuche der etablierten Parteien, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, die aus dem Netz nun hochkommen und für viele Menschen immer wichtiger werden, die nicht besonders glücklich verlaufen. In diesem Mix ist nun die Piratenpartei aufgetaucht, die offensichtlich ganz spannende, ich würde noch gar nicht mal sagen, Angebote unterbreitet, aber als ein spannender Akteur in diese Debatte eintritt und offensichtlich für viele Menschen sichtbar und tatsächlich auch wählbar geworden ist.

    Heinemann: Die Piraten sagen ganz offen, wir wissen nichts oder wir wissen vieles nicht. Verspüren die Wählerinnen und Wähler Lust auf Ahnungslosigkeit?

    Bieber: Das würde ich nicht sagen. Die Piraten sagen auch nicht zwingend, dass sie auch in Zukunft nichts wüssten, sondern sie lassen sich auf eine neue Form von parteilicher Wissensproduktion ein, wenn man das so nennen mag, die sich offensichtlich doch etwas unterscheidet von dem, was die etablierten Parteien machen. Zurzeit könnte man sagen, investieren die Wähler in so etwas wie Futures. Sie erhoffen sich tatsächlich von den Piraten sicherlich durchaus auch inhaltliche Debatten, Ansatzpunkte und vielleicht auch Lösungen, aber sie erwarten nicht, dass sie morgen damit gewissermaßen an die Öffentlichkeit treten, und das erklärt, denke ich, im Moment zumindest besser den Erfolg in den Umfragen, der ja auch ein sehr virtueller und manchmal kurzfristiger Erfolg sein kann, diesen sprunghaften Anstieg.

    Heinemann: Wie ist denn diese parteiliche Wissensproduktion, von der Sie gerade gesprochen haben, organisiert und ist das ein Weg, ein erfolgreicher Weg?

    Bieber: Zu dem ersten Teil der Frage kann man was sagen; zum Zweiten ist es, glaube ich, noch zu früh. Die Piraten setzen tatsächlich sehr, sehr stark darauf, in ihrer Programmentwicklung und auch in ihrer Kandidatenselektion möglichst alle Mitglieder der Basis einzubinden. Sie nutzen dafür ganz klassische Formate, die man dann beobachten kann in Form der Landesmitgliederversammlung oder Bundesparteitage, die aber in der Regel rückgekoppelt sind an Diskussionen, die im Netz stattfinden, und hier gehen die Piraten tatsächlich sehr viel offener vor. Jedes einfache Mitglied kann sich daran beteiligen, hat Vorschlagsrechte und kann, wenn er denn an den als Entscheidungsort gekennzeichneten Veranstaltungsorten teilnimmt, auch darüber abstimmen, und das ist der große Unterschied. Es gibt eben kein Delegiertensystem wie in den etablierten Parteien, wodurch eine innerparteiliche Hierarchie entsteht, und da sind wir wieder an dem Punkt, den Sie vorhin schon angesprochen haben. In dem Moment, wo diese Partei einen rasanten Mitgliederzulauf erhält, stößt diese Form der Organisation durch dieses Wachstum, dem sie ausgesetzt ist, durchaus auch an Grenzen.

    Heinemann: Kommen wir noch mal zum Ist-Zustand, Herr Professor Bieber. Ein Kokettieren mit Nichtwissen würden Wählerinnen und Wähler den Entscheidern nicht durchgehen lassen, wenn Angela Merkel jetzt sagen würde, Euro-Rettung, weiß ich auch nicht, was man da machen soll. Wieso erhöht dies die Anziehungskraft der Piraten?

    Bieber: Na ja, es ist der Reiz des Neuen. Die Piraten sagen ja auch oder setzen sich ganz deutlich von den etablierten Parteien ab, dadurch, dass sie sagen, wir sind eben keine Berufspolitiker, wir haben nicht die langen Karrieren durchlaufen, die sogenannte Ochsentour, wie sie in den anderen Parteiorganisationen üblich ist, sondern wir sind gerade - schaut man auf das Beispiel des Saarlandes – sprichwörtlich über Nacht zu Amt und Würde gekommen, und insofern ist es zunächst einmal konsistent, wenn dort gesagt wird, wir verstehen dieses Geschäft, für das wir vom Wähler nun einen Auftrag erhalten haben, noch nicht so gut wie die anderen Parteien und das passt im Moment noch ins Bild. Sie haben ja recht, bei den Entscheidern findet man es nicht gut, eine solche Haltung, nur die Piraten sind im Moment noch keine Entscheider. Es gibt 15 im Abgeordnetenhaus in Berlin und vier im Saarland, die entscheiden dort nicht. Wir reden noch über eine sehr, sehr kleine Partei und nicht um eine mit 20 Prozent, wie es sich manchmal anhört, wenn man die Worte und Aussagen der etablierten Parteien nimmt, die in den Piraten vielleicht einen sehr viel größeren Gegner wahrnehmen als er tatsächlich ist im Moment.

    Heinemann: Zum Piraten gehören die Augenklappe und der Enterhaken. Wo ist die Sicht begrenzt und welches fremde Gedankengut eignen sich die Piraten an?

    Bieber: Die Piraten haben einen etwas anderen differenzierteren Piratenbegriff, der sich doch sehr stark auch populär-kulturellen Entwicklungen verdankt, und so radikal, wie es mit dem Verweis auf diese Insignien scheinen mag, ist es sicherlich nicht. Die Piraten – das kann man, glaube ich, in aller Kürze und Vorläufigkeit im Moment sagen – setzen vor allen Dingen an den Prozessen an, die die Politik gestaltbar machen in Form von Parteiorganisationen. Das ist, denke ich, der stärkere Ansatzpunkt für Innovationen, Neuerungen, die in die Politik reinkommen, als die Fokussierung auf neue Themen, die den Piraten ja immer zugeschrieben wird, sie seien die Einzigen, die etwas vom Internet verstehen. Das stimmt nicht, aber die wesentliche Innovation ist eine im politischen Prozess, nämlich eben wie Menschen innerhalb einer Parteiorganisation sich kommunikativ auseinandersetzen, wie sie programmatische, inhaltliche Standpunkte entwickeln und wie sie zu Entscheidungen kommen, und an dieser Stelle unterscheiden sich die Piraten von den anderen Parteien.

    Heinemann: Kurz zum Schluss: Spiegelt die Kulturtechnik Internet Kompetenz, Informiertheit, Modernität vor?

    Bieber: Ich finde, das ist eine sehr hypothetische Frage. Es ist sicher so, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Nutzung, der selbstverständlichen alltäglichen Nutzung der Unterstützer, Anhänger der Piratenpartei, die sie dem Internet zugestehen und die sie wie selbstverständlich auf die Art und Weise übertragen, wie sie Politik machen. Man kann das als Modernität bezeichnen, man könnte aber auch sagen, das ist für viele Menschen einfach normal.

    Heinemann: Der Politikwissenschaftler Professor Christoph Bieber von der Universität Duisburg. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Bieber: Bitte schön.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.