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Pisa-Ergebnisse haben auch soziale Gründe

Bei der zweiten PISA-Bundesländer-Studie liegt Bayern offenbar vorn, während die Stadtstaaten das Schlusslicht darstellen. Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm begründete dies mit den unterschiedlichen Ausgangssituationen der Länder. So hätten in Bayern lediglich 20 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund, in Bremen seien es 40 Prozent. Auch die höhere Arbeitslosigkeit sowie die schlechtere Haushaltslage in den Stadtstaaten spielten eine große Rolle.

Moderation: Klaus Remme | 14.07.2005
    Klaus Remme: Am Telefon ist jetzt der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm. Herr Klemm, ich grüße Sie.

    Klaus Klemm: Guten Morgen.

    Remme: Herr Klemm, Sie haben auch eine Studie durchgeführt. Nicht die, über die wir gerade gehört haben, aber eine, die sich mit sehr ähnlichen und verwandten Fragen beschäftigt. Wo ist der Zusammenhang zwischen diesen beiden Erhebungen?

    Klemm: Wir haben versucht, die Faktoren herauszuarbeiten, die außerhalb des direkten schulischen Bereiches maßgeblich für Bildungserfolge sind. Wir haben Wohlfahrtsdaten aus den sechzehn Bundesländern verglichen, wir haben Arbeitslosigkeitsdaten verglichen, wir haben Verschuldungsdaten verglichen. Wir haben die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung in den einzelnen Bundesländern miteinander verglichen, weil wir wissen, dass nicht nur das, was in der Schule direkt passiert, sondern auch das, was im Umfeld der Schule passiert, maßgebend beeinflussend ist für den Erfolg, den Kinder in der Schule haben.

    Remme: Herr Klemm, die erste PISA-Studie, die für so viel Wirbel sorgte, liegt dreieinhalb Jahre zurück. Deutet die Bewegung im Ländervergleich jetzt darauf, dass die Reformen wirken?

    Klemm: Ich würde das nicht so interpretieren. Wir haben jetzt zwei Messzeitpunkte und die Veränderungen, die zwischen diesen beiden Messpunkten sind, sind zum Teil erstaunlich, auch für mich im Augenblick noch schwer erklärbar. Wir wissen aus ähnlichen Untersuchungen, wir wissen auch generell aus der Statistik, dass man aus zwei so dicht beieinander liegenden Messzeitpunkten überhaupt nicht auf irgendwelche Trends schließen kann.

    Remme: Nennen Sie einmal ein Beispiel für das, was Ihnen da nicht ganz erklärbar erscheint.

    Klemm: Ich mache es einmal an einem Beispiel aus den internationalen Studien. Mitte der 90er Jahre lag die USA in Mathematik deutlich schlechter als Deutschland, dann kam die PISA-Studie 2000, da war die USA auf einmal viel besser als Deutschland. Das wurde von einzelnen damit erklärt, dass in den USA inzwischen einzelne Maßnahmen gegriffen hätten und dann kam 2003, da waren die USA auf einmal wieder viel schlechter als Deutschland. Wir haben es da mit Schwankungen zu tun und wir können eigentlich erst, wenn wir einen Zeitraum von zehn Jahren überblicken, sagen, ob wirklich stabile Trends da sind. Deshalb ist diese Studie auch so angelegt, dass schon im Jahre 2006 die nächste kommen wird, dass sie also über viele Zeitpunkte immer wieder beobachtet und dann nach einiger Zeit zu wirklichen Trends kommt.

    Remme: Es gibt ja auch Erkenntnisse, Herr Klemm, die sind gleich geblieben, die waren in der ersten sowohl wie auch jetzt hier in diesem Ergebnis: nämlich die Schieflage zwischen den Bundesländern. Wie sieht diese aus?

    Klemm: Die ist nach wie vor, wenn auch auf leicht behobenen Niveau. Alle sind etwas besser geworden, aber die Schieflage ist nach wie vor dramatisch. Die Ergebnisse, die ja jetzt schon heute Morgen über dpa gekommen sind, obwohl sie erst heute Mittag vorgestellt werden, ich kenne auch noch nicht Details, aber die Ergebnisse sagen, dass zwischen Bayern, Baden-Württemberg auf der einen Seite und den Stadtstaaten vor allen Dingen auf der anderen Seite, erhebliche Differenzen in der Leistung sind.

    Remme: Warum hat sich daran bisher nichts geändert?

    Klemm: Da komme ich auf das zurück, was Sie ganz anfangs bei mir gefragt haben. Wir haben in diesen Regionen ganz, ganz unterschiedliche und zwar dramatisch unterschiedliche Ausgangsbedingungen, was die Migrationsanteile angeht in der Bevölkerung. Im Stadtstaat Bremen lagen bei der letzten Studie, da wird sich nicht viel geändert haben, lagen 2000 die Anteile der Kinder mit Migrationshintergrund an allen Kindern bei 40 Prozent, in Bayern sind es gut 20 Prozent. In Bremen gibt es eine ganz, ganz hohe Arbeitslosigkeit. Im süddeutschen Raum ist die Arbeitslosigkeit, sowohl die generelle als auch die Jugendarbeitslosigkeit viel geringer. In Bremen gibt es eine riesige Staatsverschuldung, die eben zu starken Einschnitten im öffentlichen Haushalt führt, auch bei den Schulen. In Bayern ist die Staatsverschuldung sehr gering. Also, wir haben diese ökonomischen Rahmenbedingungen, die sind sehr stabil und Schule kann gar nicht so gut sein, um dagegen anzuarbeiten.

    Remme: Ist denn die Förderung von Arbeiter- und Migrantenkindern der Schlüssel zum Verstehen und zum Erfolg bei PISA?

    Klemm: Auf jeden Fall kann man Folgendes sagen: Wenn man in weiteren, künftigen PISA-Studien besser werden will, Deutschland insgesamt und auch einzelne Regionen Deutschlands, dann am ehesten dadurch, dass man im Bereich der Migrationspopulation endlich bessere Schule macht, da versäumen wir unendlich viel. Und dass man den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg, dass man den weniger eng gestaltet wie es in Deutschland nun mal ist.

    Remme: Ich will mich auf einen Aspekt konzentrieren: das dreigliedrige Schulsystem. Das ist ja heftig umstritten, der OECD-Bildungsexperte Schleicher hat jetzt kritisiert, viel ist nicht passiert und insbesondere dieses Schulsystem ist ein Kernproblem, während andere, wir haben es gerade im Bericht vor unserem Interview gehört, gerade dieses System als Erfolg unseres Bildungssystems ausmachen. Wird das immer eine Glaubensfrage bleiben?

    Klemm: Für mich ist das keine Glaubensfrage. Was die internationalen Studien uns zeigen, ist: Es gibt Länder, die ihre Kinder lange gemeinsam unterrichten, - Schlagwort: integriertes System -, Skandinavien, Frankreich, England, die meisten Länder machen das so und die gleichwohl Ergebnisse erzielen, die den deutschen Ergebnissen überlegen sind. Daraus kann man schließen: Kinder lange gemeinsam lernen zu lassen, hindert nicht, dass die Leistungen insgesamt gut oder sogar spitzenmäßig sind. Man kann nicht daraus schließen, wenn wir besser werden wollen, müssen wir die Kinder gemeinsam lernen lassen. Das ist das, was wir wirklich sagen können: Wer Kinder länger gemeinsam lernen lässt, gefährdet nicht den Leistungsstand seiner Kinder, im Gegenteil: Länder zeigen, dass das mit hohen Leistungen verbindbar ist.

    Wenn das aber so ist, dann fragt man sich natürlich, warum machen wir den ganzen Zauber des unendlichen mühsamen Auswählens nach Klasse Vier mit all den vielen Irrwegen, wenn man ohne dies die gleichen oder bessere Ergebnisse erzielen könnte? Nur jetzt zu sagen, um schnell besser zu werden, müssen wir jetzt integrieren, das wäre falsch. Die bayerischen Ergebnisse, die beim letzten Mal schon da waren und jetzt wieder da sind, zeigen ja auch, dass es offensichtlich in Regionen Deutschlands, wenn alles andere günstig ist, gelingt, gute Ergebnisse im gegliederten System zu erzielen, allerdings mit sozialer Selektivität.

    Remme: Herr Klemm, in Nordrhein-Westfalen, wo Sie auch leben und arbeiten, erleben wir gerade einen Regierungswechsel, die Bildungspolitik stand im Zentrum des Wahlkampfs. Jürgen Rüttgers, der neue Ministerpräsident hat tausend zusätzliche Lehrer angekündigt, die jetzt eingestellt werden sollen, schnell, vielleicht nicht zum Anfang des Schuljahres, aber doch bis zu den Herbstferien. Wie hilfreich ist so etwas?

    Klemm: Das Land Nordrhein-Westfalen hat im Bundesländervergleich pro Schüler weniger Lehrer als andere Regionen Deutschlands, insofern kann man nur begrüßen, wenn das Land den ökonomischen Kraftakt macht, mehr Lehrer einzustellen. Man muss hoffen, dass das nicht in diesem Jahr mehr sind, die man dann in den nächsten Jahren wegen der Haushaltslage wieder gleichsam einsammeln muss. Aber, zunächst einmal: Mehr Lehrer in Schulen ist sinnvoll, allerdings nur dann, wenn sie nicht einfach mit der Gießkanne über das Land gegossen werden und hier und da eine viertel Lehrerstelle hinzukommt, sondern wenn man diese Lehrer gezielt einsetzt, zum Beispiel, wir haben es eben schon einmal angesprochen, um wirklich im Bereich der Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund zu klotzen.

    Remme: Wir haben jetzt über die Unterschiede in den Bundesländern gesprochen. Bedeutet denn ein schlechtes Ergebnis im Bundesländervergleich was den PISA-Test angeht, auch schon automatisch für diese Kinder, die dann die Schulen verlassen, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt? Ist das erwiesen?

    Klemm: Nicht automatisch, aber immer dann, wenn die Kinder in Regionen aufwachsen, in denen der Arbeitsmarkt ohnedies schlecht ist, dann wird es schwierig, in den noch mit schlechten Schulergebnissen hineinzukommen. Das ist ja wie der verteufelte Zirkel, wir haben schlechte Umgangsbedingungen oder schlechtere mit höherer Arbeitslosigkeit, Abbau von Arbeitsplätzen et cetera und wir haben, zum Teil damit verbunden, in genau diesen Regionen schlechte Ergebnisse im Schulsystem. Das kann zu einem sich selbst tragenden Prozess werden. Diese schlechten Ergebnisse im Schulsystem können dann den Kindern wieder den Eintritt ins Arbeitsleben erschweren, das Qualifikationsangebot in den Regionen wird schwächer, Ansiedlung von neuen Industrien gehen dann lieber in die besseren Regionen und so wird die Öffnung der Schere zwischen den Bundesländern größer, der Graben zwischen den Bundesländern wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt größer.

    Remme: Herr Klemm, wenn Sie frei wählen könnten, wo würden Sie Ihre Kinder in die Schule schicken?

    Klemm: Nun waren meine Kinder schon in der Schule und da sage ich jetzt einmal was ganz Ruppiges und auch wieder Trauriges: Kinder aus den gehobenen sozialen Schichten kommen überall gut klar!