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Platzeck: Grundgefühl der Zweitklassigkeit im Osten

Durak: Wieder gab es Massenproteste in Deutschland, Ost und West gegen Hartz IV gestern Nachmittag und am frühen Abend in über 90 Städten, bis zu hunderttausend Teilnehmer soll es gegeben haben. Für den Bundeskanzler ist die Sache trotzdem erledigt, er will nichts mehr ändern, wir haben das gehört. Was will der Ministerpräsident von Brandenburg Matthias Platzeck in Bezug auf Hartz IV? Schönen guten Morgen, Herr Platzeck.

Moderation: Elke Durak |
    Platzeck: Schönen guten Morgen, Frau Durak.

    Durak: Was also wollen Sie von und mit Hartz IV?

    Platzeck: Frau Durak, ich bin mir nicht mehr so sicher, ob es wirklich nur auch bei den Demonstrationen der letzten Tage, insbesondere gestern, ob es da wirklich nur um die Arbeitsmarktreform ging. Sie war mit Sicherheit der Anlass auch ein wichtiger Anlass, aber mehr mit dem Charakter, der Tropfen zu sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wenn man bei Hartz IV direkt bleibt sind ja wichtige Dinge, die die Seele zum Kochen gebracht haben, sind ja letzten Mittwoch durchaus behandelt und erfüllt worden, wenn ich an das Thema Kindersparbücher denke. Oder an dieses eigentlich unnötige Streitthema zwölf Monate und elf Zahlungstermine, was völlig klar war, dass man das nicht durchhalten kann und trotzdem auf die Tagesordnung gesetzt hat. Wir hätten jetzt noch, aber ich glaube, das kann man dann auch im Rahmen der Arbeit der Monitoringgruppe mit behandeln, das Thema gegenseitige Verrechenbarkeit zum Beispiel von Altersvorsorge und Vermögen, weil auch das viele Menschen sehr beschäftigt. Aber wenn ich gesagt habe, Fass zum überlaufen bringen, ich nehme wahr in unzähligen Gesprächen, die ja auch Wahlkampfzeiten so mit sich bringen, mit den Menschen, dass da viel mehr mitschwingt, dass da etwas ganz lang langsam entstanden ist über eine lange Zeit und sich jetzt Bahn bricht auch und mittels dieser Demonstrationen.

    Durak: Was ist denn das, was sich da entwickelt hat und nun Bahn bricht?

    Platzeck: Frau Durak, das ist so ein Grundgefühl, wenn ich es mal verkürze, so ein Grundgefühl der Zweitklassigkeit. Da ist ja schon öfter drüber geschrieben und geredet worden und es ist dann aber am Ende immer abgetan worden. Und man sagt, Mensch wir haben uns doch Mühe gegeben mit dem Osten und nun kriegt das mal hin. Wenn ich so die letzten Monate resümiere, dann ist es eigentlich nicht so rätselhaft, dass dieses Gefühl sich jetzt deutlicher artikuliert. Da war diese unselige Debatte, Sie erinnern sich, zum Aufbau Ost, natürlich unter der Überschrift, Aufbau Ost ist gescheitert, gipfelte dann in einem Titel vom Spiegel, 1.250 Milliarden sinnlos im Osten versenkt. Das hat ganz tief hier gesessen, weil das natürlich implizierte, dass die Menschen hier denken mussten, in Westdeutschland wird angenommen, wir sind weder flexibel, noch mobil, noch kreativ genug, wir kriegen es also einfach nicht hin. Man steckt Geld in ein Fass ohne Boden. Dann setzte dieses Ganze auf eine Arbeitslosigkeit auf, dieser stille Vorwurf, sage ich mal, obwohl, so still war er gar nicht, die nun mal flächendeckend seit vielen Jahren bei circa 20 Prozent liegt. Das muss man sich mal vorstellen. Ich höre immer wieder von westdeutschen Kollegen, ja wir kennen das auch, wir haben da in Gelsenkirchen und anderswo auch solche Gegenden. Hier ist es zwischen Rostock und sowieso, also im ganzen Osten. Jede Familie hat damit Erfahrung. Es gibt fast niemanden, der die Arbeitslosigkeit zumindest im engeren Familienkreis nicht kennen gelernt hat. Und trotzdem, trotz dieser schwierigen Bedingungen ist in diesen 14 Jahren eine unheimliche Aufbauleistungen vonstatten gegangen und dann muss man sich anhören, ihr habt es einfach nicht hinbekommen. Und dann kommen solche und es sind ja meistens so symbolhafte Handlungen, dann kommen solche Dinge oben drauf wie die Buschzulage. Also wo Mitarbeitern, wo Beamten in Westdeutschland gesagt wird, wenn ihr in den Osten für ein Jahr als Berater im Zusammenhang mit Hartz IV arbeiten geht, kriegt ihr auch noch auf euer Gehalt 5.000 Euro drauf. Schnelle Entscheidungshilfe hieß das wohl. Wo hier bei Zehntausenden, ja Hunderttausenden Arbeitslosen, die ja teilweise auch gut ausgebildet sind, dann gesagt wurde, es kann ja wohl alles nicht mehr wahr sein im doppelten Sinne, wir hätten diesen Beraterjob erstens gerne gehabt und zweitens muss man denn noch 5.000 Euro dazu kriegen, wenn man hier für ein gutes Gehalt arbeiten geht.

    Durak: Die Frage ist ja, Herr Platzeck, ob sie es auch besser gekonnt hätten. Aber könnte es nicht sein, dass sich nun wieder im Westen das Bild verstärkt, also ein Fass ohne Boden, Sie haben es genannt, erst haben Sie selbst ihren Staat in Grund und Boden geritten, dann müssen wir ihnen helfen, wir die Wessis und dann sind sie undankbar. Unser Geld nehmen sie, aber unsere Berater wollen sie nicht und Hartz IV soll ihnen helfen, aber das wollen sie nun auch wieder nicht. Also Jammerossis da und die desinteressierten Wessis dort.

    Platzeck: Wissen Sie, wenn man sich ein bisschen näher damit beschäftigt und vielleicht auch mal einfach herkommt und sich die Lage anguckt und sich auch die Menschen anschaut, sie beobachtet, wird man feststellen, dass mit dem Jammerossi ist wirklich weit gefehlt. Ich glaube, dass die Zahl Jammernder statistisch gesehen und relativ gesehen in Ost und West überhaupt nicht sich unterscheidet. Wir haben bei der Betrachtung, was hier passiert ist in den 14 Jahren, eins völlig ausgeblendet zumindest bei denen, die es aus größter Entfernung sehen. Dass nämlich hier nicht einfach weitergebaut werden konnte 1990, also nach dem Motto, jetzt macht mal schnell, baut noch ein Modul an, an das, was schon besteht und dann müsst ihr doch in zehn Jahren fertig sein. Sondern dass vorher Mitte der 90er Jahre eine Phase der fast vollkommenen Deindustrialisierung durchlaufen werden musste. Also wo dann, ich vergleiche das immer mit, wir haben mehrere Beispiele, aber ein klassisches Beispiel der optischen Industrie im Norden Brandenburgs, 6.000 Mitarbeiter bis zur Wende und danach fast niemand mehr, 200. Und jetzt mühsam wieder aufgebaut in den letzten Jahren bis zu 1.500 Leuten. Die Phase, die dazwischen lag, die wird ausgeblendet und die muss man aber im Kopf haben, wenn man die Leistung einschätzen will, die hier vollbracht wurde. Und dann gibt es ja glücklicherweise neuerdings ein paar statistische Daten, die da sagen, dass zum Beispiel im Lande Brandenburg von der Jahresarbeitsstundenzahl am längsten in der Bundesrepublik gearbeitet wird und die Wege zur Arbeit im Osten am längsten sind. Also wer da subkutan unterstellen will, die sind nicht flexibel und mobil genug, das stimmt eben einfach nicht. Es wird nicht gejammert sondern getan. Aber trotzdem fehlt für 20 Prozent der Menschen die Arbeit und man muss auch sagen, und das ist eben das, was ich meine, was sich hier Bahn bricht. Man hat das Gefühl, durch diese Art der Berichterstattung auch dadurch, dass man sich von der Bundesregierung nicht hinreichend angenommen fühlt, dass man irgendwo nicht mehr vorkommt.

    Durak: Teilen Sie denn das Gefühl, Herr Platzeck?

    Platzeck: Also ich kann es überhaupt nicht wegwischen, weil es hat ja, ich habe ja Ihnen ein paar Fakten vorhin gesagt, es hat ja auch Gründe. Und wenn man sich in einem der größten Magazine Deutschlands auf die Art als ganzer Landstrich, wenn man auf diese Art behandelt wird, dann ist es ja nicht nur eine sphärische Sache, sondern dann ist es eine handfeste. Und wenn man wiederum von westdeutschen Kollegen und das nicht selten und in zunehmender Frequenz und in zunehmender Deutlichkeit hört, eigentlich fallt ihr ganz schön lästig. Dann muss man doch auch mal, wen man die Füße auf dem Boden halten will, ich habe das dem Kollegen Stoiber auch neulich gesagt, immerhin bemerken dürfen, dass ein Land wie Bayern, heute geprägt durch Laptop und Lederhose, wie sie selber sagen, für den Laptop 35 Jahre gebraucht haben, damit er zur Lederhose dazukam. Solange hängen sie am Länderfinanzausgleich, das darf man ja nicht ausblenden, wenn man hier nach zehn, zwölf Jahren schon sagt, jetzt müsstet ihr aber auf eigenen Füssen stehen.

    Durak: Herr Platzeck, Klagen allein genügt ja nicht. Nun haben Sie die Landtagswahlen vor der Tür und kämpfen um den ersten Platz gegen die PDS, der die Leute zulaufen, weil die PDS sich an die Spitze der Bewegung sozusagen setzt und die Protestierer anführt. Wie aber können Sie sich bei der SPD, beim Bundeskanzler durchsetzen, um für den Osten, mal wieder mit Bezug auf Hartz IV, etwas durchzusetzen, was die Stimmung verändern könnte?

    Platzeck: Also Sie werden hier im Moment nichts hinkriegen, was auf, sage ich mal, explosionsartige Art von heute auf morgen die Stimmung verändert. Aber wir haben in den letzten Wochen mit intensiver Arbeit immerhin solche Regelungen, im Nachhinein allerdings, leider muss ich auch sagen im Nachhinein, das hätten wir auch vorher haben können und weniger Aufregung dadurch im Lande gehabt. Zum Beispiel die Regelung mit den 15 Prozent, also die Regionen, wo mehr als 15 Prozent Arbeitslosigkeit sind, dass dort Sonderunterstützung gegeben wird. Darum haben wir lange kämpfen müssen, hätte man es früher gemacht, wäre es etwas entspannter gewesen. Oder die vorhin schon genannten Dinge, mit den zwölf Zahlungstermine, den Kindersparbüchern oder auch der Einrichtung der Monitoringgruppe. Das sind ja schon Sachen, wo wir in den letzten Wochen erhebliche Schritte vorwärts gekommen sind, allerdings auf eine sehr sehr mühsame Art und auf eine Art, die die Stimmung natürlich nicht entspannt und nicht verbessert hat hier.

    Durak: Was haben Sie gemeint, abschließend gefragt, als Sie andeuteten, der Osten könnte ins Rutschen geraten? Wohin rutscht er denn, wenn Wessis dann nicht sagen, rutscht mir doch den Buckel runter?

    Platzeck: Also mir geht es drum und das nach wie vor und das seit 1990, dass wir ein Land sind, dass wir eine Bundesrepublik sind, ein Deutschland, weil wir haben schwierige Zeiten vor uns, es wird ja nicht leichter, sondern die nächsten Jahre werden so schwierig bleiben wie die vergangenen zwei, drei waren. Und wir werden uns gegenseitig auch brauchen und wer denkt, dass eine gute Entwicklung Deutschlands möglich ist, machbar ist, ohne, dass man, ich sage mal, den Osten berücksichtigt oder dass man sagt, Kinder was ihr da macht, interessiert uns nicht. Der täuscht sich. Es entscheidet sich eine ganze Menge gesamtdeutsches Schicksal auch daran, wie und ob es hier im Osten vorangeht und da geht es auch, nicht nur selbstverständlich, auch um Stimmung des Angenommenseins, des Aufgenommenseins, des Mitgenommenseins und die ist im Eimer und darum müssen wir uns auch kümmern. Und es ist nicht nur, sage ich, eine Frage des Geldes, es geht dabei auch um andere Dinge.

    Durak: Wohin rutscht der Osten?

    Platzeck: Stimmungsmäßig raus aus Deutschland und aus, wenn Sie die Umfragen sehen, und das macht mir am meisten Sorgen, die Demokratie, als unsere Gesellschaftsordnung, verliert und zwar gravierend an Zustimmung. Und das halte ich für einen unheimlich ernsten Zustand.

    Durak: Matthias Platzeck, Ministerpräsident von Brandenburg, SPD. Herzlichen Dank, Herr Platzeck, für das Interview.

    Platzeck: Danke Ihnen auch. Tschüß.