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"Plötzlich arm, plötzlich reich" wird abgesetzt
Produktionsbedingungen bei Sat.1-Reality "kein Einzelfall"

Nach der Kritik an Produktionsbedingungen der Realitysendung "Plötzlich arm, plötzlich reich" hat Sat.1 das Format abgesetzt. Für den Journalisten und Fensehexperten Thomas Lückerath ist der Skandal kein Einzelfall. Viele Teilnehmer würden sich nur nicht trauen, Missstände öffentlich zu machen.

Thomas Lückerat im Gespräch mit Brigitte Baetz |
Ein Mikrofon des privaten Fernsehsenders SAT.1 steckt am 29.09.2016 in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) in der Hosentasche eines Reporters.
"Die Aufarbeitung des letzten Drehs von 'Plötzlich arm, plötzlich reich' läuft noch", heißt es seitens Sat.1 (picture alliance / dpa | Rolf Vennenbernd)
Die Debatte begann mit einem Video des Sängers Ikke Hüftgold, bürgerlich Matthias Distel: Bei Instagram hat er ein gut 18 Minuten langes Statement hochgeladen, das innerhalb einer Woche über sieben Milionen mal aufegrufen und rund 22.000 mal kommentiert wurde. Dort kritisiert Distel Sat.1 und die vom TV-Sender beauftrage Produktionsfirma ImagoTV GmbH für eine "gewissenlose Quotenjagd auf dem Rücken missbrauchter Kinder" beim Reality-Format "Plötzlich arm, plötzlich reich". Distel hatte an dem Format teilgenommen und wirft den Produzenten vor, wissentlich mit traumatisierten und schwer misshandelten Kindern zu drehen.
Auf das Video folgte ein Shitstorm und schließlich die Reaktion von Sat.1: Der Sender hat angekündigt, das kritisierte Format "mit sofortiger Wirkung" abzusetzen. Auch bereits gedrehte Folgen von "Plötzlich arm, plötzlich reich" werde man nicht mehr ausstrahlen, teilte der Sender auf Twitter mit. Die Aufarbeitung des letzten Drehs laufe noch.

"Kein Einzelfall"

Für den Chef des Mediendienstes DWDL, Thomas Lückerath, ist der Skandal um "Plötzlich arm, plötzlich reich" kein Einzelfall. Mit dem Teilnehmer Matthias Distel habe ein Prominenter, der es "sich hat leisten können, gegen Vertragsstrafen zu verstoßen und das Risiko aufzunehmen", die Stimme erhoben. Viele andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer ähnlicher Formate schreckten die Vertragsstrafen ab.
Man könne davon ausgehen, "dass die Produktionsfirma wusste, auf was man sich da einlässt, das eben auch in Kauf genommen hat für diese Folge", so Lückerath. Für Sat.1 gelte das nicht unbedingt. Sender seien in der Regel nicht bis ins Detail informiert, was vor Ort bei Dreharbeiten von Produktionsfirmen passiere. Sat.1 müsse dies aber nun aufarbeiten.

"Renaissance der klassischen Unterhaltung"

Für generell grenzüberschreitend und voyeuristisch hält der Fernsehexperte Reality-Formate aber nicht. Teilweise würden einfach prekäre Lebensverhältnisse gezeigt, die so existierten. Die Produktionsbedingungen aber müsse man kritisieren: "Entschiedend ist die Frage: Sind alle Beteiligten sich dessen bewusst, an was sie da teilnehmen? Und das ist sicherlich vernachlässigt worden in den vergangenen Jahren. Da hat man sozusagen Verträge vorgelegt, wo vielleicht auch der eine oder andere Teilnehmer als Teilnehmerin gar nicht verstanden hat, was da unterschrieben wird."
Insgesamt aber brauche es mehr Unterhaltung, "die Menschen zusammenbringt und nicht unbedingt spaltet". Hier erwartet der DWDL-Chef sogar eine "Renaissance der klassischen Unterhaltung, die auf das Benutzen von Menschen verzichtet und einfach wieder das wohlige Gefühl im Wohnzimmer vermitteln kann".
Sat.1-Logo auf einer LED-Wand.
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Das Interview in voller Länge:

Brigitte Baetz: Warum brauchte es eigentlich jemanden wie Matthias Diestel, um die Zustände bei diesem Format öffentlich zu machen?
Thomas Lückerath: Eine sehr gute Frage. Ich glaube, dass in dem Fall sich jemand es hat leisten können, gegen Vertragsstrafen zu verstoßen und das Risiko aufgenommen hat, zu sagen: Ich muss hier mal etwas öffentlich machen. Auch wenn ich möglicherweise dafür belangt werde, kann ich mir zwar nicht vorstellen, dass sich sozusagen Sat.1 und die Produktionsfirma diese Blöße noch geben wollen.
Aber das hat, glaube ich, ganz oft über viele Jahre hinweg Teilnehmerinnen und Teilnehmer von solchen Formaten davon abgehalten, vielleicht ähnliches mal zu berichten. Denn eins ist klar: Ikke Hüftgold ist jetzt ein prominentes Beispiel, wie in diesem Genre gearbeitet wird, aber sicherlich nicht ein Einzelfall.

"Der Sender ist in der Regel nicht bis ins Detail informiert"

Baetz: Wie hoch sind die Vertragsstrafen? Weiß man, dass?
Lückerath: Nein. Die Höhe der Vertragsstrafen ist nicht bekannt. Aber man muss davon ausgehen, es sind ja normalerweise Privatleute, die da teilnehmen, und für die sind auch schon kleinere Beträge eine große Hürde, gerade wenn es um Familien in sozialen Brennpunkten gibt, so dass da oft mit gemacht wurde und versucht wurde, nicht gegen solche Sachen zu verstoßen.
Baetz: Nun hat sich Sat.1 Jahr relativ lange geziert, Konsequenzen zu ziehen. Warum hat das so lange gedauert?
Lückerath: Ich glaube, die entscheidende Frage, die es zu klären galt, war ja: Was ist vor Ort passiert? Der Sender ist in der Regel nicht bis ins Detail informiert, was vor Ort bei einem Dreh einer Folge eines Formates passiert. Die entscheidende Frage ist ja: Wusste die Produktionsfirma von den Umständen? Hat sie das in Kauf genommen? Hat sie das sogar für gut gefunden? Oder ist man leichtgläubig an die Sache herangegangen?
Und es hat sich über die Tage so ein bisschen entwickelt. Erst hieß es, die Produktionsfirma sei völlig überrascht worden von den Vorfällen vor Ort, dann sind noch mal neue Beweise aufgetaucht, wonach man eher zum Schuss kommen kann, dass die Produktionsfirma wusste, auf was man sich da einlässt, das eben auch in Kauf genommen hat für diese Folge. Und da hat sich dann die Situation so dargestellt, dass über die anhaltende Debatte das Format einfach nicht mehr tragbar war.

"Nicht jedes Reality-Format ist gleich voyeuristisch"

Baetz: Nun leben ja solche Formate wie "Plötzlich arm, plötzlich reich" oder auch "Frauentausch" davon, ihre Protagonisten vorzuführen. Das kennen wir ja schon seit Jahren. Aber ich frage mich, ist das denn überhaupt noch zeitgemäß? Wo ja jetzt auch schon ein Dieter Bohlen nicht mehr vors Mikrofon soll?
Lückerath: Also ich würde zumindest eine Sache zurückweisen: Ich glaube nicht, dass dieses Formaten ist, grundsätzlich darum geht, Menschen vorzuführen. Ich glaube, dass wir uns auch ein klein bisschen davon freimachen müssen von der Arroganz von Großstädtern, auch aus einem gutbürgerlichen Milieu, die am liebsten sozusagen einen Großteil der deutschen Bevölkerung nicht im deutschen Fernsehen sehen wollen würden.
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Es gibt natürlich solche prekären Lebensverhältnisse, deswegen ist nicht jedes Format, was sich dem widmet, automatisch gleich voyeuristisch oder führt Menschen vor. Ich glaube, es geht eher um die Frage: Sind alle Beteiligten sich dessen bewusst, an was sie da teilnehmen? Und das ist sicherlich vernachlässigt worden in den vergangenen Jahren. Da hat man sozusagen Verträge vorgelegt, wo vielleicht auch der eine oder andere Teilnehmer oder Teilnehmerin gar nicht verstanden hat, was da unterschrieben wird. Und dann wird es natürlich grenzwertig. Das ist sozusagen die eigentliche Skandalisierung dieses Genres. Nicht die Tatsache, dass man grundsätzlich auf sozial schwache Familien schaut.

Sat.1 hat sich "im Kopieren von anderen Erfolgen verrannt"

Baetz: Nun hatte ich Sat.1 immer als Familiensender abgespeichert. Ist das immer noch so, dass Sat.1 ein Familiensender ist? Oder positioniert sich Sat.1 jetzt auch neu, wie wir es ja auch von ProSieben und von RTL kennen, dass die Letzteren versuchen, ja eher seriöser zu werden.
Lückerath: Sat.1 war berühmterweise immer der Kuschelsender, hat sich selbst früher so bezeichnet, in der Tat also der familienfreundlich Sender, das familienfreundliche Vollprogramm.
Man wollte in den letzten Jahren erklärtermaßen lauter werden, weil man gemerkt hat, dass auch RTL mit manchen Reality- Formaten sehr erfolgreich gewesen ist. Und Sat.1 wollte sozusagen ein Stückchen abhaben von dem Kuchen und ist lauter geworden mit Programmfarben, wie "Promi Big Brother" und "Promis unter Palmen", auch das ja ein Format, was zuletzt für Negativschlagzeilen gesorgt hat. Man hat sich da so ein bisschen im Kopieren von anderen Erfolgen verrannt und hat beim Lauterwerden eindeutig überdreht.
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"Es gibt eine Renaissance der klassischen Unterhaltung"

Baetz: Das heißt was wäre Ihr Rat an Sat.1 in Zukunft? Ich
Lückerath: Ich glaube, wir tun alle gut daran, wieder ein bisschen nach Unterhaltung zu suchen, die Menschen zusammenbringt und nicht unbedingt spaltet. Familienunterhaltung, das hatte in den letzten Jahren immer so ein klein bisschen negativen Beigeschmack. Alles, was "edgy" war, alles, was nischig war, wurde gefeiert.
Aber ich glaube, dass es eine Qualität von Fernsehen sein kann, dass sich Generationen und Millionen von Menschen gemeinsam auf ein Unterhaltungsprogramm einigen. Das sind nicht mehr so viele, wie es vielleicht einmal waren. Ich will die Zeit nicht zurückdrehen. Aber ich glaube, es gibt eine Renaissance der klassischen Unterhaltung, die eben auf das Benutzen von Menschen verzichtet und einfach wieder das wohlige Gefühl im Wohnzimmer vermitteln kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.