Dienstag, 14. Mai 2024

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Poesie gegen den Fundamentalismus

Er ist kein Fremder. Tiefer denn seine reichen keine Wurzeln

Von Stefan Fuchs | 20.01.2005
    auf jenem Marktplatz, kein Auge ist näher an der Heimat.
    Er gehört zum Markt-Café zum Inventar, Schlückchen für
    Schlückchen trinkt er die süße Tasse Minze,
    nicht achtend
    die bittere, die ihm serviert würde vom düsteren
    Kellner auf der Pirsch, einem Jungen Mann, gefüttert
    mit Träumen – Sarabanden von Huris, rehäugige
    Pardiesjungfrauen, Wein und Leckereien im Leben danach.
    Der Schlüssel zu diesem Paradies – der eintauchende Dolch.

    Am 14. Oktober 1994 begibt sich der ägyptische Literaturnobelpreisträger Naguib Mahfouz zum allwöchentlichen Treffen mit Freunden und Bewunderern in ein Kaffeehaus am Nilufer. Da stürzt sich ein islamistischer Attentäter auf den Dichter und fügt ihm mit einem Dolch tiefe Stichwunden am Hals zu. Nur durch eine Notoperation kann der über Achtzigjährige gerettet werden. Wole Soyinka hat dem blinden Mahfouz das lange Titelgedicht des Bandes "Samarkand und andere Märkte" gewidmet. Dahinter steht sehr viel mehr als Solidarität mit einem Dichterkollegen, der wie Soyinka selbst Verfolgungen ausgesetzt ist. Wole Soyinka hat eine monströse Degeneration, eine unkontrollierbare Wucherung des Religiösen ausgemacht, die den Beginn des neuen Jahrhunderts verdüstert. Noch hermetischer gegen die Wirklichkeit abgedichtet als die totalitäre Ideologie des Kommunismus, ähnlich mächtig und allgegenwärtig wie das Gespenst des Rassismus, das den schwarzen Kontinent so lange heimsuchte, ist ein neuer religiöser Fanatismus zur Geißel der Weltgesellschaft geworden. Und es ist nicht allein der Islam, der von dieser krankhaften Wucherung befallen wurde. Soyinka evoziert die Bilder protestantischer Heckenschützen, die vor Abtreibungskliniken in den USA Ärzte und Patientinnen töten, jüdische Orthodoxe, die in Haifa oder Tel Aviv am Sabbat Autofahrer steinigen, hinduistische Fundamentalisten, die im Dezember 1992 die Babri Masjid-Moschee im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh bis auf die Grundmauern zerstören, weil sie angeblich am Geburtsort des Hindugottes Rama erbaut worden war.

    Ein Gott ist nirgendwo geboren und doch überall.
    Ramas Jünger aber lehnen diese feine Unterscheidung ab.
    Sie legen eine Moschee in Trümmer, Stein für Stein,
    verfluchen den Usurpator von Ramas entschwundener Stelle
    erträumter Epiphanie. Nun usurpiert ein Steinhaufen
    einen Traum von Frieden – können sie Frieden träumen
    im bildnerstürmischen Utar Pradesch?


    Gegen diese schreckliche Nachgeburt der großen Weltreligionen stellt Soyinka den Universalismus der menschlichen Natur und die pantheistischen Züge der Yoruba-Götter, denen jede Ausgrenzung fremd ist. Die Yoruba sehen die Welt als Markt. Am Ende verstummt sein buntes Treiben und die Menschen finden ihre Heimat im Jenseits der Geister. Für Soyinka ist der traditionelle Markt, wie er in Lagos oder Kairo aber auch in Londons Portobello Road noch immer angetroffen werden kann, der Inbegriff einer friedlichen Koexistenz der Kulturen. Im Feilschen, im Verkaufen und Kaufen der tausendfältigen Waren, der vielfarbigen Gewürze und Früchte, des patinabesetzten Trödels, der vergilbten Bücher geschieht eine friedliche Aneignung des Fremden, eine Vereinigung der Menschheit in einem überschwänglichen und glücklichen Kosmopolitismus. Das ist Soyinkas unerschütterliches Kredo.

    Lasst uns wetteifern. Lasst hunderttausend Blumen
    Ihren exotischen Wohlgeruch verströmen und eine Million
    Sterne den Himmel durchduften, bis der Kinderschrei
    der Wahrheit widerhallt auf dem Marktplatz des Herzens
    und kriegerischer Glaube sich verschwistert
    in einem einzigen unermesslichen Dasein.


    Die Gefährdung der multikulturellen Weltgesellschaft durch den politischen Missbrauch der Religion steht in diesen Texten gleichberechtigt neben den Höllengemälden der Diktatur, wie sie Sani Abacha, der Frankenstein von Lagos, verkörperte. Der plötzliche von Vergiftungsgerüchten umrankte Tod dieses Tyrannen und des von ihm eingekerkerten legitimen nigerianischen Präsidenten Abiola erinnert an ein Renaissance-Melodram im Stil der Borgias. Auf der anderen Seite stehen jene, die sich der Gerechtigkeit verschrieben haben, die ihrem Sirenengesang verfallen sind, wie Wole Soyinka selbst. Der vom Sowjet-Regime in Arbeitslager und Exil getriebene Dichter Joseph Brodsky, Ken Saro-Wiva, der sein Engagement für die Bewohner des vom Shell-Konzern verwüsteten Niger-Deltas mit dem Leben bezahlte, Christopher Okigbo, der sein Leben in den Wirren des Biafra-Krieges verlor, die Ibo-Frauen im Südwesten Nigerias, die 1929 gegen die blutige Unterdrückung der britischen Kolonialverwaltung rebellierten. In der Gestalt einer Obdachlosen, die in die geschlossene Business-Gesellschaft eines Londoner Schickeria-Lokals eindringt, geißelt Soyinka die neoliberale Teilung der Gesellschaft in eine reiche bis zum Exzess blasierte Minderheit und den leidenden aber immerhin zu Empfindungen fähigen Rest der Menschheit.

    Es war ein Tag belangloser Nachrichten,
    die Welt war ruhig, die Welt war trübe.
    Ich hatte ein großes Bedürfnis nach einer Erde, auf der es
    noch Menschen gab, die lebten, liebten und starben, aßen
    und sich erleichterten, ihre Beine um den Tischfuß legten.


    Mit ihren rhetorischen Schnörkeln, ihrer Vorliebe für gelehrtes, gesuchtes Vokabular und hoch artifizielle Bilder wirkt Soyinkas Lyrik gelegentlich fatal viktorianisch, manchmal überfrachtet. Aber es gibt auch Stellen, da erreicht sie leichtfüßig die poetische Durchschlagskraft eines Pablo Neruda. So erinnert die seiner Heimat Nigeria gewidmete "Elegie für eine Nation" an Nerudas "Canto General". Die Präzision der Bilder wird hier von einer großen epischen Geste vorangetrieben, die Geschichte und Natur, Politik und Götterwelt dieses unglücklichen Landes zu einem großformatigen Gemälde verflicht.

    Es gab eine Zeit, da schweifte unser Blick gottgleich
    und sah, es war gut, von Lagos bis zum Tschadsee.
    Die Gespenster der Eindringlinge würden wir austreiben,
    ohne dabei das Kind mit dem Bade auszuschütten - aber
    auf den Thron heben die Unsrigen als unsere

    - Schade um die verlorenen Idyllen. Wie Levi’s an Jung und Alt
    sind die Träume ausgeblichen, zerwetzt an den Nähten
    Selbst das Saatgut ist längst aufgefressen. Leere Hände
    kratzen beim Pflanzen im Jahrtausendboden.


    Wole Soyinkas Texte sind der Schrecken Nigerianischer Schulkinder, für die sie längst zur Pflichtlektüre geworden sind. Nur mühsam bahnt sich der Leser einen Pfad des Verständnisses durch das Dickicht der Anspielungen, Zitate, Eigennamen, durch die kunstvollen Verschlingungen seiner Satzkonstruktionen. Schließlich ist der Poeta Doctus auch praktizierender Professor der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Umso unverständlicher ist es allerdings, dass der Verlag den deutschen Leser mit diesen Herausforderungen so mutterseelenallein lässt. Händeringend sucht man nach Anmerkungen. Wer kennt schon die Geschichte der afrikanischen Königreiche, der zahllosen Aufstände gegen die Kolonialherren, der Abacha-Diktatur oder die emblematischen Figuren der Yoruba-Götterwelt. Und auch die Übersetzung durch Klaus Laub ist auf halbem Weg stehen geblieben. Uninspiriert und nicht selten fehlerhaft ist sie an der zugegebenermaßen schwierigen Aufgabe gescheitert, Soyinkas Lyrik hierzulande zugänglicher zu machen. Ein bisschen mehr editorische Sorgfalt hätte der Nobelpreisträger wohl verdient.

    Der Gedichtband "Samarkand und andere Märkte” ist zweisprachig - Englisch und Deutsch - im Amman Verlag erschienen. 152 Seiten kosten 18,90 Euro.