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Polen soll 2002 in die EU

Müller: Der Beitritt zur Europäischen Union stand freilich im Vordergrund der Gespräche von Gerhard Schröder gestern in Warschau. Auf einen konkreten Termin wollte sich der Bundeskanzler allerdings nicht festlegen. Am Telefon bin ich nun verbunden mit dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Günter Verheugen. Guten Morgen!

    Verheugen: Guten Morgen!

    Müller: Herr Verheugen, keine konkrete Festlegung, kein genaues Datum, weil man in Bonn pessimistisch ist?

    Verheugen: Nein, überhaupt nicht. Weil die Festlegung eines Termines überhaupt gar nicht möglich ist. Die polnische Seite kann natürlich sagen, bis wann sie gerne Mitglied der Europäischen Union sein kann. Dafür haben wir alle Verständnis. Man muß auch alles tun, um den Polen zu helfen, daß sie dieses Ziel erreichen. Wir können aber nicht sagen, bis dann und dann kann das geschehen, weil die Aufnahme Polens und der anderen Kandidaten für den Beitritt zur Europäischen Union doch abhängig ist vom Ergebnis eines Prozesses, eines Beitrittsprozesses. Die Schwierigkeiten, die auf dem Weg dorthin noch auftreten können, die kennen wir zum Teil überhaupt noch nicht, und es wäre ganz unklug, sich unter einen Zeitdruck zu setzen und am Ende vielleicht erkennen zu müssen, daß man sein Ziel überhaupt nicht erreichen kann. Wir wollen es so schnell machen wie möglich und so gründlich wie nötig.

    Müller: Würden Sie einen qualitativen oder sagen wir perspektivischen Unterschied machen zwischen den potenziellen Beitrittskandidaten? Wer ist schneller dabei, wer braucht länger?

    Verheugen: Auch das ist heute noch viel zu früh zu sagen. Der Prozeß ist ja so angelegt, daß die einzelnen Kandidaten von Zeit zu Zeit Screening-Verfahren auf ihre Fortschritte hin auf Herz und Nieren geprüft werden. Darüber gibt es dann einen Bericht, und dort kann man das sehen. So weit sind wir aber noch gar nicht. Die Verhandlungen fangen nächste Woche Dienstag in Brüssel überhaupt erst an.

    Müller: Aber in Brüssel hat man doch große Zweifel daran, daß Polen diesen Zeitplan 2002, 2003 einhalten kann. 40 Millionen Polen, also ein großes Land mit einem sehr hohen Anteil an Agrarproduktion, Probleme, die wesentlich gravierender sein sollen als in Tschechien oder in Ungarn?

    Verheugen: Ich sehe keinen Sinn darin, einen Zeitplan, den die Kommission und der Rat noch nicht einmal hat, zu bezweifeln. Die Lage ist so: Polen hat eine bestimmte Vorstellung davon, wann es glaubt, die Bedingungen für den EU-Beitritt erfüllt zu haben. Der Bundeskanzler hat dazu in Warschau gesagt, wenn ihr das schafft, wunderbar; dann müssen wir sehen, daß dann auch die Europäische Union zu diesem Zeitpunkt erweiterungsfähig ist. Das ist unser Teil der Aufgabe.

    Müller: Ein weiteres Thema, was eine Rolle gespielt hat auch im Zusammenhang freilich mit dem Beitritt, ist die mögliche Immigration von polnischen Arbeitern nach einer vollen EU-Mitgliedschaft. Wie kann sich dort die Bundesregierung festlegen beziehungsweise konzeptionell in Warschau einbringen?

    Verheugen: Das ist eine Position, die die Polen ja schon lange kennen und die im übrigen nicht eine rein deutsche Position ist. Der Grundgedanke ist der: Wir können die Osterweiterung der Europäischen Union nicht vollziehen und wir werden auch keine Zustimmung bei den Menschen in den europäischen Ländern dafür finden, wenn die Menschen das Gefühl haben müssen, diese Osterweiterung ist mit einer Gefährdung ihrer Arbeitsplätze verbunden. Darum muß sicher sein, daß zum Zeitpunkt der Osterweiterung nicht durch die Freizügigkeitsregelung eine solche Gefährdung eintritt. Das muß ja auch nicht unbedingt der Fall sein. Wir haben ja beim Beispiel Spanien und Portugal seinerzeit erlebt, daß der Beitritt zur Europäischen Union die Wanderungsbewegung aus diesen Ländern nach Deutschland gestoppt hat. Es hat sogar einen Trend zurück gegeben. Das kann im Falle Polen ja auch passieren. Das hängt ganz von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Das Prinzip heißt aber: Beim Zeitpunkt des Beitritts muß entweder durch Übergangsfristen oder aber durch die bis dann bereits erreichte wirtschaftliche Entwicklung sichergestellt sein, daß es nicht zu einer für unser gesellschaftliches Gefüge nicht erträglichen Wettbewerbssituation für unsere Arbeitsplätze kommt.

    Müller: Wie könnten solche Übergangsfristen denn aussehen, mit welcher Laufzeit und unter welchen Bedingungen?

    Verheugen: Beides kann man heute nicht sagen. Ob man überhaupt eine Laufzeit braucht, läßt sich heute noch nicht sagen, sondern das hängt ganz von dem zum Zeitpunkt des Beitritts erreichten wirtschaftlichen und sozialen Niveau in Polen ab. Natürlich spielt auch das bei uns erreichte Niveau der Arbeitslosigkeit, das nach meiner festen Überzeugung dann sehr viel niedriger sein wird als heute, eine Rolle.

    Müller: Hatten Sie gestern bei den Gesprächen in Warschau das Gefühl, daß das Thema Vertriebenenverbände nach wie vor die Beziehungen zwischen Bonn und Warschau belastet?

    Verheugen: Nein, es ist keine Belastung mehr. Einer unserer Gesprächspartner hat gestern gesagt, solange eine SPD-geführte Regierung im Bonn am Ruder ist, brauchen wir wegen dieses Themas keine Angst zu haben. Es ist aber in allen Gesprächen in Frage gestellt worden, und man muß deutlich sagen, daß durch diese Resolution des Bundestages im Frühsommer dieses Jahres und durch die Haltung der Vertriebenenverbände ein verhehrender Flurschaden in Polen angerichtet worden ist. Der Bundeskanzler hat das deshalb auch noch einmal ganz klargestellt: Die Bundesregierung übernimmt solche Forderungen nicht. Wir werden den Beitritt Polens zur Europäischen Union nicht mit solchen Forderungen belasten.

    Müller: Es gibt auch in Polen immer wieder die Forderung nach weiteren individuellen Entschädigungen von polnischen Zwangsarbeitern. Ist man dort einen Schritt weitergekommen?

    Verheugen: Das hat in den Gesprächen gestern keine Rolle gespielt.

    Müller: Hat keine Rolle gespielt, steht aber nach wie vor auf der Agenda der deutsch-polnischen Beziehungen?

    Verheugen: Ich sage ja, die polnische Seite hat es nicht angesprochen.

    Müller: Günter Verheugen war das, Staatsminister im Auswärtigen Amt. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören nach Bonn!