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"Polen und Deutschland können sicherlich einen Mehrwert in Europa schaffen"

Heute vor 20 Jahren wurde der deutsch-polnische Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Man sei heute in einer Phase der gereiften Partnerschaft, sagt Marek Prawda - wenn auch teilweise das Verhältnis getrübt sei durch "familiär überlieferte Ressentiments oder Denkmuster von gestern".

17.06.2011
    Christoph Heinemann: So wie in Europa jede Stadt und Region mit historischen Ereignissen verknüpft ist, so verhält es sich auch mit den Tagen im Kalender. Für die Bürger hierzulande ist der 17. Juni einerseits der Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR von 1953, darüber sprechen wir gegen 8:20 Uhr mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz. Die Freiheitsbewegung wurde von der Sowjetunion und ihren Stadthaltern in Ost-Berlin mit Gewalt erstickt, damals klappte das noch.
    Mit dem 17. Juni verbinden sich aber auch hoffnungsvolle Erinnerungen. 1991 schlossen Polen und Deutsche einen Freundschaftsvertrag und schrieben darin die Grenzen fest. Damals sagten Helmut Kohl und sein polnischer Amtskollege Jan Krzysztof Bielecki:

    O-Ton Helmut Kohl: Das deutsch-polnische Vertragswerk wird von einigen meiner Landsleute nicht leichten Herzens angenommen. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die infolge des Krieges ihre Heimat jenseits von Oder und Neiße verloren haben. Und wir hören auch aus Polen zögernde Stimmen. Gerade an diese Deutschen und an diese Polen geht heute auch mein Appell zur Aussöhnung.

    O-Ton Jan Krzysztof Bielecki: Wohl nie zuvor in der langen Geschichte der deutsch-polnischen Nachbarschaft waren die Polen und die Deutschen einander so nahe und haben mit solcher Hoffnung in die Zukunft geschaut. Das ergibt sich sowohl aus den gemeinsamen Werten, als auch aus der tiefen Überzeugung, dass ohne gute deutsch-polnische Nachbarschaft, ohne eine gut verstandene Interessengemeinschaft der Polen und der Deutschen an ein vereintes Europa schwer zu denken ist.
    Heinemann: Heute wird der polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski die Berliner Rede halten, mittlerweile eine Tradition in der Hauptstadt – wir erinnern uns an Roman Herzogs Ruck-Aufruf. Zum Jahrestag haben sich beide Seiten nach monatelangen Verhandlungen auf verbesserte Regelungen für die jeweiligen Minderheiten geeinigt. Unterdessen fordert der CSU-Politiker Johannes Singhammer Polen auf, Ausländern umgehend den Kauf von landwirtschaftlichen Flächen und Ländereien zu ermöglichen. Bei seinem EU-Beitritt im Jahr 2004 hatte Polen hierfür eine zwölf Jahre lange Sperrfrist ausgehandelt.
    Vor dieser Sendung haben wir mit Dr. Marek Prawda gesprochen. Ich habe den Botschafter der Republik Polen in Deutschland gefragt, ob die zähen Verhandlungen über diese neuen Minderheitsregelungen symbolisch für das gegenwärtige Verhältnis zu werten sind.

    Marek Prawda: Ich glaube nicht. Ich glaube, dass wir seit einigen Jahren eine Phase einer gereiften Partnerschaft eingetreten sind. Wir haben einen Raum zwischen uns, den wir jetzt selbst gestalten können, und unsere Beziehungen gewinnen jetzt mehr Züge einer Partnerschaft. Wir werden jetzt nicht mehr, glaube ich, die Welt begeistern, wenn wir sagen, dass wir uns irgendwie vertragen, sondern wir haben eine gemeinsame Verpflichtung bei aller Diskrepanz, etwas dem Rest in Europa zu offerieren. Polen und Deutschland können sicherlich einen Mehrwert in Europa schaffen.

    Heinemann: Bevor man sich verträgt, muss man sich verstehen. Der frühere polnische Innenminister Kalik hat gesagt, er wünsche sich, dass die Deutschen Polen so gut kennen wie den Ballermann auf Mallorca. Also das wünschen wir ihnen nicht, jedenfalls nicht im Ballermann-Format. Dennoch die Frage: Mit wie viel Unkenntnis oder Vorurteilen ist das Verhältnis auf beiden Seiten noch belastet?

    Prawda: Ich glaube, dass wir aufeinander etwas neugieriger sein müssen. Gerade gestern wurden die neuen Umfragen veröffentlicht über das Bild der Deutschen und der Polen, und das Bild ist etwas besser als vor 20 Jahren. Es ist eine erfreuliche Nachricht. Dennoch wissen zum Beispiel die Deutschen sehr wenig über die wirtschaftliche Entwicklung in Polen, über die Finanzpolitik, und das ist etwas, worauf wir im Moment Wert legen, weil sich das neue Polen dadurch definiert. Deshalb glaube ich, dass es zu häufig noch vorkommt, dass die breite Öffentlichkeit über den Nachbarn zu wenig erfährt, dass man sich für die alten Bilder interessiert, dass die familiär überlieferten Ressentiments oder Denkmuster von gestern, dass die immer noch eine große Rolle spielen, und das müssen wir ändern. Ich glaube, dass wir etwas immuner sein müssen.

    Heinemann: Wie wichtig, Herr Botschafter, sind dabei, bei diesem Prozess, Persönlichkeiten wie Lukas Podolski, Miroslav Klose oder der in Polen lebende deutsche Kabarettist Steffen Möller, der ja das Buch "Viva Polonia" geschrieben hat, für eben dieses Verhältnis, diese Annäherung?

    Prawda: Ja, das ist sehr wichtig, wenn wir uns näher kommen, wenn wir uns besser verstehen, und solche Personen machen es einfach. Der deutsche Meister im Fußball, Borussia Dortmund, ist ein Klub, der von Polen gegründet worden ist im Jahre 1909. Auch das wäre vielleicht wichtig, um zu wissen, wie viel uns verbindet, dass die Präsenz der Polen in Deutschland keine Geschichte der Nachkriegsjahre ist, sondern dass wir in den letzten 200 Jahren auch eine gemeinsame Geschichte hatten und dass wir heute auch gemeinsame Ziele haben können.

    Heinemann: ... , wobei in diesen 200 Jahren auch leider viel Trennendes war. Auf der Internet-Seite Ihrer Botschaft kann man unter anderem die Geschichte der polnischen Nationalhymne nachlesen, von der wir jetzt ein paar Takte hören wollen.

    O-Ton Musik:

    Heinemann: Jozef Wybicki hat den Text 1797 in Italien geschrieben, weil Polen nämlich gerade mal wieder durch die Nachbarstaaten aufgeteilt war. Ich habe noch gelernt, das waren polnische Teilungen; ist natürlich Unsinn: Es waren Teilungen Polens. Die Polen haben das hier nicht selber gemacht. – "Jeszcze Polska nie zginęła", "noch ist Polen nicht verloren", das sagt viel aus über das Selbstverständnis einer Nation, die häufig mit dem Rücken an der Wand stand. Ist das Gefühl, den Nachbarn links und rechts, also vor allem Deutschen und Russen, nicht so recht trauen zu können, heute noch verbreitet?

    Prawda: Ich glaube nicht. Gerade der Nachbarschaftsvertrag hat hier eine Wende gebracht. Also früher war diese Lage als Symbol eines geopolitischen Pechs oder Unglücks betrachtet, und nach dem deutsch-polnischen Vertrag war vieles anders. Gerade diese geopolitische Lage wurde als eine Chance angesehen und heute überwiegen die Chancen und überwiegt eine Sicht der Vorteile, die unsere europäische Lage bringt.

    Heinemann: Nur, dass das noch nicht jeder so sieht. Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski hat für die in Deutschland lebenden Polen jetzt einen Minderheitenstatus gefordert - ihm reicht nicht aus, was da ausgehandelt wurde - und die Ostsee-Pipeline Denkmal deutscher Arroganz an der Ostsee bezeichnet. Fallen solche Äußerungen in Polen auf fruchtbaren Boden?

    Prawda: Die Regierungsparteien sprechen hier eine andere Sprache. Die letzten Umfragen geben der Regierungspartei Bürgerplattform von Donald Tusk fast 50 Prozent Unterstützung. Und solche Themen wie Ostsee-Pipeline sind Beispiel für ein reales Problem, aber dieses Problem muss nicht emotional diskutiert werden.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, ein Interview mit Dr. Marek Prawda, dem Botschafter der Republik Polen in Deutschland. – Herr Botschafter, zurzeit gehen die Deutschen eigene Wege im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, oder auch beim Versuch, Griechenland zu helfen. Ist die deutsche Außenpolitik aus polnischer Sicht berechenbar?

    Prawda: Die Sprache ist manchmal anders als früher.

    Heinemann: Können Sie ein Beispiel nennen?

    Prawda: Ja. Die politischen Eliten sprechen jetzt vielleicht mehr über deutsche Interessen. Früher war es so, dass man gegenüber der eigenen Gesellschaft von historischen Verpflichtungen gesprochen hat. Aber das ist auch eine Entwicklung, die wir in vielen europäischen Ländern beobachten, das ist kein deutsch-spezifisches Problem.

    Heinemann: Noch einmal zu den Beziehungen zwischen Warschau und Berlin. Die politischen Vorstellungen von Erika Steinbach, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, kann man teilen, oder kann man auch nicht teilen. Aus deutscher Sicht fragt man sich allerdings schon, warum Frau Steinbach in Polen dermaßen verteufelt wird.

    Prawda: Das sehe ich nicht. Zu diesem Thema Heimatvertriebene haben wir aus polnischer Sicht zwei Traditionen. Die eine, das ist die menschliche Ebene, das ist ein empathisches Gespräch von Menschen, die ihre Heimat verloren haben, die jetzt aus dem Osten vom ehemaligen Polen in die westlichen Gebiete gekommen sind. Es gibt aber auch eine andere Tradition, das ist die politische Instrumentalisierung, und nur damit hat man in Polen Probleme. Die haben aber mit Teufeln oder Verteufelungen wirklich nichts zu tun.
    Ich war vor Kurzem, vor einigen Wochen, in einer polnischen Stadt Gorzów an der deutsch-polnischen Grenze, dort wurde eine Philharmonie eröffnet, und der Bürgermeister hat über die Erfahrungen der jetzigen Bewohner dieser Stadt gesprochen, die alle kamen aus der heutigen Ukraine, und er sagte, wie lange es gedauert hat, bis Gorzów für sie ein sicherer Hafen geworden ist. Und danach sprach ein Vertreter der Partnerstadt in Deutschland, das ist Herford, der in Landsberg an der Warthe, heute Gorzów, geboren wurde, und er sagte, dass in den 20 Jahren Gorzów für ihn auch ein sicherer Hafen geworden ist, und der Gast aus Deutschland hatte den lautesten Beifall bekommen. Ich glaube, das sagt viel über dieses Thema, und es ist wichtig, dass sich die Menschen ihre Geschichten erzählen können.

    Heinemann: Also die zwei Jahrzehnte waren nicht umsonst, würden Sie sagen. – Damals, als der Freundschaftsvertrag, also heute vor 20 Jahren, abgeschlossen wurde, da herrschte unterm Strich Zuversicht, bei gewisser Skepsis auch. Ist dieser Geist von 1991 wiederbelebbar?

    Prawda: Also ich habe heute mehr Zuversicht als damals. Es gab zu jener Zeit noch eine ganze Menge Unsicherheitsfaktoren. Zum Beispiel existierte noch die Sowjetunion. Gott sei Dank sind diese Unsicherheitsfaktoren jetzt nicht mehr da, wonach sollen wir uns denn sehnen. Wir sind heute viel weiter, wir sind Mitglieder derselben internationalen Strukturen, wir sind damit auch Teil derselben Wertegemeinschaft.
    Zum anderen erinnern wir uns heute an diese Zeit vor 20 oder 22 Jahren. Zum Beispiel hatten wir damals, im Herbst '89, insgesamt fast 6.000 Flüchtlinge aus der DDR. Diese Menschen hatten einen Traum vom Leben in einem freien Land. Ihr Traum war Teil des Unsrigen. Es war nicht immer so in der Geschichte, dass Polen und Deutsche gemeinsame Träume hatten und diese auch in Erfüllung gingen. Ich glaube, dass diese Erfahrung einer deutsch-polnischen Schicksalsgemeinschaft etwas ist, woran wir heute anknüpfen könnten, und wenn wir etwas wiederbeleben sollen, dann vielleicht diese Erfahrung und sie in eine europäische Sprache zu übersetzen. Da hätten wir vielleicht eine neue Quelle der Zuversicht.

    Heinemann: Dr. Marek Prawda, der Botschafter der Republik Polen in Deutschland. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Prawda: Danke schön, Herr Heinemann.