Welter: Wer entscheidet was auf welcher Grundlage - ist das also Ihr Thema, die Regierung aber auch die Opposition betreffend?
Korte: Ja, es ist wichtig, den Zusammenhang zu erkennen. Vor allen Dingen zwischen den Sach- und den Machtfragen, meistens wird nur jeweils eines behandelt, nur das Taktieren gesehen, oder es wird ausschließlich politikfeldorientiert geforscht, so dass aber der eigentliche Stoff der Politik dabei verloren geht, der eben aus der Verbindung aus Macht- und Sachfragen besteht.
Welter: Was sind demnach momentan die Grundlagen von Politik?
Korte: Sie bestehen darin, Probleme zu lösen, also zu einer Veränderung beizutragen und dabei immer im Blick zu haben, dass jede Veränderung nur durchführbar ist, wenn man dazu eine Mehrheit hat, die man täglich organisieren muss, und das Ergebnis der Veränderung muss so sein, dass man auch die Wiederwahl nicht in Frage stellt. Das macht Politik aus.
Welter: Also Probleme zu lösen, das ist, was Sie sagen, was im Augenblick geschieht. War das einmal anders, ging es auch in einigen Phasen der Politik darum, nicht zentrale Probleme zu lösen, sondern einfach die Macht zu erhalten?
Korte: Nein, das kann man so nicht sehen. Es gibt sicherlich Phasen in einem Entscheidungsprozess, in denen solche Machtfragen sehr dominant sind, aber im Kern ist der Ausgangspunkt, das zeigen alle unsere Untersuchungen auch, durchaus immer wieder zu einer Problemlösung beizutragen. Der Ausgangspunkt ist das Problem, was zu lösen ist, was die Bürger umtreibt. Die Parteien nehmen sich dieser Themen an und versuchen dann, eine Strategie zu entwickeln, diese Probleme zu lösen. Das sollte man nicht vergessen bei all dem Taktieren gerade in den letzten Wochen, was uns begleitet hat.
Welter: Wenn man zurückblickt, haben sich die Instrumente, Techniken, aber auch Strategien, Stile verändert in den letzten Jahren und Jahrzehnten?
Korte: Ja, das kann man sehen. Einmal hat der Zeitfaktor zugenommen. Regieren ist komplexer, zeitintensiver geworden und auch viel schneller. Das hängt mit den Kommunikationsbedingungen zusammen, sodass man durchaus sagen kann, in einer Mediendemokratie ist das Regieren schwieriger geworden. Auch Adenauer hat schon mit Zeitungen regiert und hat sich den Medien ganz offensiv gestellt und damit Kabinettsentscheidungen beeinflusst, aber diese Allzuständigkeit und Allpräsenz dieser Kommunikationsstrukturen ist doch etwas, was jedes Handeln der Spitzenakteure heute in ein ganz anderes Licht taucht.
Welter: Weil auch immer darauf zu achten ist, wie die Medien transportieren, was gesagt und getan wird?
Korte: Ja, sie sind Instrument für die Politik, um ihre Inhalte zu vermitteln und sich auch so zu inszenieren, dass sie auch unter dem Machtaspekt nicht verlieren. Andererseits ist es auch so, dass hier nicht nur die Politiker darunter leiden, dass sie immer präsent sind durch die Medien, sondern das ist geradezu ein Beziehungsspiel zwischen Medien und den Politikern. Beide profitieren davon, beiden haben aber auch die Probleme, denn auch für die Medien ist es natürlich ein Problem, die Spitzenakteure noch wirklich im Originalton dann interviewen zu können und nicht nur mit Beratern zu tun zu haben.
Welter: Wenn es also um die Problemlösung geht, werden dann die Medien auch instrumentalisiert? Täuscht der Eindruck, den man heutzutage haben kann, dass manchmal die Tagesschau auch benutzt wird, nicht um das Ergebnis von Entscheidungen oder Entscheidungsketten wiederzugeben, sondern um Versuchsballons starten zu lassen?
Korte: Ja, aber diese Instrumente sind alt, traditionell, dass man versucht, Indiskretionen zu streuen, dass man Personen vorschickt und sieht, wie sie ankommen, dass man auf bestimmten Tagungen wichtige Redner mit einer neuen Idee vorführt und abtestet, wie sich das im Medienhall dann wahrnimmt. Die Verbindung zwischen Darstellungs- und Entscheidungspolitik ist das Entscheidende, was es auch zu untersuchen gilt. Wenn die Darstellung in der idealen Rede besteht, die dann einen Tag später in eine Entscheidung mündet, dann ist eine Identität zwischen beiden hergestellt. Wenn sich aber die Schere öffnet - und das ist durchaus zu beobachten - zwischen Darstellung und Entscheidung, dann siegt das Phänomen, was Sie beschreiben: dass man nur noch den Eindruck hat, hier wird einfach eine Inszenierung betrieben, ohne dass ihr eine Entscheidung folgt.
Welter: Das hat aber Ihrer Meinung nach nicht zugenommen?
Korte: Nicht insgesamt. Die Mittel der Inszenierung sind viel subtiler geworden, es gibt viel mehr Bühnen, Akteure, Möglichkeiten, zu inszenieren. Das ist durchaus herrschaftssichernd angelegt, aber durchaus eben auch, um Mehrheiten für sich zu organisieren, um dann eine Entscheidung herbeizuführen. Das war sehr schön an der Agenda 2010 zu erkennen. Nach einem Problemwinter etwas zu verändern, kam es dann zu dieser Rede als Regierungserklärung, der ja zunächst erst mal nichts folgte. Das war reine Darstellungspolitik. Über Monate. Aber alle haben sich an diesen Begrifflichkeiten orientiert, es ist abgearbeitet worden über verschiedene Parteitage hinweg, bis am Ende dann auch eine Entscheidungspolitik folgte mit dem Gesetzestext.
Welter: Was bedeutet das für die Wähler, ist es unüberschaubarer geworden?
Korte: Allemal unüberschaubar ist der Gesamtprozess. Es ist nicht mehr das eigentliche demokratische Prinzip erkennbar, transparente Entscheidungsprozesse zu haben und die Zurechenbarkeit von Ergebnissen, wer eigentlich für was verantwortlich ist. Das macht die Sache sehr unüberschaubar, aber wenn man in die politische Kulturforschung hineinsieht, kann man erkennen, dass die Bürger auch nichts anderes wollen. Wer permanent den Konsens haben will und nicht Mehrheitsentscheidungen, muss am Ende mit solchen Entscheidungen zurechtkommen.
Welter: Dass man nicht mehr zuordnen kann, wer was zu verantworten hat, haben wir ja gerade auch im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat erlebt. Sind solche Vermittlungsverfahren, wie wir es gerade hinter uns gebracht haben, noch sinnvoll?
Korte: Aus meiner Sicht nicht, weil das ja ein Prozess ist, der aus einer Dunkelkammer hervorgegangen ist, der am Ende dann durchaus groß inszeniert zu einem Ergebnis geführt hat. Die Vermittlungsverfahren haben sich in der Geschichte bewährt, aber sie waren nicht so überladen und überfrachtet. Im Augenblick ist zu erkennen, dass alle wichtigen Entscheidungen am Ende in solche Vermittlungsverfahren münden, also in Dunkelkammern in einen Ersatz-Gesetzgebungsprozess münden. Da muss dringend etwas verändert werden, damit das nicht weiter über diese Schiene der Entscheidungsfindung läuft.
Welter: Immerhin ist die Diskussion um eine Reform des deutschen Föderalismus in Gang gekommen. Das begrüßen Sie?
Korte: Ja, und ich glaube, gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung des Dezembers 2003 hat erstmals diese Föderalismusdiskussion auch eine große Chance, zu einem Ergebnis zu führen. Denn Kommissionen hat es dazu ja schon eine Reihe gegeben, aber ich denke, die Entflechtung der Kompetenzen zwischen Bundesländern und Bund im Gesetzgebungsprozess etwas zu verändern, das hat der Dezember gezeigt, dass hier dringend etwas gemacht werden muss. Deshalb glaube ich, dass es im Jahre 2004 dort auch zu Entscheidungen und Veränderungen kommen wird.
Welter: Wie sollte die Veränderung aussehen?
Korte: Dass klar wird, wer welche Kompetenzen bekommt. Es kann nicht sein, dass bei jedem wichtigen Bundesgesetz jedes Bundesland auch gleichermaßen mitstimmen muss. Das ist nicht einsehbar. So ist eine Blockadesituation geradezu vorprogrammiert. Andererseits ist nicht erkennbar, warum Bundesländer einfach Macht abgeben sollen. Sie können nur abgeben, wenn sie auch Gewinner in dem Prozess sind durch einen Finanzausgleich. Das ist im Prinzip der Schlüssel, den Ländern mehr Finanzkompetenz und -hoheit zuzugestehen, damit auch gleichzeitig die Landtage aufzuwerten, ihnen andererseits Kompetenzen zu nehmen, wenn es um die Bundesgesetzgebung geht, und dann haben wir Mehrheiten auf Zeit, und das ist Demokratie.
Welter: Wenn diese Reform gelingen sollte, könnte das die Lust der Wähler, auch wieder an die Urnen zu gehen, fördern?
Korte: Ja, denn sie können erkennen, für was sie wählen, wie sie durch eine Wahl Macht zuteilen und verändern. Das ist im Moment nicht erkennbar. Man hat zwar eine rot-grüne Regierung, aber gleichermaßen wichtig sind die Bundesländer und damit auch die Opposition. Also kann man bei der Wahl im Prinzip zuhause bleiben, weil sich an den Machtverhältnissen ja doch nicht wesentlich viel ändert, und das kann durch so eine Reform transparenter werden und damit der Kern des Wahlvorganges, nämlich Machtzuteilungen auf Zeit zu verändern, wieder attraktiv werden.
Welter: Professor Karl Rudolf Korte, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg und Leiter der Forschungsgruppe Regieren.