Gerwald Herter: Ist der große zionistische Traum am Ende? Sollte sich Israel vom Holocaust lösen? Sollte die Shoa also künftig nicht mehr zu den bestimmenden Elementen der jüdischen Identität gehören? Diese Fragen wirft Abraham Burg auf in seinem Buch "Hitler besiegen", das jetzt in der deutschen Übersetzung erschienen ist. Das ist besonders bemerkenswert, weil Burg selbst Sohn eines Holocaust-Überlebenden ist, weil er jahrzehntelang zur politischen Elite Israels gehörte und wohl noch immer zu ihr gehört, auch wenn ihn viele Israelis inzwischen als Abtrünnigen betrachten. Abraham Burg war Knesset-Abgeordneter, Berater von Schimon Peres und Chef der Jewish Agency, die so etwas wie der operative Arm des Zionismus ist. Mit Abraham Burg habe ich vor der Sendung über sein Buch und seine Thesen gesprochen.
Herr Burg, "Hitler besiegen", so lautet der deutsche Titel Ihres Buchs. Warum ist er weit mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch nicht besiegt?
Abraham Burg: Nun, körperlich, politisch, militärisch war die Zeit Hitlers abgelaufen in dem Augenblick, als er im Bunker in Berlin Selbstmord beging. Die traumatischen Erfahrungen hingegen, die Nachwehen, die Wellen, die dieses Ereignis geschlagen hat, die haben noch nicht aufgehört. Das geht noch lange weiter. Die Frage ist, ob wir als jüdisches Volk, als Israel je aus diesem Ereignis herauskommen. Bei einem solch traumatischen Ereignis muss man auch an die Missbrauchserfahrung eines einzelnen Menschen denken. Wir sind sozusagen ein missbrauchtes Volk und die Frage stellt sich, wird dieses Volk je herauskommen aus der Traumaerfahrung mit Hitler. Das ist eine offene Frage, darauf ist noch keine Antwort gefunden. Ich versuche, eine Alternative anzubieten, wie wir uns aus diesem Schatten befreien können, wie wir zuversichtlich, voller Hoffnung und Optimismus eine bessere Zukunft gestalten können.
Herter: Ist das der Grund dafür, dass diese Debatte Israel und der Welt nützlich sein könnte?
Burg: Diese Debatte ist notwendig, denn leider ist das Böse in der Menschheit nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu Ende gegangen. Es war ein sehr düsterer Augenblick in der Geschichte der Menschheit. Der Holocaust ist aber kein vereinzeltes Geschehen, sondern es ist etwas, was Menschen Menschen angetan haben, und dieses Geschehen, dieses Böse ist nicht zu Ende gegangen. Es ist also nicht nur ein jüdisches Thema. Nein, es ist ein Thema, das alle Nationen, das die Menschheit insgesamt als allgemeines Thema betrifft. Wir müssen alles daran setzen, damit A die Lehren daraus gezogen werden und B so etwas sich nie wieder wiederholt.
Herter: Reduzieren Sie den Holocaust dann nicht auf unzulässige Weise?
Burg: Reduzieren worauf?
Herter: Auf ein Trauma.
Burg: Ach so. Mensch, wissen Sie, ein solches gewaltiges Ereignis wirft immer die Frage auf, wie man damit umgehen kann. Ein Trauma dieser Größenordnung darf nicht zweckentfremdet werden, es darf nicht vor den Karren der Tagespolitik gespannt werden, weder in Deutschland, noch auf der Welt, noch auch in Israel. Der Holocaust ist etwas, was wirklich auf einer höheren Stufe zu sehen ist, moralisch, politisch, und wir sollten unser Leben so führen, als wäre es ein normales, alltägliches Leben. Die Politik darf den Holocaust nicht für eigene taktische Spielchen einsetzen. Das würde ihn doch sozusagen lächerlich machen, es würde ihn zur kleinen Münze des Alltagsgeschäftes werden lassen. Ich habe vielmehr versucht, dieses Ereignis gewissermaßen in den Rang der Heiligkeit, der Unantastbarkeit zu heben, die ihm zukommt.
Herter: Ist Ihr Werk nicht eine reine Provokation, die einfach dazu dient, ein Buch zu verkaufen?
Burg: Das ist nicht nur so bei den israelischen Politikern und nicht nur jetzt so. Das ist auf der ganzen Welt so. In der gesamten westlichen Welt hören sie landauf, landab den Holocaust immer wieder im Schilde führen. Nehmen Sie Österreich, die Schweiz, die Niederlande, Deutschland, Israel, Palästina, Iran, Irak, USA, überall wird der Holocaust sozusagen zur klingenden Münze im politischen Geschäft gemacht. Es ist eine Art Gründungserfahrung für die gesamte westliche Welt geworden und ich meine, das sollte nicht so sein. Der Holocaust sollte nicht als Vorwand, als Grund, oder auch als Anknüpfungspunkt für politisches Handeln dienen. Der Holocaust ist der Holocaust, unser alltägliches Leben ist unser Alltagsleben, lasst es uns besser leben.
Herter: Es provoziert, sorgt für Kontroversen, macht viel Lärm, so verkauft man Bücher.
Burg: Lassen Sie uns unterscheiden zwischen Meinungsstreit und Marketing bei einem Buch. Oder ersetze ich mal vielleicht Streiterei durch Polemik? Dann würde ich sagen, als Gott die Welt schuf, hat er auch den Meinungsstreit, die Polemik geschaffen. Wenn wir mit ihm oder mit ihr, mit diesem Gott in allem übereinstünden, dann wäre das doch ein recht langweiliges Erlebnis. Der Meinungsstreit bringt hingegen ein hegelsches Element hinein. Der macht die Sache so richtig spannend und aufregend. Natürlich: dieses Buch hat eine Menge Ärger und Kontroverse in Israel geschaffen. Es war genauso schwer für mich zu schreiben, wie es für die Leser zu lesen ist. Aber das Buch speist sich aus einer ganz bestimmten Vorerwartung, nämlich auf einen bestimmten Tag: dann nämlich, wenn der letzte Zeuge des Holocaust stirbt, wenn es keine lebenden Zeugen mehr gibt. Der Schrecken, der Schauer dieses Ereignisses, was wird dann daraus? Was wird in der Zukunft daran erinnern? Wie formen wir diese Erinnerung? Wie können wir sie für das Verständnis der nachfolgenden Generationen aufbewahren? Wie können wir für die Gesellschaft von morgen ein Verständnis für diesen Schrecken der Vergangenheit schaffen? Darum geht es.
Herter: Was kann Deutschland tun, um Hitler zu besiegen?
Burg: Bei dieser Frage wäre ich eher vorsichtig. Ich bin recht überzeugt und glaube auch, dass ich das Recht habe, über meine eigene Gesellschaft zu sprechen und all die Geister, die sie plagen. Ich glaube aber nicht, dass ich befugt bin, irgendetwas über die rechte Art des Umganges in Deutschland zu sagen. Eines würde ich mir aber wünschen, dass vielleicht aus Deutschland ein ähnliches Buch aus der Sicht der Deutschen geschrieben würde und dass wir uns dann, sowohl die früheren Opfer als auch die Nachkommen der früheren Täter sozusagen, in der Mitte des Weges begegnen. Ich habe einen Traum, dass wir in der Welt von morgen, vielleicht schon vom morgigen Tag an, wir, die ehemaligen Opfer und diejenigen, die andere zu Opfern machten, also Israelis und Deutsche, zusammen hinausgehen, um Grausamkeiten in Darfur, in Kambodscha, in Irak oder Iran zu verhindern, wo immer sie begangen werden. Wir haben diese Möglichkeit, Schrecknisse zu verhindern. Es geht ja nicht nur um das Schicksal der Juden, wenn wir sagen, nie wieder, sondern es geht darum, dass alle Menschen bewahrt werden müssen vor solchem Unheil. Wir, die Juden und die Deutschen, können so viel Gutes bewirken, wir können verhindern, dass weitere Opfer gemacht werden, dass solche Schrecknisse geschehen, und hier haben wir auch eine ganz erhebliche Verantwortung, die wir gemeinsam tragen.
Herter: Herr Burg, vielen Dank für dieses Gespräch. Das Interview mit dem israelischen Autor Abraham Burg haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
Herr Burg, "Hitler besiegen", so lautet der deutsche Titel Ihres Buchs. Warum ist er weit mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch nicht besiegt?
Abraham Burg: Nun, körperlich, politisch, militärisch war die Zeit Hitlers abgelaufen in dem Augenblick, als er im Bunker in Berlin Selbstmord beging. Die traumatischen Erfahrungen hingegen, die Nachwehen, die Wellen, die dieses Ereignis geschlagen hat, die haben noch nicht aufgehört. Das geht noch lange weiter. Die Frage ist, ob wir als jüdisches Volk, als Israel je aus diesem Ereignis herauskommen. Bei einem solch traumatischen Ereignis muss man auch an die Missbrauchserfahrung eines einzelnen Menschen denken. Wir sind sozusagen ein missbrauchtes Volk und die Frage stellt sich, wird dieses Volk je herauskommen aus der Traumaerfahrung mit Hitler. Das ist eine offene Frage, darauf ist noch keine Antwort gefunden. Ich versuche, eine Alternative anzubieten, wie wir uns aus diesem Schatten befreien können, wie wir zuversichtlich, voller Hoffnung und Optimismus eine bessere Zukunft gestalten können.
Herter: Ist das der Grund dafür, dass diese Debatte Israel und der Welt nützlich sein könnte?
Burg: Diese Debatte ist notwendig, denn leider ist das Böse in der Menschheit nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu Ende gegangen. Es war ein sehr düsterer Augenblick in der Geschichte der Menschheit. Der Holocaust ist aber kein vereinzeltes Geschehen, sondern es ist etwas, was Menschen Menschen angetan haben, und dieses Geschehen, dieses Böse ist nicht zu Ende gegangen. Es ist also nicht nur ein jüdisches Thema. Nein, es ist ein Thema, das alle Nationen, das die Menschheit insgesamt als allgemeines Thema betrifft. Wir müssen alles daran setzen, damit A die Lehren daraus gezogen werden und B so etwas sich nie wieder wiederholt.
Herter: Reduzieren Sie den Holocaust dann nicht auf unzulässige Weise?
Burg: Reduzieren worauf?
Herter: Auf ein Trauma.
Burg: Ach so. Mensch, wissen Sie, ein solches gewaltiges Ereignis wirft immer die Frage auf, wie man damit umgehen kann. Ein Trauma dieser Größenordnung darf nicht zweckentfremdet werden, es darf nicht vor den Karren der Tagespolitik gespannt werden, weder in Deutschland, noch auf der Welt, noch auch in Israel. Der Holocaust ist etwas, was wirklich auf einer höheren Stufe zu sehen ist, moralisch, politisch, und wir sollten unser Leben so führen, als wäre es ein normales, alltägliches Leben. Die Politik darf den Holocaust nicht für eigene taktische Spielchen einsetzen. Das würde ihn doch sozusagen lächerlich machen, es würde ihn zur kleinen Münze des Alltagsgeschäftes werden lassen. Ich habe vielmehr versucht, dieses Ereignis gewissermaßen in den Rang der Heiligkeit, der Unantastbarkeit zu heben, die ihm zukommt.
Herter: Ist Ihr Werk nicht eine reine Provokation, die einfach dazu dient, ein Buch zu verkaufen?
Burg: Das ist nicht nur so bei den israelischen Politikern und nicht nur jetzt so. Das ist auf der ganzen Welt so. In der gesamten westlichen Welt hören sie landauf, landab den Holocaust immer wieder im Schilde führen. Nehmen Sie Österreich, die Schweiz, die Niederlande, Deutschland, Israel, Palästina, Iran, Irak, USA, überall wird der Holocaust sozusagen zur klingenden Münze im politischen Geschäft gemacht. Es ist eine Art Gründungserfahrung für die gesamte westliche Welt geworden und ich meine, das sollte nicht so sein. Der Holocaust sollte nicht als Vorwand, als Grund, oder auch als Anknüpfungspunkt für politisches Handeln dienen. Der Holocaust ist der Holocaust, unser alltägliches Leben ist unser Alltagsleben, lasst es uns besser leben.
Herter: Es provoziert, sorgt für Kontroversen, macht viel Lärm, so verkauft man Bücher.
Burg: Lassen Sie uns unterscheiden zwischen Meinungsstreit und Marketing bei einem Buch. Oder ersetze ich mal vielleicht Streiterei durch Polemik? Dann würde ich sagen, als Gott die Welt schuf, hat er auch den Meinungsstreit, die Polemik geschaffen. Wenn wir mit ihm oder mit ihr, mit diesem Gott in allem übereinstünden, dann wäre das doch ein recht langweiliges Erlebnis. Der Meinungsstreit bringt hingegen ein hegelsches Element hinein. Der macht die Sache so richtig spannend und aufregend. Natürlich: dieses Buch hat eine Menge Ärger und Kontroverse in Israel geschaffen. Es war genauso schwer für mich zu schreiben, wie es für die Leser zu lesen ist. Aber das Buch speist sich aus einer ganz bestimmten Vorerwartung, nämlich auf einen bestimmten Tag: dann nämlich, wenn der letzte Zeuge des Holocaust stirbt, wenn es keine lebenden Zeugen mehr gibt. Der Schrecken, der Schauer dieses Ereignisses, was wird dann daraus? Was wird in der Zukunft daran erinnern? Wie formen wir diese Erinnerung? Wie können wir sie für das Verständnis der nachfolgenden Generationen aufbewahren? Wie können wir für die Gesellschaft von morgen ein Verständnis für diesen Schrecken der Vergangenheit schaffen? Darum geht es.
Herter: Was kann Deutschland tun, um Hitler zu besiegen?
Burg: Bei dieser Frage wäre ich eher vorsichtig. Ich bin recht überzeugt und glaube auch, dass ich das Recht habe, über meine eigene Gesellschaft zu sprechen und all die Geister, die sie plagen. Ich glaube aber nicht, dass ich befugt bin, irgendetwas über die rechte Art des Umganges in Deutschland zu sagen. Eines würde ich mir aber wünschen, dass vielleicht aus Deutschland ein ähnliches Buch aus der Sicht der Deutschen geschrieben würde und dass wir uns dann, sowohl die früheren Opfer als auch die Nachkommen der früheren Täter sozusagen, in der Mitte des Weges begegnen. Ich habe einen Traum, dass wir in der Welt von morgen, vielleicht schon vom morgigen Tag an, wir, die ehemaligen Opfer und diejenigen, die andere zu Opfern machten, also Israelis und Deutsche, zusammen hinausgehen, um Grausamkeiten in Darfur, in Kambodscha, in Irak oder Iran zu verhindern, wo immer sie begangen werden. Wir haben diese Möglichkeit, Schrecknisse zu verhindern. Es geht ja nicht nur um das Schicksal der Juden, wenn wir sagen, nie wieder, sondern es geht darum, dass alle Menschen bewahrt werden müssen vor solchem Unheil. Wir, die Juden und die Deutschen, können so viel Gutes bewirken, wir können verhindern, dass weitere Opfer gemacht werden, dass solche Schrecknisse geschehen, und hier haben wir auch eine ganz erhebliche Verantwortung, die wir gemeinsam tragen.
Herter: Herr Burg, vielen Dank für dieses Gespräch. Das Interview mit dem israelischen Autor Abraham Burg haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.