Heyer: Lothar Späth, der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident, ist ein ausgewiesener Fachmann für Neuanfänge. Nicht erst der gelungene Aufbau der Jenoptik AG hat ihn dazu gemacht; auch in seiner politischen Karriere hat der gelernte Verwaltungsangestellte bewiesen, was man aus Neuanfängen machen kann, welche Chancen hierin liegen. Ich habe Lothar Späth in Leonberg besucht, hier ist der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Jenoptik AG Chef einer Unternehmensberatung für mittelständische Unternehmen. Liege ich richtig, wenn ich Sie als "Meister des Neuanfangs", des "Neubeginns" bezeichne? Können Sie damit leben?
Späth: Ja. Ja, ich kann aber auch damit leben, wenn Sie nicht gleich anspruchsvoll "Meister der Neuanfänge" sagen, sondern: Ich bin erfahren mit vielen Neuanfängen. Ich habe in meinem Leben immer wieder was Neues angefangen und fühle mich auch heute noch bei Ideen an Neuanfänge immer wohl.
Heyer: Was ist das, was Sie an Neuanfängen, am Neubeginn so reizt?
Späth: Ich kann feststellen, dass ein Mensch eine Menge von verschiedenen Begabungen hat, auf die er erst kommt, wenn er die fordern muss. Das heißt, wenn er was Neues anfängt, muss er sich völlig neu einstellen, muss sich selber auch überprüfen, ob er da bei sich was abrufen kann entweder an Wissen oder auch Emotion oder Energie oder an Kommunikationsfähigkeiten - und ich finde, das ist eigentlich etwas, wo man sich selber ausschöpft.
Ich bin ganz sicher, dass viele Menschen, wenn sie sich mal mit sich selber beschäftigen würden, Fähigkeiten an sich entdecken würden, die sie einfach nicht entdecken, weil sie sie nicht brauchen - dann veröden die. Wenn jemand einen Job macht sein Leben lang, dann ist er ein Spezialist und hat alles in sich akzentuiert und geweckt, was zu seiner Aufgabe passt - die kann sehr schmal sein. Und erst wenn er plötzlich in einen Neuanfang gestoßen wird, dann muss er wieder gewissermaßen Spuren suchen und sich selber erfinden. Und dieses Selber-Finden ist eine unglaublich faszinierende Sache.
Heyer: Das kann man nun wirklich nicht sagen, dass Sie einen Job ein Leben lang gemacht hätten. Wenn man in Ihre Vita schaut, die führt über die Finanzverwaltung in Bietigheim über Baugenossenschaften über ein Bürgermeisteramt, schließlich in die baden-württembergische Landesregierung, schließlich sind Sie Ministerpräsident, irgendwann gehandelt als heimlicher Kohl-Nachfolger, dann die Wirtschaft: der Macher von Jenoptik. "Sei immer flexibel", ist das möglicherweise Ihr persönliches Credo?
Späth: Ja, viele Leute mögen ja solche Begriffe nicht, weil sie meinen, das sei nicht seriös. Seriös sei, wenn man auf einem Standpunkt steht und dort einfach stehen bleibt. Und es gibt ja in der Politik manchmal Entwicklungen, wo man sagt: "Die machen denselben Fehler nur deshalb, weil sie glaubwürdig erscheinen wollen, wenn sie denselben Fehler mehrmals machen, weil dann kann man sich auf sie verlassen, auch auf ihre Fehler." Ich finde, Flexibilität heißt: Ich habe einen Standpunkt, ich habe ein Werteverständnis, aber ich passe mich den Situationen an, ich stelle mich auf meine Gesprächspartner ein, ich muss, wenn ich Manager bin in einem Konzern, ganz anders arbeiten als wenn ich Politiker bin. Und wenn ich Aufbauarbeit leiste in einer neuen Geschichte, dann muss ich die erst mal verstehen und dann muss ich auch ganz am Boden anfangen mit neuen Dingen. Und da ist dann auch wieder der Reiz des berühmten "in allem liegt der Reiz eines neuen Anfangs".
Heyer: "Anpassung an die Situation" haben Sie gerade gesagt. "So sehe ich das", das ist der Titel einer Wirtschaftskolumne von Ihnen, zurzeit im "Handelsblatt" zu lesen. Wo sollte Politik, wo sollten Politiker in diesen Zeiten - die von einer Zahl ja dominiert wird: 5,2 Millionen Arbeitslose - denn wieder neu anfangen? Was sollten sie tun?
Späth: Sie müssen ganz einfach überlegen, dass die Gesellschaft in einem bestimmten Zustand ist und dann müssen sie überlegen, in welchem Zustand sie die Gesellschaft bringen können - und nicht den Wunschzustand beschreiben, in dem die Gesellschaft sein sollte. Da ist sehr viel Verdrängung dabei. Ich meine, wenn jetzt zum Beispiel - es haben alle gesagt, man soll sie an ihrer Fähigkeit, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, messen, der Kanzler vor allem, aber auch viele andere sind immer wieder angetreten "mit uns würde die Arbeitslosigkeit beseitigt".
Jetzt müssen mal alle den Leuten sagen, dass keine Partei in der Lage ist, in Deutschland in einer übersehbaren Zeit die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, weil sie ganz typische Ursachen hat, die man nicht mit einer großen wichtigen politischen Entscheidung lösen kann. Und dann beginnt natürlich der Vertrauensschwund beispielsweise, wenn man den Leuten nicht in aller Offenheit sagt: "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, wir haben eine Wettbewerbslage, bei der Deutschland zu teuer geworden ist, das und das sind die Ursachen, das und das kann man schnell bewegen, das und das geht aber über eine lange Frist, wir haben auch dann noch zusätzlich das versäumt". Also, man muss im Grunde eine Marathonstrecke beschreiben und muss jedem klarmachen, dass der Sprint am Anfang des Marathonlaufs wahrscheinlich zu frühzeitiger Kräfteschwächung führt.
Heyer: Also ist das nichts anderes als Verbalakrobatik, was wir zurzeit gehört haben, der "Pakt für Deutschland" oder der "Job-Gipfel", "Bündnisse für Deutschland"?
Späth: Das sind alles überhöhte Überschriften. Das gibt es nachher nicht her. Und Sie brauchen jetzt nur die aktuelle Diskussion wieder nehmen: Erst hat man bei den Leuten Erwartungen geweckt, als ob jetzt der gute Wille dazu führt, dass man die schon klare Lösung einfach macht. Es gibt keine Lösung, die kurzfristig das Arbeitsproblem einfängt, und das sollte man fairerweise allen weiteren Diskussionen zu Grunde legen. Es ist wirklich die Geschichte mit der Marathonstrecke, nicht? Wenn Sie einen Langlauf machen müssen, dann fangen alle fröhlich an und bei Kilometer 20 sieht man die Ermatteten niedersinken. Und am schnellsten sinken die nieder, die am Anfang gespurtet sind und gesagt haben: "Wir zeigen am Anfang, solange das Publikum noch interessiert ist, was wir alles können", und anschließend in der Siegerliste finden Sie die nicht, weil die alle irgendwo auf der Strecke geblieben sind, sondern man muss sich eine solche Strecke einteilen, auch in der Politik.
Heyer: Bleiben wir beim Bild "Marathon". Marathon sind Sie ja auch in gewisser Weise gelaufen, als Sie Ministerpräsident in Baden-Württemberg waren. Ein hohes Reformtempo, das war damals jedenfalls Ihr Ding, das hat man Ihnen nachgesagt als baden-württembergischer Ministerpräsident, hat Ihnen auch den Beinamen "Cleverle" eingebracht damals. Wenn Sie Unternehmensberater für die "Deutschland AG" wären und müssten den Chef dieser "Deutschland AG", Gerhard Schröder, beraten: Was müsste der sich von Ihnen anhören?
Späth: Dass er natürlich das ganz große Problem hat, dass seine Spielräume so eng sind. Die ganz objektiven: Sie können in einer globalisierten Welt eben mit nationalen wirtschaftspolitischen Entscheidungen ziemlich wenig bewegen. Wenn Sie dann noch die Grenzen der EU haben, was etwa die Verschuldungsgrenze angeht, wird der Spielraum noch einmal geringer. Und was Ihnen übrig bleibt, sind zwei Dinge: Sie wissen eigentlich, was verändert werden sollte, Sie können berechnen, was der Kanzler nicht verändern kann, weil er vor allem seine Partei nur in eine beschränkte Spannung bringen kann - er hat ja relativ viel getan, um seine Partei in einen hohen Spannungsbogen zu drücken, aber er weiß ganz genau, wie viel er noch Spielraum hat, ohne dass es da knallt.
Also wenn er jetzt mutig sagen will: "Ich mache die und die Reformen, die richtig sind, auch wenn sie meine Partei nicht mitträgt", dann weiß er aber, dass er eigentlich seinen Ruhestand einleitet, nicht? Dass er im Grunde etwas fordert, wo er den großen Beifall der Sachverständigen kriegt, aber die Sachverständigen sind nur ein ganz kleiner Wählerkreis.
Heyer: Also, was bedeutet das? Hose runter, Offenbarungseid für die "Deutschland AG"?
Späth: Man muss einfach sagen, wir können in Deutschland, solange wir die niederen Wachstumsraten haben, können wir uns nicht viel leisten. Die Wachstumsraten kriegen wir aber über eine mittlere Strecke erst wieder hoch - also niemand kann kurzfristig die Wachstumsrate in Deutschland ankurbeln - und er muss den Leuten erklären, dass sie ihn deshalb wählen sollen, weil er diesen mühsamen Weg geht und weil er bereit ist, mit der Opposition zu arbeiten, mit allen. Und jetzt muss er in Kauf nehmen, dass die Leute sagen: "Wir wollen aber einen, der nicht mit allen arbeitet, sondern seine Mehrheit benutzt, um Deutschland rasch umzubauen". Das kann er nicht, weil er im Grunde die mindeste Kurskorrektur gegen seinen eigenen Verein richten muss. Das ist doch sein großes Problem. Und mit dem Problem muss er entweder mit vollem Risiko fahren - hatte er zeitweise gemacht, auch mit allen Folgen für ihn.
Inzwischen weiß die SPD, dass es wahrscheinlich gar keinen anderen Weg gibt, aber ich glaube trotzdem nicht, dass sie ihm voll folgen würde, wenn er jetzt alle notwendigen Schnitte macht. Und wenn er alle notwendigen Schnitte - die sind ja gar nicht umstritten, also etwa die Fragen beim Kündigungsschutz, er hat ja auch eine ganze Menge bewegt, aber er weiß ganz genau, er muss dieses Reformtempo fortsetzen. Jedes Jahr gibt es Hartz und jedes Jahr wird Hartz härter für die Leute zu ertragen.
Und entweder er bekommt das Vertrauen der Leute, diesen Kurs zu fahren, seine Partei trägt ihn, oder - und das Risiko scheint er mir mehr und mehr einzugehen - oder er sagt halt: "Ich sage, was notwendig ist und wenn es dann nicht mehrheitlich passiert, dann werdet ihr schon erleben, dass die, die nach mir kommen, nichts anderes machen werden."
Heyer: Sie kennen beide Realitäten: die der Politik, des Politikers und die der Unternehmen, des Unternehmers. Welche Realität treibt einen schneller und eher in den Wahn?
Späth: Also wahrscheinlich die Politik. Politiker sind unempfindlich gegen die Druckpositionen, die man spürt, wenn man gegen Widerstand arbeiten muss. Dann natürlich das Handwerkszeug, das dem Unternehmertum zur Verfügung steht, ist ein anderes: Der kann entscheiden, wenn er die Deckung seiner Kapitaleigner hat, und wenn er die mal für fünf Jahre hat, dann hat er eine relativ große Freiheit, das Unternehmen zu führen, und dann kann er eben eines tun: er kann die Leute um sich herum entlassen.
In der Politik sitzen um einen herum als führende Figur immer potenzielle Gegner, potenzielle Nachfolger, das heißt man ist eigentlich immer von Leuten umgeben, die gar nicht so glücklich sind, wenn man so erfolgreich ist. Das heißt, man muss eigentlich ununterbrochen sich wie ein Artist aufführen und muss sie entweder alle mitnehmen oder wenn man zu viele davon verprellt hat, dann spürt man das in der Unterstützung für die Lösung der Probleme.
Mit anderen Worten: Die Demokratie ist ein sehr viel schwerfälligeres System, um beispielsweise Ideen oder Konzepte durchzusetzen. Und meine Schwäche zum Beispiel in der Politik war immer, dass ich viel zu viel Ideen hatte, was man noch machen müsste, auch viel zu ungeduldig war, und deshalb gelegentlich immer wieder auf der Schnauze gelandet bin.
Heyer: Das sind wir an dem Punkt: "Luftballons laut steigen und leise platzen zu lassen", das sei das Markenzeichen des Ministerpräsidenten Späth gewesen. So haben jedenfalls die "Stuttgarter Nachrichten" mal geschrieben. Inwieweit war das denn eine Beschreibung dafür, dass Sie, wie gerade auch schon angedeutet, immer wieder versucht haben, neue Dinge anzufangen, in der Kultur, in der Bildungs-, in der Medien, in der Wirtschaftspolitik, geradezu süchtig waren nach Neuanfängen?
Späth: Ja weil die Neuanfänge notwendig waren. Und interessant ist ja, alles, was man mir damals vorgeworfen hat, ist zehn Jahre später geschehen. Mir hat man gesagt: "Der macht zu hektisch diese Bankenfusion". Zehn Jahre später ist die Bankenfusion gemacht worden. Die Frage ist nur, ob - wenn man sie zehn Jahre früher gemacht hätte, dann wäre die Bank noch viel stärker geworden, nicht? Also, ich war zu früh dran, aber die Sache war richtig. Oder die Rundfunkfusion, um solche Beispiele zu nehmen.
Viele Dinge, die ich für die Kunst- und Kulturpolitik und die Wissenschafts- und Forschungspolitik gemacht habe, wird heute als die Grundlage der Cluster-Bildung erkannt und auch als die Grundlage, zum Beispiel das Kreativpotenzial von jungen Leuten zu stärken. Nur, wenn wir jetzt sagen: "Wir brauchen kreative junge Leute" - was Pisa zeigt -, dann brauchen wir jetzt mindestens mal 15 Jahre Bildung, bis die da sind, wo wir sie abholen wollen, um beispielsweise dieses Innovationspotenzial der Gesellschaft zu haben. Hätte man vor 15 Jahren angefangen, dieses aufzubauen, dann hätten wir heute eine Gesellschaft, die viel besser vorbereitet wäre, zum Beispiel nicht auf die Produktionsgesellschaft, sondern die Dienstleistungs- und Kulturgesellschaft.
Heyer: Aber werden möglicherweise gerade zurzeit nicht allzu viele "Luftballons" gestartet in der Politik und die Menschen, die Wähler sind deshalb politikverdrossen, gehen kaum mehr zu Wahlen?
Späth: Da kann man darüber streiten, da muss jeder seinen Weg finden. Ich finde, Politiker müssen, wenn sie Führung beanspruchen, auch Ideengeber sein. Und sie müssen wissen, dass sie mit vollem Risiko auch mal mit einer Idee auf die Schnauze knallen. Ich glaube, die Leute wollen die Herrschaft des Volkes, aber nicht so, dass man sie fragt: "Was möchtet ihr?", sondern die wollen geführt sein. Das heißt, sie wollen sich reiben und Entscheidungen treffen an Konzepten, die die Politik vorzutragen hat. Das ist die Führungsverantwortung der Politik. Und es gibt natürlich viele Politiker, die sagen: "Hauptsache, Du machst nichts und bist beliebt, dann stehst Du die längsten Amtszeiten durch", nicht? Also der Politiker muss eigentlich bereit sein zum Risiko der politischen Existenz, wenn er verändern will.
Heyer: Was war Ihr persönlich wichtigster Neuanfang?
Späth: Eigentlich im Grunde der in Jena. Denn ich bin ja in die Politik eigentlich reingeschlittert. Ich war nicht irgendein Jungideologe, der geträumt hat, Politiker zu werden. Ich habe so viele Interessen gehabt, dass ich eigentlich sehr spät in die Partei eingetreten bin und dann am Anfang nicht dachte - Parlamentsmitglied wollte ich schon sein, weil ich mitdiskutieren wollte bei den Veränderungen der Gesellschaft, aber ich wollte eigentlich keine politische Karriere machen. Und dann ging das in einer Automatik ohnegleichen und plötzlich war ich also da so voll drin, dass ich alles, was mich sonst noch interessiert hat, eigentlich ein Stück zurückstecken musste. Dann kam der Rücktritt und der machte mich vorübergehend ratlos, aber nur sehr vorübergehend, während die anderen immer gefragt haben: "Wie verarbeitest Du denn diesen Rücktritt?", war ich eigentlich in meinen Gedanken schon ganz woanders, nämlich ich baue mir was Neues auf und ich mache was anderes. Ich wollte eigentlich ins Ausland gehen. Und dann kam dieses Jena und das war wirklich ein Neuanfang.
Heyer: Wie sahen Sie damals Ihre Aufgabe, Anfang der 90er Jahre?
Späth: Ja, das habe ich erst mit der Zeit rausgekriegt. Im Grunde, formal war es die Aufgabe, ein altes, planwirtschaftliches und vielleicht eines der wichtigsten planwirtschaftlichen Organisationen der DDR-Wirtschaft umzubauen in ein marktwirtschaftliches Unternehmen, möglichst mit dem Ziel einer Aktiengesellschaft, die börsenfähig ist. Aber da war natürlich viel mehr, denn man musste im Grunde das Unternehmen, die Stadtstruktur und - wenn Sie so wollen - das gesamte gesellschaftliche Umfeld ja ein Stück mit umbauen, und deshalb war es eigentlich eine Aufgabe, die auch einen starken politischen Charakter hatte, der Umgang beispielsweise mit dem Kommunalparlament, mit dem Oberbürgermeister, das musste man alles organisieren. Ich musste von 27.000 Leuten 16.000 entlassen innerhalb einer Frist von sechs Monaten.
Heyer: Wie haben Sie das den Leuten eigentlich damals erklärt, diese Radikalsanierung? "Jetzt ist es Zeit für Euren ganz persönlichen Neuanfang", das wäre ja zu wenig gewesen?
Späth: Sie wussten, dass ich nach großem Drängen zugesagt habe, das Risiko einzugehen, diesen Umbau zu machen. Und sie wussten, dass wenn ich Nein gesagt hätte, im Grunde niemand mehr so richtig bereit gewesen wäre, überhaupt an das Thema heranzugehen, was natürlich zu einem totalen Zusammenbruch in Jena geführt hätte. Deshalb habe ich auch einen großen Vertrauensvorschuss von den Leuten gekriegt und viele haben nicht geglaubt, dass jemand, der 16.000 Leute entlässt, noch durch diese Stadt laufen kann.
Heyer: Hätten Sie denn eigentlich diesen Neuanfang überhaupt hinbekommen, wenn Sie nicht Ihre Erfahrung als Politiker, als Ministerpräsident gehabt hätten, sondern eben - ich sage mal - Manager Späth mit abgeschlossenem Betriebswirtschaftsstudium gewesen wären, Erfahrungen im Vorstand irgendeines Top-Unternehmens?
Späth: Da wäre ich wahrscheinlich gescheitert. Wobei ich sagen muss, wenn wir jetzt von politischer Erfahrung reden, dann haben die Leute immer geglaubt: der hat seine Beziehungen als früherer Ministerpräsident so richtig ausfahren können - mit denen habe ich weniger angefangen als mit meinen Erfahrungen als Kommunalpolitiker. In den 60er Jahren, als ich Liegenschaftschef in einer Stadt war, eine Wohnungsbaugesellschaft gegründet und betrieben habe, die mich ja nachher, später zur Neuen Heimat geführt hat, das waren im Grunde Erfahrungen im Umgang mit Stadtplanung, mit Umstrukturierung, mit Zusammenführen öffentlicher Infrastruktur-Interessen, mit privaten Investitionsinteressen, Umgang mit dem Gemeinderat, Erklärung der Leute, warum man so was machen muss, das hat mir eigentlich am meisten geholfen, also meine kommunalpolitische Erfahrung war eigentlich mein stärkstes Pfand in Jena, gerade in den ersten Jahren.
Natürlich war es hilfreich, wenn sie immer so einen Freundeskreis in Politik und Wirtschaft haben, wo Sie immer mal anrufen können: Du musst mir helfen. Aber letztlich hilft Ihnen in der Wirtschaft niemand, indem er Verluste, die bei Ihnen anfallen, Ihnen dadurch wegnimmt, dass er sie übernimmt. Und damit war es natürlich eine ganz spezifische Aufgabe, unter Zeitdruck, mit relativ geringen Chancen ein wettbewerbsfähiges Unternehmen aufzubauen.
Heyer: Etwas ganz Neues, unerhört Neues sozusagen, haben Sie sich mit Jenoptik auch erlaubt, als Sie nämlich aus dem Arbeitgeberverband ausgeschieden sind. Der Wirtschaftsfreund Späth macht so etwas, wer etwas Neues beginnen will, darf keine Tabus kennen, muss Grenzen überschreiten. Ist das auch ein Späth'sches Lebensmotto?
Späth: Ja, man muss mindestens bereit sein, alle Grenzen auszuloten, bevor man sie dann endgültig überschreitet. Das prüft man noch, aber im Ernstfall muss man auch mal bereit sein, einen Schritt über eine Grenze zu gehen, mindestens über eine Grenze - das darf nicht ungesetzlich sein, aber man muss es doch ausloten, was man machen kann. Das war so eine Grenze - ich habe ein gutes Verhältnis eigentlich immer zu den Gewerkschaften gehabt, deshalb ist es mir von der Seite her schon nicht leicht gefallen und mein Selbstverständnis von Wirtschaft war nicht, dass man einen Verband verlässt, aber ich habe gesehen, ich bekomme die Probleme nicht in den Griff, die mein Unternehmen betreffen, wenn ich aus dieser Verbandsarbeit heraus argumentiere.
Und außerdem gebe ich auch meinen Betriebsräten ein ganz anderes Signal, wenn ich sage: ich verlange nicht nur von Euch, dass Ihr notfalls auch gegen den Rat Eurer Gewerkschaft mal einen Schritt geht, sondern ich habe auch den Mut dann meinen Arbeitgeberverband zu verlassen und dann lass uns zusammen einen Weg suchen, wie wir unsere Probleme lösen können. Wir haben ihn gefunden und die IG-Metall war am Schluss wieder unser Partner, wie vorher auch. Und der Arbeitgeberverband hat auch das Mitglied Jenoptik wiederbekommen.
Aber mal in einem Neuanfang zu sagen: für die Situation ist all das nicht konzipiert, was Spielregel ist, es gab überhaupt keinen Vorgang zu diesen Prozessen, die wir bewältigen mussten, und wer da reingeht, der muss die Bereitschaft zu einem ganz hohen Risiko auch des Scheiterns tragen. Und es gab viele Monate in den ersten fünf Jahren, wo ich immer noch nicht sicher war: scheitern wir heute oder scheitern wir nicht?
Heyer: Risiko zum Scheitern, die Bereitschaft dazu: Inwiefern war das denn auch eine Grenzüberschreitung für Sie, sich zum Beispiel von N-TV oder vom MDR als Talkmaster engagieren zu lassen? In einem Fall, beim MDR, sogar noch gemeinsam mit Gregor Gysi vor der Kamera, der ja auch damals nicht im Verdacht stand, CDU-Mitglied werden zu wollen.
Späth: Das war einfach Neugier. Und auch soweit ein Neuanfang, dass ich beispielsweise bei N-TV war, spät am Abend war ein Wirtschafts-Talk, und es war für mich einfach interessant, jetzt mal die Fragen zu stellen an die Politiker und an die Wirtschaftsführer und nicht die Antworten geben zu müssen. So wie ich jetzt, als ich in den Aufsichtsratvorsitz der Jenoptik gegangen bin, ich gesagt habe: Jetzt werde ich Euch die Fragen stellen, die ich früher beantworten musste. Das ist eine ganz andere Rolle und die hat mir wieder neue Perspektiven eröffnet, auch für mich selber.
Und was Gysi angeht, das hat natürlich auch eine besondere Geschichte: ich finde ihn auch deshalb interessant, weil sein Vater war einer meiner wenigen Freunde in der DDR-Zeit, mit denen ich schon über die Grenzen geredet habe. Er war mehrmals mein Begleiter bei offiziellen Besuchen als Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR und er ist ein brillanter, intellektueller Gesprächspartner oder Fighter würde ich lieber sagen und wieso soll ich nicht mit den Linksaußen reden? Und wenn ich mit denen rede, dann will ich den Intelligentesten.
Heyer: Wie gerne hätten Sie denn auch neu angefangen, als - ich sage mal - Superminister in einem Kabinett Stoiber? Da sind Sie als Kuh plötzlich im Grunde genommen im Schattenkabinett aufgetaucht, aber leider - dann für Sie möglicherweise leider - dann doch nicht ins Amt gekommen.
Späth: Ja. Natürlich hätte mich das auch wieder gereizt, obwohl das eine sehr qualvolle Geschichte geworden wäre. Und wenn ich heute den Wolfgang Clement sehr beglückwünsche immer noch zu der Aufgabe - und sein Gesicht zeigt mir, dass er auch sie nicht für vergnügungssteuerpflichtig hält...
Heyer: Aber Sie haben ja auch immer gesagt: "Für eine Zeit mit Kohl bin ich zu alt und für eine Zeit nach Kohl bin ich ungeeignet". Also, da waren Sie ja deutlich "nach Kohl".
Späth: Deshalb wollte ich auch nicht und es hat gewaltiger Anstrengungen von Edmund Stoiber damals gebraucht und von einigen meiner Freunde, die gesagt haben: Du kannst Dich jetzt nicht verweigern. Wir haben eine Chance, die Wahl zu gewinnen, Du kannst dazu beitragen und dann musst Du aber auch diesen Job machen. Und ich war gewillt, ihn zu machen - ich sage allerdings dazu, ich habe ihn auch unter dem Aspekt eigentlich gesehen: "Du musst nicht wiedergewählt werden, Du machst es nicht mehr als vier Jahre und möglicherweise, wenn Du die ganz harten Entscheidungen durchgesetzt hast, dann hast Du wahrscheinlich einen Ruf, bei dem Du gar nicht mehr weitermachen kannst und dann musst Du notfalls auch zurücktreten, um der übrigen politischen Führung die Luft freizugeben, dass sie nicht die gesamten Folgen dieser Entscheidungen angebunden bekommen, sondern man sagt: Der war halt so und der war halt aggressiv und der hat halt diese große Spur gezogen." Aber klar war mir, dass ich mir da keine Freunde schaffen konnte. Aber auch vielleicht war dies die neue Herausforderung.
Heyer: In zwei Jahren, wenn ich richtig gerechnet habe, da werden Sie 70. Stimmt das?
Späth: So ist es.
Heyer: Da darf man bisweilen schon mal zurückblicken. Auf welchen Ihrer Neuanfänge, Ihrer Initiativen - einige haben wir schon angedeutet -, die vielleicht zu Neuanfängen geführt haben, waren Sie stolz, müssen Sie stolz sein? Vielleicht nur eine.
Späth: Also wenn nur eine, dann wird mir keiner glauben, dass ich da die Kunst und Kultur nenne. Ich finde, es war eine relativ mutige, weil auch von niemand, schon gar nicht von meinen Schwaben erwartete Position, dass der amtierende Ministerpräsident einer großen Forschungs- und Bildungsinitiative, praktische Bildungsinitiative, Fachhochschulen auf das Land und Forschungsinstitute ausbauen und Technik an den Universitäten ausbauen - das konnten alle mit nachvollziehen und da haben auch ganz früh alle gesagt: Der hat es früher gemerkt als alle anderen, dass diese Welt sich so gewaltig verändern wird, dass die Qualifizierung unserer Leute das Wichtigste ist.
Aber darauf dann das Thema Jugendkunstschulen und Jugendmusikschulen und Theater-Akademie und zeitgenössische Kunst und ZKM-Hochschule und Museen und solche Dinge, da haben die Leute gesagt: Was ist das? Und da war ich eigentlich richtig stolz darauf, dass es mir gelungen ist, Leute, die überhaupt von ihrer Herkunft her keine große Neigung zu Kunst haben, einfach zu überzeugen und mitzureißen, dass Baden-Württemberg auch das Land werden muss, in dem die künstlerische Kreativität gedeiht und sich entwickelt und dass dies ein enormes Plus ist auch für die Menschen - da bin ich stolz darauf, eigentlich früher als alle anderen, diese Entwicklung sichtbar wurde.
Heyer: Zum Schluss noch eins: Welchen Neuanfang soll es möglicherweise für den Privatmann Späth geben? Einen Termin mit Ihnen zu diesem Gespräch zu finden, das war ausgesprochen schwer. Ein Neuanfang in Sachen Suchen nach der Zeit vielleicht?
Späth: Ja, da scheitere ich immer noch mit meinen Neuanfangsbedingungen. Ich bin jetzt inzwischen Großvater von viereinhalb Enkeln und wenn mich meine Frau ärgern will, sagt sie, dass der Hund zur Familie gehörte, das wissen meine Enkel, aber bei Dir haben sie große Zweifel. Und jetzt habe ich schon so ein paar Ferienerlebnisse und Besuchserlebnisse mit den Enkeln gehabt, wo die mich einfach plötzlich in Beschlag nehmen, so wie Kinder das tun: mit großem Selbstverständnis, und plötzlich findet man daran auch Freude.
Vielleicht könnte ich mir vorstellen, dass ich dann doch in - so nach 70, es wird ein paar Jahre nach 70 sein, bei dem, was ich sonst noch alles vorhabe - aber dann könnte ich mir schon vorstellen, dass ich dann vielleicht doch noch ein richtig gemütlicher Opa werde und das wäre dann doch eine ganz ordentliche Abrundung.
Späth: Ja. Ja, ich kann aber auch damit leben, wenn Sie nicht gleich anspruchsvoll "Meister der Neuanfänge" sagen, sondern: Ich bin erfahren mit vielen Neuanfängen. Ich habe in meinem Leben immer wieder was Neues angefangen und fühle mich auch heute noch bei Ideen an Neuanfänge immer wohl.
Heyer: Was ist das, was Sie an Neuanfängen, am Neubeginn so reizt?
Späth: Ich kann feststellen, dass ein Mensch eine Menge von verschiedenen Begabungen hat, auf die er erst kommt, wenn er die fordern muss. Das heißt, wenn er was Neues anfängt, muss er sich völlig neu einstellen, muss sich selber auch überprüfen, ob er da bei sich was abrufen kann entweder an Wissen oder auch Emotion oder Energie oder an Kommunikationsfähigkeiten - und ich finde, das ist eigentlich etwas, wo man sich selber ausschöpft.
Ich bin ganz sicher, dass viele Menschen, wenn sie sich mal mit sich selber beschäftigen würden, Fähigkeiten an sich entdecken würden, die sie einfach nicht entdecken, weil sie sie nicht brauchen - dann veröden die. Wenn jemand einen Job macht sein Leben lang, dann ist er ein Spezialist und hat alles in sich akzentuiert und geweckt, was zu seiner Aufgabe passt - die kann sehr schmal sein. Und erst wenn er plötzlich in einen Neuanfang gestoßen wird, dann muss er wieder gewissermaßen Spuren suchen und sich selber erfinden. Und dieses Selber-Finden ist eine unglaublich faszinierende Sache.
Heyer: Das kann man nun wirklich nicht sagen, dass Sie einen Job ein Leben lang gemacht hätten. Wenn man in Ihre Vita schaut, die führt über die Finanzverwaltung in Bietigheim über Baugenossenschaften über ein Bürgermeisteramt, schließlich in die baden-württembergische Landesregierung, schließlich sind Sie Ministerpräsident, irgendwann gehandelt als heimlicher Kohl-Nachfolger, dann die Wirtschaft: der Macher von Jenoptik. "Sei immer flexibel", ist das möglicherweise Ihr persönliches Credo?
Späth: Ja, viele Leute mögen ja solche Begriffe nicht, weil sie meinen, das sei nicht seriös. Seriös sei, wenn man auf einem Standpunkt steht und dort einfach stehen bleibt. Und es gibt ja in der Politik manchmal Entwicklungen, wo man sagt: "Die machen denselben Fehler nur deshalb, weil sie glaubwürdig erscheinen wollen, wenn sie denselben Fehler mehrmals machen, weil dann kann man sich auf sie verlassen, auch auf ihre Fehler." Ich finde, Flexibilität heißt: Ich habe einen Standpunkt, ich habe ein Werteverständnis, aber ich passe mich den Situationen an, ich stelle mich auf meine Gesprächspartner ein, ich muss, wenn ich Manager bin in einem Konzern, ganz anders arbeiten als wenn ich Politiker bin. Und wenn ich Aufbauarbeit leiste in einer neuen Geschichte, dann muss ich die erst mal verstehen und dann muss ich auch ganz am Boden anfangen mit neuen Dingen. Und da ist dann auch wieder der Reiz des berühmten "in allem liegt der Reiz eines neuen Anfangs".
Heyer: "Anpassung an die Situation" haben Sie gerade gesagt. "So sehe ich das", das ist der Titel einer Wirtschaftskolumne von Ihnen, zurzeit im "Handelsblatt" zu lesen. Wo sollte Politik, wo sollten Politiker in diesen Zeiten - die von einer Zahl ja dominiert wird: 5,2 Millionen Arbeitslose - denn wieder neu anfangen? Was sollten sie tun?
Späth: Sie müssen ganz einfach überlegen, dass die Gesellschaft in einem bestimmten Zustand ist und dann müssen sie überlegen, in welchem Zustand sie die Gesellschaft bringen können - und nicht den Wunschzustand beschreiben, in dem die Gesellschaft sein sollte. Da ist sehr viel Verdrängung dabei. Ich meine, wenn jetzt zum Beispiel - es haben alle gesagt, man soll sie an ihrer Fähigkeit, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, messen, der Kanzler vor allem, aber auch viele andere sind immer wieder angetreten "mit uns würde die Arbeitslosigkeit beseitigt".
Jetzt müssen mal alle den Leuten sagen, dass keine Partei in der Lage ist, in Deutschland in einer übersehbaren Zeit die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, weil sie ganz typische Ursachen hat, die man nicht mit einer großen wichtigen politischen Entscheidung lösen kann. Und dann beginnt natürlich der Vertrauensschwund beispielsweise, wenn man den Leuten nicht in aller Offenheit sagt: "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, wir haben eine Wettbewerbslage, bei der Deutschland zu teuer geworden ist, das und das sind die Ursachen, das und das kann man schnell bewegen, das und das geht aber über eine lange Frist, wir haben auch dann noch zusätzlich das versäumt". Also, man muss im Grunde eine Marathonstrecke beschreiben und muss jedem klarmachen, dass der Sprint am Anfang des Marathonlaufs wahrscheinlich zu frühzeitiger Kräfteschwächung führt.
Heyer: Also ist das nichts anderes als Verbalakrobatik, was wir zurzeit gehört haben, der "Pakt für Deutschland" oder der "Job-Gipfel", "Bündnisse für Deutschland"?
Späth: Das sind alles überhöhte Überschriften. Das gibt es nachher nicht her. Und Sie brauchen jetzt nur die aktuelle Diskussion wieder nehmen: Erst hat man bei den Leuten Erwartungen geweckt, als ob jetzt der gute Wille dazu führt, dass man die schon klare Lösung einfach macht. Es gibt keine Lösung, die kurzfristig das Arbeitsproblem einfängt, und das sollte man fairerweise allen weiteren Diskussionen zu Grunde legen. Es ist wirklich die Geschichte mit der Marathonstrecke, nicht? Wenn Sie einen Langlauf machen müssen, dann fangen alle fröhlich an und bei Kilometer 20 sieht man die Ermatteten niedersinken. Und am schnellsten sinken die nieder, die am Anfang gespurtet sind und gesagt haben: "Wir zeigen am Anfang, solange das Publikum noch interessiert ist, was wir alles können", und anschließend in der Siegerliste finden Sie die nicht, weil die alle irgendwo auf der Strecke geblieben sind, sondern man muss sich eine solche Strecke einteilen, auch in der Politik.
Heyer: Bleiben wir beim Bild "Marathon". Marathon sind Sie ja auch in gewisser Weise gelaufen, als Sie Ministerpräsident in Baden-Württemberg waren. Ein hohes Reformtempo, das war damals jedenfalls Ihr Ding, das hat man Ihnen nachgesagt als baden-württembergischer Ministerpräsident, hat Ihnen auch den Beinamen "Cleverle" eingebracht damals. Wenn Sie Unternehmensberater für die "Deutschland AG" wären und müssten den Chef dieser "Deutschland AG", Gerhard Schröder, beraten: Was müsste der sich von Ihnen anhören?
Späth: Dass er natürlich das ganz große Problem hat, dass seine Spielräume so eng sind. Die ganz objektiven: Sie können in einer globalisierten Welt eben mit nationalen wirtschaftspolitischen Entscheidungen ziemlich wenig bewegen. Wenn Sie dann noch die Grenzen der EU haben, was etwa die Verschuldungsgrenze angeht, wird der Spielraum noch einmal geringer. Und was Ihnen übrig bleibt, sind zwei Dinge: Sie wissen eigentlich, was verändert werden sollte, Sie können berechnen, was der Kanzler nicht verändern kann, weil er vor allem seine Partei nur in eine beschränkte Spannung bringen kann - er hat ja relativ viel getan, um seine Partei in einen hohen Spannungsbogen zu drücken, aber er weiß ganz genau, wie viel er noch Spielraum hat, ohne dass es da knallt.
Also wenn er jetzt mutig sagen will: "Ich mache die und die Reformen, die richtig sind, auch wenn sie meine Partei nicht mitträgt", dann weiß er aber, dass er eigentlich seinen Ruhestand einleitet, nicht? Dass er im Grunde etwas fordert, wo er den großen Beifall der Sachverständigen kriegt, aber die Sachverständigen sind nur ein ganz kleiner Wählerkreis.
Heyer: Also, was bedeutet das? Hose runter, Offenbarungseid für die "Deutschland AG"?
Späth: Man muss einfach sagen, wir können in Deutschland, solange wir die niederen Wachstumsraten haben, können wir uns nicht viel leisten. Die Wachstumsraten kriegen wir aber über eine mittlere Strecke erst wieder hoch - also niemand kann kurzfristig die Wachstumsrate in Deutschland ankurbeln - und er muss den Leuten erklären, dass sie ihn deshalb wählen sollen, weil er diesen mühsamen Weg geht und weil er bereit ist, mit der Opposition zu arbeiten, mit allen. Und jetzt muss er in Kauf nehmen, dass die Leute sagen: "Wir wollen aber einen, der nicht mit allen arbeitet, sondern seine Mehrheit benutzt, um Deutschland rasch umzubauen". Das kann er nicht, weil er im Grunde die mindeste Kurskorrektur gegen seinen eigenen Verein richten muss. Das ist doch sein großes Problem. Und mit dem Problem muss er entweder mit vollem Risiko fahren - hatte er zeitweise gemacht, auch mit allen Folgen für ihn.
Inzwischen weiß die SPD, dass es wahrscheinlich gar keinen anderen Weg gibt, aber ich glaube trotzdem nicht, dass sie ihm voll folgen würde, wenn er jetzt alle notwendigen Schnitte macht. Und wenn er alle notwendigen Schnitte - die sind ja gar nicht umstritten, also etwa die Fragen beim Kündigungsschutz, er hat ja auch eine ganze Menge bewegt, aber er weiß ganz genau, er muss dieses Reformtempo fortsetzen. Jedes Jahr gibt es Hartz und jedes Jahr wird Hartz härter für die Leute zu ertragen.
Und entweder er bekommt das Vertrauen der Leute, diesen Kurs zu fahren, seine Partei trägt ihn, oder - und das Risiko scheint er mir mehr und mehr einzugehen - oder er sagt halt: "Ich sage, was notwendig ist und wenn es dann nicht mehrheitlich passiert, dann werdet ihr schon erleben, dass die, die nach mir kommen, nichts anderes machen werden."
Heyer: Sie kennen beide Realitäten: die der Politik, des Politikers und die der Unternehmen, des Unternehmers. Welche Realität treibt einen schneller und eher in den Wahn?
Späth: Also wahrscheinlich die Politik. Politiker sind unempfindlich gegen die Druckpositionen, die man spürt, wenn man gegen Widerstand arbeiten muss. Dann natürlich das Handwerkszeug, das dem Unternehmertum zur Verfügung steht, ist ein anderes: Der kann entscheiden, wenn er die Deckung seiner Kapitaleigner hat, und wenn er die mal für fünf Jahre hat, dann hat er eine relativ große Freiheit, das Unternehmen zu führen, und dann kann er eben eines tun: er kann die Leute um sich herum entlassen.
In der Politik sitzen um einen herum als führende Figur immer potenzielle Gegner, potenzielle Nachfolger, das heißt man ist eigentlich immer von Leuten umgeben, die gar nicht so glücklich sind, wenn man so erfolgreich ist. Das heißt, man muss eigentlich ununterbrochen sich wie ein Artist aufführen und muss sie entweder alle mitnehmen oder wenn man zu viele davon verprellt hat, dann spürt man das in der Unterstützung für die Lösung der Probleme.
Mit anderen Worten: Die Demokratie ist ein sehr viel schwerfälligeres System, um beispielsweise Ideen oder Konzepte durchzusetzen. Und meine Schwäche zum Beispiel in der Politik war immer, dass ich viel zu viel Ideen hatte, was man noch machen müsste, auch viel zu ungeduldig war, und deshalb gelegentlich immer wieder auf der Schnauze gelandet bin.
Heyer: Das sind wir an dem Punkt: "Luftballons laut steigen und leise platzen zu lassen", das sei das Markenzeichen des Ministerpräsidenten Späth gewesen. So haben jedenfalls die "Stuttgarter Nachrichten" mal geschrieben. Inwieweit war das denn eine Beschreibung dafür, dass Sie, wie gerade auch schon angedeutet, immer wieder versucht haben, neue Dinge anzufangen, in der Kultur, in der Bildungs-, in der Medien, in der Wirtschaftspolitik, geradezu süchtig waren nach Neuanfängen?
Späth: Ja weil die Neuanfänge notwendig waren. Und interessant ist ja, alles, was man mir damals vorgeworfen hat, ist zehn Jahre später geschehen. Mir hat man gesagt: "Der macht zu hektisch diese Bankenfusion". Zehn Jahre später ist die Bankenfusion gemacht worden. Die Frage ist nur, ob - wenn man sie zehn Jahre früher gemacht hätte, dann wäre die Bank noch viel stärker geworden, nicht? Also, ich war zu früh dran, aber die Sache war richtig. Oder die Rundfunkfusion, um solche Beispiele zu nehmen.
Viele Dinge, die ich für die Kunst- und Kulturpolitik und die Wissenschafts- und Forschungspolitik gemacht habe, wird heute als die Grundlage der Cluster-Bildung erkannt und auch als die Grundlage, zum Beispiel das Kreativpotenzial von jungen Leuten zu stärken. Nur, wenn wir jetzt sagen: "Wir brauchen kreative junge Leute" - was Pisa zeigt -, dann brauchen wir jetzt mindestens mal 15 Jahre Bildung, bis die da sind, wo wir sie abholen wollen, um beispielsweise dieses Innovationspotenzial der Gesellschaft zu haben. Hätte man vor 15 Jahren angefangen, dieses aufzubauen, dann hätten wir heute eine Gesellschaft, die viel besser vorbereitet wäre, zum Beispiel nicht auf die Produktionsgesellschaft, sondern die Dienstleistungs- und Kulturgesellschaft.
Heyer: Aber werden möglicherweise gerade zurzeit nicht allzu viele "Luftballons" gestartet in der Politik und die Menschen, die Wähler sind deshalb politikverdrossen, gehen kaum mehr zu Wahlen?
Späth: Da kann man darüber streiten, da muss jeder seinen Weg finden. Ich finde, Politiker müssen, wenn sie Führung beanspruchen, auch Ideengeber sein. Und sie müssen wissen, dass sie mit vollem Risiko auch mal mit einer Idee auf die Schnauze knallen. Ich glaube, die Leute wollen die Herrschaft des Volkes, aber nicht so, dass man sie fragt: "Was möchtet ihr?", sondern die wollen geführt sein. Das heißt, sie wollen sich reiben und Entscheidungen treffen an Konzepten, die die Politik vorzutragen hat. Das ist die Führungsverantwortung der Politik. Und es gibt natürlich viele Politiker, die sagen: "Hauptsache, Du machst nichts und bist beliebt, dann stehst Du die längsten Amtszeiten durch", nicht? Also der Politiker muss eigentlich bereit sein zum Risiko der politischen Existenz, wenn er verändern will.
Heyer: Was war Ihr persönlich wichtigster Neuanfang?
Späth: Eigentlich im Grunde der in Jena. Denn ich bin ja in die Politik eigentlich reingeschlittert. Ich war nicht irgendein Jungideologe, der geträumt hat, Politiker zu werden. Ich habe so viele Interessen gehabt, dass ich eigentlich sehr spät in die Partei eingetreten bin und dann am Anfang nicht dachte - Parlamentsmitglied wollte ich schon sein, weil ich mitdiskutieren wollte bei den Veränderungen der Gesellschaft, aber ich wollte eigentlich keine politische Karriere machen. Und dann ging das in einer Automatik ohnegleichen und plötzlich war ich also da so voll drin, dass ich alles, was mich sonst noch interessiert hat, eigentlich ein Stück zurückstecken musste. Dann kam der Rücktritt und der machte mich vorübergehend ratlos, aber nur sehr vorübergehend, während die anderen immer gefragt haben: "Wie verarbeitest Du denn diesen Rücktritt?", war ich eigentlich in meinen Gedanken schon ganz woanders, nämlich ich baue mir was Neues auf und ich mache was anderes. Ich wollte eigentlich ins Ausland gehen. Und dann kam dieses Jena und das war wirklich ein Neuanfang.
Heyer: Wie sahen Sie damals Ihre Aufgabe, Anfang der 90er Jahre?
Späth: Ja, das habe ich erst mit der Zeit rausgekriegt. Im Grunde, formal war es die Aufgabe, ein altes, planwirtschaftliches und vielleicht eines der wichtigsten planwirtschaftlichen Organisationen der DDR-Wirtschaft umzubauen in ein marktwirtschaftliches Unternehmen, möglichst mit dem Ziel einer Aktiengesellschaft, die börsenfähig ist. Aber da war natürlich viel mehr, denn man musste im Grunde das Unternehmen, die Stadtstruktur und - wenn Sie so wollen - das gesamte gesellschaftliche Umfeld ja ein Stück mit umbauen, und deshalb war es eigentlich eine Aufgabe, die auch einen starken politischen Charakter hatte, der Umgang beispielsweise mit dem Kommunalparlament, mit dem Oberbürgermeister, das musste man alles organisieren. Ich musste von 27.000 Leuten 16.000 entlassen innerhalb einer Frist von sechs Monaten.
Heyer: Wie haben Sie das den Leuten eigentlich damals erklärt, diese Radikalsanierung? "Jetzt ist es Zeit für Euren ganz persönlichen Neuanfang", das wäre ja zu wenig gewesen?
Späth: Sie wussten, dass ich nach großem Drängen zugesagt habe, das Risiko einzugehen, diesen Umbau zu machen. Und sie wussten, dass wenn ich Nein gesagt hätte, im Grunde niemand mehr so richtig bereit gewesen wäre, überhaupt an das Thema heranzugehen, was natürlich zu einem totalen Zusammenbruch in Jena geführt hätte. Deshalb habe ich auch einen großen Vertrauensvorschuss von den Leuten gekriegt und viele haben nicht geglaubt, dass jemand, der 16.000 Leute entlässt, noch durch diese Stadt laufen kann.
Heyer: Hätten Sie denn eigentlich diesen Neuanfang überhaupt hinbekommen, wenn Sie nicht Ihre Erfahrung als Politiker, als Ministerpräsident gehabt hätten, sondern eben - ich sage mal - Manager Späth mit abgeschlossenem Betriebswirtschaftsstudium gewesen wären, Erfahrungen im Vorstand irgendeines Top-Unternehmens?
Späth: Da wäre ich wahrscheinlich gescheitert. Wobei ich sagen muss, wenn wir jetzt von politischer Erfahrung reden, dann haben die Leute immer geglaubt: der hat seine Beziehungen als früherer Ministerpräsident so richtig ausfahren können - mit denen habe ich weniger angefangen als mit meinen Erfahrungen als Kommunalpolitiker. In den 60er Jahren, als ich Liegenschaftschef in einer Stadt war, eine Wohnungsbaugesellschaft gegründet und betrieben habe, die mich ja nachher, später zur Neuen Heimat geführt hat, das waren im Grunde Erfahrungen im Umgang mit Stadtplanung, mit Umstrukturierung, mit Zusammenführen öffentlicher Infrastruktur-Interessen, mit privaten Investitionsinteressen, Umgang mit dem Gemeinderat, Erklärung der Leute, warum man so was machen muss, das hat mir eigentlich am meisten geholfen, also meine kommunalpolitische Erfahrung war eigentlich mein stärkstes Pfand in Jena, gerade in den ersten Jahren.
Natürlich war es hilfreich, wenn sie immer so einen Freundeskreis in Politik und Wirtschaft haben, wo Sie immer mal anrufen können: Du musst mir helfen. Aber letztlich hilft Ihnen in der Wirtschaft niemand, indem er Verluste, die bei Ihnen anfallen, Ihnen dadurch wegnimmt, dass er sie übernimmt. Und damit war es natürlich eine ganz spezifische Aufgabe, unter Zeitdruck, mit relativ geringen Chancen ein wettbewerbsfähiges Unternehmen aufzubauen.
Heyer: Etwas ganz Neues, unerhört Neues sozusagen, haben Sie sich mit Jenoptik auch erlaubt, als Sie nämlich aus dem Arbeitgeberverband ausgeschieden sind. Der Wirtschaftsfreund Späth macht so etwas, wer etwas Neues beginnen will, darf keine Tabus kennen, muss Grenzen überschreiten. Ist das auch ein Späth'sches Lebensmotto?
Späth: Ja, man muss mindestens bereit sein, alle Grenzen auszuloten, bevor man sie dann endgültig überschreitet. Das prüft man noch, aber im Ernstfall muss man auch mal bereit sein, einen Schritt über eine Grenze zu gehen, mindestens über eine Grenze - das darf nicht ungesetzlich sein, aber man muss es doch ausloten, was man machen kann. Das war so eine Grenze - ich habe ein gutes Verhältnis eigentlich immer zu den Gewerkschaften gehabt, deshalb ist es mir von der Seite her schon nicht leicht gefallen und mein Selbstverständnis von Wirtschaft war nicht, dass man einen Verband verlässt, aber ich habe gesehen, ich bekomme die Probleme nicht in den Griff, die mein Unternehmen betreffen, wenn ich aus dieser Verbandsarbeit heraus argumentiere.
Und außerdem gebe ich auch meinen Betriebsräten ein ganz anderes Signal, wenn ich sage: ich verlange nicht nur von Euch, dass Ihr notfalls auch gegen den Rat Eurer Gewerkschaft mal einen Schritt geht, sondern ich habe auch den Mut dann meinen Arbeitgeberverband zu verlassen und dann lass uns zusammen einen Weg suchen, wie wir unsere Probleme lösen können. Wir haben ihn gefunden und die IG-Metall war am Schluss wieder unser Partner, wie vorher auch. Und der Arbeitgeberverband hat auch das Mitglied Jenoptik wiederbekommen.
Aber mal in einem Neuanfang zu sagen: für die Situation ist all das nicht konzipiert, was Spielregel ist, es gab überhaupt keinen Vorgang zu diesen Prozessen, die wir bewältigen mussten, und wer da reingeht, der muss die Bereitschaft zu einem ganz hohen Risiko auch des Scheiterns tragen. Und es gab viele Monate in den ersten fünf Jahren, wo ich immer noch nicht sicher war: scheitern wir heute oder scheitern wir nicht?
Heyer: Risiko zum Scheitern, die Bereitschaft dazu: Inwiefern war das denn auch eine Grenzüberschreitung für Sie, sich zum Beispiel von N-TV oder vom MDR als Talkmaster engagieren zu lassen? In einem Fall, beim MDR, sogar noch gemeinsam mit Gregor Gysi vor der Kamera, der ja auch damals nicht im Verdacht stand, CDU-Mitglied werden zu wollen.
Späth: Das war einfach Neugier. Und auch soweit ein Neuanfang, dass ich beispielsweise bei N-TV war, spät am Abend war ein Wirtschafts-Talk, und es war für mich einfach interessant, jetzt mal die Fragen zu stellen an die Politiker und an die Wirtschaftsführer und nicht die Antworten geben zu müssen. So wie ich jetzt, als ich in den Aufsichtsratvorsitz der Jenoptik gegangen bin, ich gesagt habe: Jetzt werde ich Euch die Fragen stellen, die ich früher beantworten musste. Das ist eine ganz andere Rolle und die hat mir wieder neue Perspektiven eröffnet, auch für mich selber.
Und was Gysi angeht, das hat natürlich auch eine besondere Geschichte: ich finde ihn auch deshalb interessant, weil sein Vater war einer meiner wenigen Freunde in der DDR-Zeit, mit denen ich schon über die Grenzen geredet habe. Er war mehrmals mein Begleiter bei offiziellen Besuchen als Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR und er ist ein brillanter, intellektueller Gesprächspartner oder Fighter würde ich lieber sagen und wieso soll ich nicht mit den Linksaußen reden? Und wenn ich mit denen rede, dann will ich den Intelligentesten.
Heyer: Wie gerne hätten Sie denn auch neu angefangen, als - ich sage mal - Superminister in einem Kabinett Stoiber? Da sind Sie als Kuh plötzlich im Grunde genommen im Schattenkabinett aufgetaucht, aber leider - dann für Sie möglicherweise leider - dann doch nicht ins Amt gekommen.
Späth: Ja. Natürlich hätte mich das auch wieder gereizt, obwohl das eine sehr qualvolle Geschichte geworden wäre. Und wenn ich heute den Wolfgang Clement sehr beglückwünsche immer noch zu der Aufgabe - und sein Gesicht zeigt mir, dass er auch sie nicht für vergnügungssteuerpflichtig hält...
Heyer: Aber Sie haben ja auch immer gesagt: "Für eine Zeit mit Kohl bin ich zu alt und für eine Zeit nach Kohl bin ich ungeeignet". Also, da waren Sie ja deutlich "nach Kohl".
Späth: Deshalb wollte ich auch nicht und es hat gewaltiger Anstrengungen von Edmund Stoiber damals gebraucht und von einigen meiner Freunde, die gesagt haben: Du kannst Dich jetzt nicht verweigern. Wir haben eine Chance, die Wahl zu gewinnen, Du kannst dazu beitragen und dann musst Du aber auch diesen Job machen. Und ich war gewillt, ihn zu machen - ich sage allerdings dazu, ich habe ihn auch unter dem Aspekt eigentlich gesehen: "Du musst nicht wiedergewählt werden, Du machst es nicht mehr als vier Jahre und möglicherweise, wenn Du die ganz harten Entscheidungen durchgesetzt hast, dann hast Du wahrscheinlich einen Ruf, bei dem Du gar nicht mehr weitermachen kannst und dann musst Du notfalls auch zurücktreten, um der übrigen politischen Führung die Luft freizugeben, dass sie nicht die gesamten Folgen dieser Entscheidungen angebunden bekommen, sondern man sagt: Der war halt so und der war halt aggressiv und der hat halt diese große Spur gezogen." Aber klar war mir, dass ich mir da keine Freunde schaffen konnte. Aber auch vielleicht war dies die neue Herausforderung.
Heyer: In zwei Jahren, wenn ich richtig gerechnet habe, da werden Sie 70. Stimmt das?
Späth: So ist es.
Heyer: Da darf man bisweilen schon mal zurückblicken. Auf welchen Ihrer Neuanfänge, Ihrer Initiativen - einige haben wir schon angedeutet -, die vielleicht zu Neuanfängen geführt haben, waren Sie stolz, müssen Sie stolz sein? Vielleicht nur eine.
Späth: Also wenn nur eine, dann wird mir keiner glauben, dass ich da die Kunst und Kultur nenne. Ich finde, es war eine relativ mutige, weil auch von niemand, schon gar nicht von meinen Schwaben erwartete Position, dass der amtierende Ministerpräsident einer großen Forschungs- und Bildungsinitiative, praktische Bildungsinitiative, Fachhochschulen auf das Land und Forschungsinstitute ausbauen und Technik an den Universitäten ausbauen - das konnten alle mit nachvollziehen und da haben auch ganz früh alle gesagt: Der hat es früher gemerkt als alle anderen, dass diese Welt sich so gewaltig verändern wird, dass die Qualifizierung unserer Leute das Wichtigste ist.
Aber darauf dann das Thema Jugendkunstschulen und Jugendmusikschulen und Theater-Akademie und zeitgenössische Kunst und ZKM-Hochschule und Museen und solche Dinge, da haben die Leute gesagt: Was ist das? Und da war ich eigentlich richtig stolz darauf, dass es mir gelungen ist, Leute, die überhaupt von ihrer Herkunft her keine große Neigung zu Kunst haben, einfach zu überzeugen und mitzureißen, dass Baden-Württemberg auch das Land werden muss, in dem die künstlerische Kreativität gedeiht und sich entwickelt und dass dies ein enormes Plus ist auch für die Menschen - da bin ich stolz darauf, eigentlich früher als alle anderen, diese Entwicklung sichtbar wurde.
Heyer: Zum Schluss noch eins: Welchen Neuanfang soll es möglicherweise für den Privatmann Späth geben? Einen Termin mit Ihnen zu diesem Gespräch zu finden, das war ausgesprochen schwer. Ein Neuanfang in Sachen Suchen nach der Zeit vielleicht?
Späth: Ja, da scheitere ich immer noch mit meinen Neuanfangsbedingungen. Ich bin jetzt inzwischen Großvater von viereinhalb Enkeln und wenn mich meine Frau ärgern will, sagt sie, dass der Hund zur Familie gehörte, das wissen meine Enkel, aber bei Dir haben sie große Zweifel. Und jetzt habe ich schon so ein paar Ferienerlebnisse und Besuchserlebnisse mit den Enkeln gehabt, wo die mich einfach plötzlich in Beschlag nehmen, so wie Kinder das tun: mit großem Selbstverständnis, und plötzlich findet man daran auch Freude.
Vielleicht könnte ich mir vorstellen, dass ich dann doch in - so nach 70, es wird ein paar Jahre nach 70 sein, bei dem, was ich sonst noch alles vorhabe - aber dann könnte ich mir schon vorstellen, dass ich dann vielleicht doch noch ein richtig gemütlicher Opa werde und das wäre dann doch eine ganz ordentliche Abrundung.
